Von Anne Lepper

Shanghai war bestimmt nicht der erste und beliebteste Ort, den Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verfolgung als Ziel einer möglichen Flucht in Erwägung zogen. Dennoch entwickelte sich die chinesische Metropole im Laufe des Zweiten Weltkriegs zu einem gefragten Zufluchtsort, an dem bis zum Kriegsende etwa 17.000 jüdische Menschen aus den deutsch besetzten Teilen Europas Asyl fanden. Ein Aufsatz von Wiebke Lohfeld und Steve Hochstadt befasst sich mit der außergewöhnlichen Geschichte jener deutschsprachiger Juden und Jüdinnen, die ab 1938 nach China emigrierten, um den Verfolgungsmaßnahmen endgültig zu entgehen. Dabei bemühen sich die beiden Autor/innen, in ihrem Text in erster Linie die Geflohenen selbst sprechen zu lassen und beschränken sich auf knappe Zwischentexte die zum Ziel haben, die Zitate der Überlebenden in einen historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext zu setzen. Im Zentrum des Textes stehen daher die Narrative der überlebenden Exilant/innen, deren Erinnerungen Steve Hochstadt bereits Mitte der 1990er Jahre im Rahmen eines Oral History Projektes gesammelt und kompiliert hat. Die Fokussierung auf die Überlebenden und deren individuelle Geschichten lässt zwar wenig Raum für statistische Ausführungen und historiographische Einordnungen des Erzählten, sie ermöglicht jedoch auch einen überaus plastischen und wirklichkeitsnahen Einblick in die Lebenswelt der deutschsprachigen Flüchtlinge in Shanghai.

Shanghai als letzter Zufluchtsort

In vielen Zeugnissen der Überlebenden wird dabei deutlich, dass viele jener, denen es letztendlich gelang, nach Shanghai zu entkommen, China auch rückblickend als eines der letzten Länder bezeichnen, das für sie als mögliches Fluchtziel in Frage kam. Während sich viele jüdische Flüchtlinge die USA und Palästina als Ort des Exils durchaus vorstellen konnten, war China nicht nur aus geographischer Sicht weit entfernt. Shanghai, das aufgrund seiner Funktion als aufstrebende international bedeutende Handelsstadt zwar durchaus kosmopolitische Züge aufweisen konnte, schien vielen westlichen Flüchtlingen dennoch auf kultureller, sprachlicher und religiöser Ebene weit entfernt von ihrem Gewohnten. Während durch die Verbreitung moderner Medien und zahlreicher verwandtschaftlicher Beziehungen oftmals Vorstellungen von und Kontakte in andere westliche Länder bestanden, gestaltete sich China aus der Perspektive vieler Juden und Jüdinnen in Deutschland oder Österreich als eine Ansammlung zahlreicher Unbekannten. Als jedoch 1938 im Kontext der Konferenz von Évian die Ausreisemöglichkeiten für Jüdinnen und Juden aus den deutsch besetzten Gebieten immer weiter beschnitten wurden und das Maß der Verfolgung angesichts der bestürzenden Erlebnisse der Novemberpogrome immer evidenter wurde, gelangte Shanghai mehr und mehr in der Fokus der Verfolgten. Dabei entschieden sich ab 1938 insbesondere in Österreich viele jüdische Bürger/innen zu einer gehetzten und überstürzten Flucht, nachdem sie von dem „Anschluss“ ihres Heimatlandes an das Deutsche Reich und den daraufhin unmittelbar einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen überrumpelt worden waren. Anders als in Deutschland, wo es bis zu den Novemberpogromen 1938 vielen Juden und Jüdinnen noch möglich gewesen war, im Vorfeld ihrer Flucht zumindest das Nötigste zu organisieren, blieb den in Deutschland Verbliebenen ab Ende 1938 ebenso wie der jüdischen Bevölkerung Österreichs nichts anderes übrig, als unverzüglich zu handeln. Für viele stellte sich dabei die Flucht nach Shanghai als einzige und letzte Chance heraus, das Land zu verlassen. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei die Tatsache, dass es für jüdische Flüchtlinge nach wie vor möglich war, ohne größere Probleme nach Shanghai einzureisen. Um in der Stadt, die in drei voneinander abgegrenzte Verwaltungsbezirke aufgeteilt und dadurch unter dem Einfluss unterschiedlicher Nationen – China, Japan, Frankreich und Großbritannien – stand Zuflucht zu finden, benötigten jüdische Emigranten weder ein Visum, noch bedurfte es eines Vermögensnachweises oder der Angehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe. Einzige, jedoch nicht zu verachtende Hürde, die der Auswanderung nach Shanghai im Wege stand, war für die verfolgten Juden und Jüdinnen aus Deutschland und Österreich nur die Organisation der Anreise. Tickets für die Passagierschiffe, die unter anderem von Deutschland, Italien, Frankreich und den Niederlanden nach Shanghai fuhren, waren bald nur noch zu überteuerten Preisen auf dem Schwarzmarkt erhältlich und die Reise auf dem Landweg über Russland gestaltete sich schwierig, nicht zuletzt, da man entsprechende Transitvisa benötigte.

