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Ambivalenzen der Demokratien – Die Konferenz von Evian

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Susanne Heim ist Koordinatorin der Quellenedition „Judenverfolgung 1933-1945“. Zusammen mit Hans-Ulrich Dillmann hat sie das Buch „Fluchtpunkt Karibik. Jüdische Emigranten in der Dominikanischen Republik“ veröffentlicht.

Von Susanne Heim

EU-Sondergipfel in Brüssel, Flüchtlingsgipfel bei Kanzlerin Merkel in Berlin, außerordentliche Konferenz der Innenminister – eine Beratungsrunde folgt auf die nächste, seitdem die Berichte über Bootskatastrophen auf dem Mittelmeer mit Hunderten von Toten und über steigende Asylbewerberzahlen nicht mehr abreißen. Doch die Ergebnisse der ministeriellen Diskussionen sind enttäuschend. Alle Vorschläge laufen auf eine noch strengere Abschottung der Festung Europa hinaus. Dabei versäumt es selbstverständlich kein Teilnehmer dieser unergiebigen Konferenzen, vor der Presse sein Bedauern über das Schicksal der Flüchtenden auszudrücken. An der Abwehrhaltung ihnen gegenüber ändert das nichts.

Begrenzte Zufluchtsmöglichkeiten und Restriktionen für Juden

So ähnlich muss es im Sommer 1938 am Genfer See zugegangen sein. In dem kleinen Städtchen Evian, das heute nur noch wegen seines Mineralwassers bekannt ist, trafen sich in der Woche vom 6. bis zum 15. Juli 1938 die Delegierten aus 32 Staaten, um über Aufnahmemöglichkeiten für die Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu beraten. Eingeladen zu der Konferenz hatte der US-Präsident Franklin Roosevelt. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland Mitte März 1938 war die Zahl der Flüchtlinge in Europa drastisch gestiegen. Hatten in den Jahren zuvor jeweils etwa 20.000 bis 24.000 Menschen Deutschland unfreiwillig verlassen, so waren es 1938 100.000, davon allein 60.000 aus Österreich. 80 Prozent der Flüchtlinge waren Juden.

Die Haltung der deutschen Behörden gegenüber dieser Emigration war widersprüchlich: Zwar sollten möglichst viele Juden das Land verlassen, doch Besitz und Ersparnisse durften sie nicht mitnehmen. Eben dies lief jedoch dem erklärten Ziel der Vertreibung zuwider, denn kein Land war bereit, mittellose Flüchtlinge aufzunehmen.

Aufgrund des wachsenden Andrangs aus Österreich erließen die Zufluchtsländer neue Verordnungen, um ihre Grenzen abzuriegeln. Dies hatte zur Folge, dass die Flüchtlinge zunehmend auf illegale Einreisewege auswichen oder aber, um Europa verlassen zu können, auf seeuntüchtige Schiffe, bei deren Abfahrt nicht klar war, ob und wo sie eine Landegenehmigung erhalten würden. Derweil versuchte die Gestapo, sich der Juden gewaltsam zu entledigen, indem sie sie auf Schleichwegen in die Nachbarstaaten abschob und ihnen mit Verhaftung drohte, sollten sie es wagen, zurückzukommen.

Die Aufnahmeländer reagierten – obgleich demokratische Staaten - mit autoritären Maßnahmen gegen die Flüchtlinge: Polizeikontrollen, Meldeauflagen, Inhaftierung und Kriminalisierung, Einrichtung von Lagern, Forderung nach Kennzeichnung der Pässe von Juden, Abschiebungen etc. Über die Politik der Zwangsemigration trugen die Deutschen also zur Aushöhlung der Demokratie in anderen Ländern bei.

In dieser Situation sollte nun die Konferenz von Evian Abhilfe schaffen und über eine geordnete Auswanderung verhandeln. Allerdings war Roosevelts Initiative von Anfang an ambivalent: Schon in der Einladung wurde den Teilnehmerstaaten zugesichert, dass man von ihnen keine Änderung der Einwanderungsbestimmungen erwarte. Und auch in den USA stand eine Erhöhung der Einwanderungsquote nicht zur Debatte. Die britische Regierung hatte eine Teilnahme an der Konferenz nur unter der Bedingung zugesagt, dass über die Immigration in ihr Mandatsgebiet Palästina nicht geredet würde. Sie fürchtete, dass die Einwanderung von Juden zu verstärkten Unruhen der arabischen Bevölkerung führen würde.

Die Schweiz war nicht bereit, die Konferenz - wie eigentlich für solche Anlässe üblich - in Genf, dem Sitz des Völkerbunds, stattfinden zu lassen, weil dies die deutsche Regierung hätte verärgern können. Daher die Verlegung in das 30 Kilometer entfernte Evian, auf die französische Seite des Genfer Sees.

Das Lavieren um Konferenzthemen und -ort offenbarte, dass die Versuche, den jüdischen Flüchtlingen Schutz zu gewähren, halbherzig waren. Für manche lateinamerikanischen Regierungen hatten die Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland Priorität gegenüber der Sorge für die Flüchtlinge.

