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„Gut, dass wir damals nicht gelebt haben, sonst wären wir alle schon tot!“

Das Projekt ‚Geschichte erleben – Umgang mit Menschen mit Behinderungen während der NS-Zeit’

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Bettina Lindmeier ist Professorin für allgemeine Behindertenpädagogik und -soziologie, Claudia Schomaker ist Professorin für Sachunterricht und Inklusive Didaktik. Gemeinsam setzen sie inklusive Lernangebote für Studierende und erwachsene Menschen mit Behinderung ohne Hochschulzugang an der Leibniz Universität Hannover um.    

Von Bettina Lindmeier und Claudia Schomaker

‚Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen können zeitliche Verläufe schlecht abschätzen, sie sind von abstrakten Inhalten ebenso wie von emotional belastenden Themen überfordert und benötigen kleinschrittige Lernprozesse.’ Dies sind nur einige der Annahmen, die sowohl die Realisierung anspruchsvoller zielgruppenbezogener Angebote der politischen und historischen Erwachsenenbildung für diesen Personenkreis als auch inklusive  Bildungsangebote behindern.

Das Projekt „Geschichte erleben - Umgang mit Menschen mit Behinderungen während der NS-Zeit“ stellt diese Annahmen in Frage, indem es Studierenden der Sonderpädagogik und Beschäftigten aus Werkstätten für behinderte Menschen gemeinsam ermöglicht, sich gemeinsam mit einem der schwierigsten Kapitel deutscher Geschichte zu beschäftigen.

Gemeinsam lernen zu diesem Thema – geht das überhaupt?

Wesentlich im Seminar und der zweitägigen Exkursion nach Hadamar (einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die NS-„Euthanasie“-Verbrechen) ist die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Thema in einer inklusiven Lerngruppe. Nach unserem Inklusionsverständnis bedeutet dies nicht, dass alle alles zusammen machen, sondern dass sie wesentliche Lernerfahrungen machen, und dies auch, aber nicht ausschließlich, im Lernen miteinander. Dies scheint uns am ehesten durch die Kombination gemeinsamer und getrennter Seminarteile möglich:

Studierende und Beschäftigte aus Werkstätten haben extrem unterschiedliche Bildungsbiographien und Vorkenntnisse. Zudem haben wir als Lehrende neben gemeinsamen Lernzielen für die gesamte Gruppe auch unterschiedliche Lernziele: Der  Seminarteil für die Studierenden im Unterrichtsfach Sachunterricht beschäftigt sich daher unter anderem mit der Frage, wie „Holocaust Education“ zum Thema im Sachunterricht der Grundschule möglich gemacht werden kann. Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit sachunterrichts- bzw. geschichtsdidaktischen Fragestellungen, beispielsweise mit der Frage, was Geschichtsbewusstsein ausmacht und wie es im Unterricht gefördert werden kann. Dies wird nicht nur theoretisch erarbeitet, sondern das erworbene Wissen wird in der Analyse von Kinder- und Jugendbüchern hinsichtlich ihrer Eignung für den Unterricht auch umgesetzt. Die Buchvorstellungen im Rahmen der gemeinsamen Seminarteile wiederum sind dann für die ganze Gruppe interessant und regen auch die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Lesen an. Alle Bücher werden in Form einer Materialkiste den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zur Verfügung gestellt.

Für die Beschäftigten aus den Werkstätten ist es dagegen wichtig, in einem geschützten Raum die Universität und unsere Arbeitsformen kennenzulernen und so an Sicherheit zu gewinnen. Dies geschieht, indem auf der Basis des Buches ‚Annas Spuren’ (Falkenstein 2012) eine Präsentation erarbeitet wird, die diese am ersten gemeinsamen Seminartag den Studierenden vorstellen. Für die Seminarleitung dienen die zwei Blocktage mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Werkstätten dazu, das Vorwissen zu systematisieren, das extrem heterogene Leistungsniveau und die Einschränkungen der Teilnehmenden einzuschätzen: Wer braucht leichte Sprache, wer kann wie gut lesen, wie lang müssen die Pausen sein, wer ist – auch das kommt in nahezu jedem Seminar vor – hinsichtlich des zeitgeschichtlichen Wissens den Studierenden weit überlegen und benötigt Zusatzmaterial?