Leben im chinesischen Exil

In Shanghai angekommen, wurden die Flüchtlinge von zahlreichen nationalen und internationalen jüdischen Hilfsorganisationen wie dem US-Amerikanischen Joint empfangen und versorgt. Diese bemühten sich, nachdem die Zahl der eintreffenden Flüchtlinge ab 1938 stetig wuchs, darum, ein umfassendes Hilfsangebot anzubieten. Dazu gehörte neben der Unterhaltung zahlreicher Suppenküchen auch der Aufbau einer Schule und die Organisation eines vielfältigen kulturellen Angebots. Während ein Großteil der jüdischen Exilanten zwar, wie anhand der Zitate im Aufsatz von Hochstadt und Lohfeld deutlich wird, nicht beabsichtigten, sich dauerhaft in Shanghai niederzulassen, entwickelte sich dennoch während der Zeit des Kriegs ein lebhaftes und aktives jüdisches Leben. Dieses wurde stark belastet, als mit dem Kriegseintritt des deutschen Bündnispartners Japan die internationalen jüdischen Flüchtlinge in Shanghai auch offiziell zu Feinden erklärt und die Einrichtung einer sogenannten designated area durch die Japaner veranlasst wurde. In dem gemeinhin als Ghetto Hongkew bezeichneten Wohngebiet mussten die jüdischen Exilanten fortan gedrängt und unter schlechten hygienischen und sozialen Bedingungen leben. Dennoch waren sich die jüdischen Migranten stets darüber bewusst, dass das Leben in Hongkew gleichzeitig ihr Überleben fernab von Europa, dem Kriegs und dem Holocaust bedeutete. Der Krieg kam schließlich erst nach Shanghai und nach Hongkew, als er in Europa bereits durch die Kapitulation NS-Deutschlands ein Ende gefunden hatte. Am 17. Juli 1945 flogen amerikanische Bomber einen Angriff auf Shanghai. 31 jüdische Flüchtlinge starben in Hongkew, hunderte wurden verletzt. Die Zeugnisse, die sich von den Überlebenden in dem vorliegenden Aufsatz finden, zeigen, wie einschneidend dieses Erlebnis für die jüdischen Flüchtlinge war, die versucht hatten, durch ihre Flucht dem Krieg und der Verfolgung endgültig zu entkommen. Nachdem Japan schließlich im August 1945 kapitulierte und damit auch der Pazifikkrieg sein Ende fand, bemühte sich ein Großteil der jüdischen Exilanten in Shanghai um ihre Rück- oder Weiterreise. Viele beabsichtigten nun nach Palästina oder in die USA zu reisen, einige zog es jedoch auch zurück in ihre europäischen Heimatländer.

Implementierung in den Unterricht

Wie bereits eingangs erwähnt, liegt der Fokus des Aufsatzes von Lohfeld und Hochstadt auf der Darstellung der individuellen Geschichten der Überlebenden. Sowohl in deren Erzählungen als auch in den ergänzenden Erklärungen der Autor/innen findet sich dabei eine recht einfache und wenig akademische Sprache. Während dies die Bearbeitung des Textes mit Jugendlichen vereinfacht, muss in diesem Kontext jedoch die teilweise unreflektierte Verwendung verschiedener Begriffe angemerkt werden, bei denen es einer kritischen Einordnung bedürft hätte. So findet sich an zahlreichen Stellen beispielsweise die Bezeichnung „Reichskristallnacht“ für die Novemberpogrome 1938, ohne eine weitere Erläuterung oder Problematisierung durch die Autor/innen. Dennoch bietet die Kombination aus Zeitzeug/innenstimmen und Zusatzinformationen eine geeignete Möglichkeit, um das Thema des Exils in Shanghai mit Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Unterrichts zu behandeln. Dabei eignet sich die Strukturierung des Textes nach verschiedenen Themen und Phasen und die einfache Darstellungsform der Thematik insbesondere für eine Erarbeitung der Inhalte in Kleingruppen. Der Aufsatz kann als PDF kostenlos auf der Website www.exil-archiv.de heruntergeladen werden.

 

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