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Anerkennung und Erinnerung in der historisch-politischen Bildungsarbeit

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Elke Gryglewski: Anerkennung und Erinnerung. Zugänge arabisch-palästinensischer und türkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust. Berlin (2013) Metropol-Verlag, 22,00€.

Von Ingolf Seidel

Geschichte ist ein Feld, auf dem in hohem Maße Diskurse über Zugehörigkeit oder Nicht-Zughörigkeit zu einer Gesellschaft verhandelt wird. Besonders gilt das bekanntlich in Deutschland für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden sowie anderer in diesem Zusammenhang begangener Massenverbrechen. Die Auseinandersetzung mit deutscher Schuld und Verantwortung ist nach 1989 quasi Staatsräson und Teil nationaler Identitätsbildung geworden. Da wiegt es schwer, wenn türkisch oder arabischstämmige Jugendliche als Gruppen wahrgenommen werden, die sich schwertun mit einer kritischen Auseinandersetzung über diesen Teil deutscher Geschichte oder sich gar verweigern und dies antisemitisch begründen. So könnte, freilich verkürzt, ein tragender Aspekt des Diskurses über Jugendliche aus Familien mit einem türkischen oder arabisch-palästinensischen Migrationshintergrund – häufig dazu unter den Begriff Muslime subsummiert –  beschrieben werden, der nicht zuletzt durch Alltagsbeobachtungen von Lehrkräften und anderen Pädagog/innen genährt wird. 

Elke Gryglewski ist in ihrer Promotionsstudie der Frage nachgegangen, ob eine methodisch gestützte, explizite Anerkennung der Jugendlichen und ihrer Familiengeschichten, bei der deren Leiderfahrungen und die möglichen Konkurrenzen zum gesellschaftlich dominanten Erinnerungsdiskurs Beachtung finden, zu einer höheren Auseinandersetzungsbereitschaft mit dem Nationalsozialismus und der Shoah führt. Ihre Ausgangsthese lautet, „dass Berliner Jugendliche arabisch-palästinensischer und türkischer Herkunft offen für die Beschäftigung mit dem NS und der Shoah sind, wenn sie sich mit ihren Familiengeschichten anerkannt fühlen“ (S.140). 

Gryglewski arbeitet seit vielen Jahren als Pädagogin in der Bildungsabteilung der Berliner Gedenk-und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz (HWK). Zudem war sie Mitglied des „Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“, der 2009 aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung eingerichtet wurde. Sie verfügt dementsprechend über unterschiedliche praktisch-pädagogische und theoretisch reflektierte Erfahrungen mit den genannten Zielgruppen. Ihre wissenschaftliche Arbeit siedelt sie im Feld der Praxisforschung an. Als Grundlage der Datenerhebung durch teilnehmende Beobachtung dienen Gryglewski zwei mittelfristig angelegte Jugendprojekte, die die Autorin mit arabisch-palästinensischstämmigen und türkischstämmigen Jugendlichen durchgeführt hat. Beide Projekte mündeten in Studienfahrten nach Israel und in die palästinensischen Autonomiegebiete, bzw. in die Türkei. In beiden Projekten wurde das Thema Nationalsozialismus behandelt und verknüpft mit der Auseinandersetzung um die Geschichte der Türkei, bzw. die israelisch-palästinensische Geschichte und den Nahost-Konflikt. 