Projektarbeit und Exkursion

Eine der Prämissen inklusiver Pädagogik ist, dass Verschiedenheit fruchtbar gemacht werden kann. In der Umsetzung ist dies allerdings eine große Herausforderung. In leistungsheterogenen Gruppen ist es nicht selten so, dass von den leistungsstärkeren Gruppenmitgliedern Unterstützung der Schwächeren gefordert wird, was zu  einer eher einseitige Beziehung und zur vorrangigen Wahrnehmung der Verschiedenheit der Lernenden – auch durch sie selbst – führt.

Während der drei gemeinsamen Blocktage im Seminar „Geschichte erleben“ wird in der Regel an Biographien von Tätern, Opfern und Helfern gearbeitet. Das Material wird den Teilnehmer/innenwünschen entsprechend aus der vorliegenden Literatur und Materialiensammlung zur Verfügung gestellt und soll von den Projektgruppen aufbereitet werden. Neben den Projektarbeitsphasen gibt es Plenumsphasen und Interaktionsspiele zur Unterstützung der Gruppenbildung. Insbesondere in den Projektgruppen kommt es vor, dass einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Gefühl haben, sich sehr viel einbringen zu müssen, aber auf Grund der Thematik und der Aufgabenstellung kann hier oft eine Verschiedenartigkeit, aber Gleichwertigkeit der Beiträge aller Beteiligten erreicht werden.

Dies geschieht allerdings auf der Grundlage einer Anerkennung ihrer Verschiedenheit, die im Verlauf des Seminars dann aber immer wieder zurücktritt gegenüber der Erfahrung von Gleichheit und gegenseitigem Verständnis. So berichten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Werkstäten nahezu immer von eigenen, mitunter massiven Diskriminierungserfahrungen und vergleichen ihre Erfahrung mit derjenigen von Menschen während der NS-Zeit. Die gesamte Gruppe gerät so in eine wesentlich tiefere Auseinandersetzung mit Diskriminierung – auch diskriminierenden Strukturen unseres Bildungssystems –  als dies in Gruppen von Studierenden der Fall ist. Mitunter haben auch Studierende dann den Mut, eigene Ausgrenzungserfahrungen  und die damit verbundenen Gefühle ebenfalls anzusprechen.

Auch in der inhaltlichen Arbeit können beide Gruppen voneinander profitieren, wobei hier die leistungsstärkeren Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft die Strukturierung des Materials und den Abgleich mit ihrem Wissen aus der Sachunterrichts- bzw. Geschichtsdidaktik übernehmen müssen. Dies sind meist Studierende, aber nicht alle Studierenden übernehmen diese Aufgabe, und im Einzelfall tun dies auch Teilnehmerinnen oder Teilnehmer aus Werkstätten. Meist sind dies Teilnehmerinnen oder Teilnehmer mit Körperbehinderung und ohne kognitive Einschränkungen. Die anderen Teilnehmenden können allerdings als Prüfer des Erarbeitungsprozesses und der Ergebnisse immer wieder auf Verständlichkeit achten, denn der Auftrag besteht darin, die Projektergebnisse historisch korrekt, aber zugleich verständlich zu formulieren. Meist geschieht dies in Form von Postern. Den Studierenden werden dadurch wichtige Erkenntnisse in Bezug auf ihren eigenen Sprachgebrauch und ein auch für die Schule essentielles Übungsfeld zum Einüben ‚verständlicher Lehrersprache’ eröffnet.