Auch die deutsche Regierung war zur Konferenz eingeladen worden in Hoffnung, sie zu Zugeständnissen hinsichtlich der Mitnahme des jüdischen Vermögens zu bewegen. Doch das Auswärtige Amt lehnte ab. Nur eine kleine Delegation deutscher Juden durfte mit Genehmigung Eichmanns nach Evian reisen, um dort die Dringlichkeit des Auswanderungsproblems zu unterstreichen. Nach offizieller deutscher Lesart kam ein Vermögenstransfer schon deshalb nicht in Frage, weil die Juden ihren vermeintlichen Reichtum auf Kosten der nichtjüdischen Deutschen angehäuft hätten. Damit war eine der wichtigsten Fragen auf der Agenda der Konferenz, nämlich die nach der Finanzierung der Massenauswanderung, wieder völlig offen.

Die Konferenz: Unterstützung ohne Folgen

Schließlich versammelten sich die Vertreter Frankreichs, Belgiens, der Niederlande, der Schweiz sowie Großbritanniens und der Dominions Kanada, Australien und Neuseeland in Evian; Schweden, Dänemark und Norwegen waren ebenso vertreten wie alle Republiken Nord- und Südamerikas. Polen und Rumänien, wo es seit einiger Zeit starke Tendenzen gab, nach deutschem Vorbild die jüdische Minderheit in die Emigration zu drängen, waren nicht eingeladen worden, hatten jedoch Beobachter nach Evian entsandt.

Zum Auftakt der Konferenz versicherten der Reihe nach nahezu alle Delegierten, dass ihr Staat sich außerstande sehe, Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich aufzunehmen. Alle lobten die Initiative Roosevelts, der jeden Tag ein Grußtelegramm nach Evian schickte; und alle beteuerten ihre Sympathie mit den Flüchtlingen und betonten, wie viel sie bereits für sie getan hätten und dass sie zu mehr leider-leider nicht in der Lage seien.

Die USA und die Staaten Westeuropas hatten gehofft, das leidige Problem auf die britischen Dominions sowie die dünn besiedelten Staaten Lateinamerikas abwälzen zu können. Doch diese lehnten die ihnen zugedachte Rolle ab, oder stellten Bedingungen, die die meisten Flüchtlinge nicht erfüllen konnten. Erwünscht waren in der Regel nur Personen, die eine Qualifikation und das Kapital mitbrachten, um unwirtliche Gebiete für die Landwirtschaft zu erschließen, nicht jedoch großstädtisch geprägte Flüchtlinge, die mit den Einheimischen um die knappen Arbeitsplätze konkurrieren würden. Der australische Delegierte war der einzige, der nahezu unverhohlen antisemitisch argumentierte: Australien habe kein Rassenproblem, so erklärte er, und wünsche auch nicht, ein solches zu importieren.

Allein der Vertreter der Dominikanischen Republik stellte in Aussicht, dass sein Land 100.000 Flüchtlinge aufnehmen könne. Allerdings gab es Zweifel an der Seriosität des Angebots, herrschte dort doch Rafael Trujillo, einer der grausamsten Diktatoren Lateinamerikas. Später verständigte sich die jüdische Hilfsorganisation Joint mit Trujillo darauf, in dem Karibikstaat eine landwirtschaftliche Siedlung für jüdische Flüchtlinge aufzubauen, finanziert mit Geldern des Joint. Doch aufgrund der Ausweitung des Krieges gelangten von 1940 an nicht mehr als einige Hundert Juden in die Dominikanische Republik.

Ergebnis und Folgen

Das einzig greifbare Ergebnis der Konferenz von Evian war die Gründung eines Intergovernmental Committees, das die Aufgabe hatte, Ansiedlungsmöglichkeiten für Flüchtlinge ausfindig zu machen und mit der deutschen Regierung über den Vermögenstransfer zu verhandeln. Diese weigerte sich jedoch, das Komitee überhaupt zu empfangen. Erst nach den Pogromen im November 1938 kam es zu geheimen Verhandlungen. In der Zwischenzeit hatte sich der chronische Devisenmangel Deutschlands zunehmend zur Bremse für die Kriegswirtschaft entwickelt. Nun sahen Reichsbankpräsident Schacht und Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan die Chance, Exportförderung und jüdische Auswanderung miteinander zu koppeln. Dem Memorandum zufolge, auf das man sich mit dem Komitee einigte, sollte zwei Dritteln der deutschen Juden binnen fünf Jahren die Emigration erlaubt werden, während der deutsche Fiskus 75 Prozent des jüdischen Vermögens einbehalten würde. Die restlichen 25 Prozent sollten nur gegen zusätzliche Exporte aus Deutschland freigegeben werden. Die Finanzierung der jüdischen Auswanderung blieb nach diesem Plan den Hilfsorganisationen sowie ganz allgemein dem „internationalen Judentum“ überlassen, die Erschließung von Siedlungsmöglichkeiten dem Intergovernmental Committee. Ein formelles Abkommen kam jedoch nicht mehr zustande, zumal beide Verhandlungsparteien mit erheblichen Widerständen im eigenen Lager zu kämpfen hatten. Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 entzog dem Plan die Grundlage.

 

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