An diese Vorbereitung schließt eine zweitägige Exkursion zur Gedenkstätte in Hadamar an. Die Auseinandersetzung mit den erhaltenen historischen Räumlichkeiten und die Wahrnehmung der Gedenkstätte als authentischen Ort nationalsozialistischer „Euthanasie“-Verbrechen ermöglicht Erfahrungen ganz eigener Qualität, denn solche Orte sind „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ (Francois/Schulze 2001, zitiert nach Holl-Giese 2006, 10). Die Exkursion wird in der Regel verbunden mit Prüfungsleistungen für die Studierenden, die Teile der Führung vorbereiten und zu verschiedenen Themen vertiefend – aber wiederum verständlich und anschaulich – referieren. Auch hier hat die Arbeit in einer inklusiven Gruppe zur Verbesserung der Vorbereitung und Durchführung beigetragen: Da immer wieder Teilnehmende aus den Werkstätten äußern, sich nicht sicher zu sein, ob und wie sie diese Exkursion emotional bewältigen, wird dies mit der ganzen Gruppe besprochen. Den Studierenden geht es nicht anders – sie halten dies aber für ihr ‚Privatproblem’ und würden es nicht ansprechen. Außerdem ist es für alle möglich, die Ausstellung oder Teile der Führung jederzeit zu verlassen, wenn sich jemand überfordert fühlt.

„Ich hätte nicht gedacht, dass hier Diskussionen auf diesem Niveau möglich sind!“ 

Die Rückmeldungen zu den Seminaren sind positiv. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Werkstätten für behinderte Menschen betonen durchgehend, wie interessant es für sie war, dass sie gern mehr Angebote in diesem Themenfeld hätten und dass es angenehm war, von den Studierenden ernst genommen und einbezogen zu werden – bei einem Teil der Teilnehmenden stellt dies vor Beginn eine große Sorge dar.

Die Studierenden schätzen insbesondere die projektorientierte, teilnehmerorientierte Arbeitsform und das Teamteaching mit zwei Lehrenden mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen. Auch sie gehen zum Teil mit Befürchtungen in die Veranstaltung, ‚wie das wird, zu so einem belastenden Thema in ‚so einer Gruppe’ zu arbeiten, und gehen überwiegend mit klareren Vorstellungen zu inklusiven historischem Lernen aus den Veranstaltungen. Dazu gehört allerdings auch, dass ihnen die hohen fachlichen, didaktischen und pädagogischen Anforderungen deutlicher werden. 

Für uns selbst stellt sich auch immer wieder die Frage, wie mit diesen Anforderungen umzugehen ist:

  • Wie geht man mit Reduktion und Erweiterung des Stoffes sowie stark unterschiedlichem Arbeitstempo um?
  • Wie gelingt gute Zusammenarbeit, ohne dass Studierende (dauerhaft) in eine Assistenzrolle geraten?
  • Wie gelingt stattdessen eine individuelle Wahrnehmung von Stärken und Schwächen, Gleichheit und Verschiedenheit?
  • Wie können in einer sehr heterogenen Gruppe alle Lernenden gut lernen?
  • Wie kann – gerade bei einem so belastenden Thema – Überforderung einzelner Teilnehmer/innen begegnet werden?

Die bisherigen Ergebnisse zeigen aber, dass es sich auf jeden Fall lohnt daran weiter zu arbeiten. Dies zeigt auch die Äußerung einer Studentin anlässlich einer Diskussion über die heutige Euthanasiedebatte im Vergleich zur Ermordung behinderter Menschen während der NS-Zeit:  „Ich hätte nicht gedacht, dass hier Diskussionen auf diesem Niveau möglich sind!“ 

Literatur

Falkenstein, S.: Annas Spuren. Ein Opfer der NS-‚Euthanasie’. München 2012

Holl-Giese, W.: „Das KZ vor der Haustüre“ wird ein Haus der Erinnerung. Partizipation an (lokaler) Erinnerungskultur – eine Herausforderung an den Sachunterricht. In: Pech, D. u. a. (Hrsg.): Möglichkeiten und Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Holocaust im Sachunterricht der Grundschule. 3. Beiheft widerstreit sachunterricht 2006, 3−16

Lindmeier, B./Schomaker, C.: „Gut, dass wir damals nicht gelebt haben, sonst wären wir alle schon tot!“ Inklusive historische Bildung zum Thema der NS-,Euthanasie‘-Verbrechen. In: Sonderpädagogische Förderung heute. 59 (2014) 1, 73−91

 

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