Mit Ihrem pädagogischen Ansatz orientiert sich Elke Gryglewski an der Pädagogik der Anerkennung, wie sie der Soziologe Albert Scherr vertritt. Um Kinder und Jugendliche als eigenverantwortliche Subjekte wahrzunehmen und zu respektieren sei es nach Scherr nötig Begriffe wie „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige Anerkennung“ in den Mittelpunkt der Pädagogik zu rücken, anstatt dem nach PISA zunehmenden Trend einer arbeitsmarktkonformen pädagogischen Ausrichtung nachzugehen (vgl. S.121). Dabei wird, so Gryglewski, „Anerkennung (...) nicht als neues Themenfeld verstanden, sondern ist eine wesentliche Dimension im Kontext pädagogischen Agierens“ (S.122). Anerkennung ist jedoch – ein häufiges Missverständnis, das die Autorin ausräumt – keine Veranstaltung, die auf Grenzenlosigkeit beruht. Im Gegenteil wird, wie Beispiele aus dem HWK zeigen, „Grenzüberschreitungen inhaltlicher und verbaler Art“ entschieden entgegengetreten. Gryglewski begründet dies u.a. damit, dass es auch als Mangel an Anerkennung gedeutet werden könne, wenn man problematische Äußerungen ignorieren würde, da Pädagog/innen „den Jugendlichen die aufgrund von Wertschätzung gebotene Möglichkeit, etwas dazuzulernen und durch die Erweiterung des Wissenshorizonts ihre Meinung zu ändern“ (S.139) verwehren.  Anerkennungspädagogik bedeutet durchaus auch Förderung durch Forderung. Gryglewski stellt im Rahmen ihrer Arbeit fest, dass die zum Teil stark bildungsbenachteiligten Jugendlichen einen ausgeprägten Mangel an Selbstwertgefühl haben, der sich auf die Fähigkeit, Arbeitsaufträge zu erledigen und eigene Texte zu verfassen, bezieht. Der Mangel an Selbstvertrauen und an schriftlichen Fertigkeiten scheint, neben anderen Faktoren, aus fehlendem Zutrauen von Lehrkräften in die Schüler/innen zu resultieren, das sich darin ausdrückt, dass viele der Jugendlichen es ausschließlich gewohnt seien Lückentexte auszufüllen – neben dem Frontalunterricht sichtlich eine gängige Methode im Schulunterricht. Im Rahmen der von Gryglewski angebotenen Projekte kamen die Teilnehmer/innen verschiedentlich in die Situation, schriftliche Produkte zu erzielen, durchaus mit Erfolg: „Zunächst war, ungeachtet der historisch-politischen Bildung und der Erinnerungspolitik, berührend, wie glücklich sich die Jugendlichen über sich selbst und ihre bis dahin unbekannten Fähigkeiten zeigten. Umgekehrt hat es etwas Beschämendes, dass sie dieses Gefühl nicht regelmäßig ausleben bzw. erfahren dürfen.“ (S. 243) 

Im Rahmen der beiden Geschichtsprojekte ist es durchaus bemerkenswert, dass insgesamt 29 Jugendliche über mehrere Monate ihre Freizeit geopfert haben, um sich mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust zu beschäftigen. Auch die beiden Reisen, die in diesem Zusammenhang durchgeführt wurden, waren in erster Linie Bildungsangebote, die die Jugendlichen forderten. Dabei ist sicherlich nicht unwesentlich, dass für diese Jugendlichen, die in der Regel aus ökonomischen Gründen kaum Berlin verlassen, eine solche Reise ein wichtiger Anreiz und Bildungsimpuls zugleich ist. 

Über den Projektzeitraum hinweg nahm Gryglewski die Seminarsituationen auf und nutzte das Material, neben schriftlichen Aufzeichnungen der Jugendlichen und von ihr angefertigten Gedächtnisprotokollen im Zuge der Auswertung, zur Kategorisierung in Form einer Typenbildung. Die Autorin hebt hervor, dass ihr Fokus sich auf das Einlassen der Jugendlichen auf die Thematiken Nationalsozialismus und Shoah richtet und es ihr nicht, wie in den Studien von Viola Georgi oder Maik Zülsdorf-Kersting um die Erforschung des Geschichtsbewusstseins der Teilnehmer/innen ging. 

Die sechs Typen von Jugendlichen stellen jeweils unterschiedliche Anforderungen an den pädagogischen Umgang. Dabei ist interessant, dass der sogenannte dogmatisch denkende Typ im Sample der Untersuchungsgruppe nicht vorkommt. Keiner und Keine der Jugendlichen aus den Projekten verfügen also über ein geschlossen antisemitisches Weltbild, auch wenn Gryglewski verschiedene Situationen kennzeichnet, in denen antisemitische Äußerungen gefallen sind. In diesem Zusammenhang ist es so mutig wie konsequent, dass Elke Gryglewski ein Unterkapitel dazu nutzt, ausführlich eine Seminareinheit zur Staatsgründung Israels zu beschreiben, bei der starke antisemitische Äußerungen fielen. Statt hierbei auf die Zuschreibung zurückzugreifen, dass diese Jugendlichen antisemitisch seien, hinterfragt die Kollegin ihre eigene Arbeit und reflektiert über ihre Fehleinschätzung, die dazu führte, eine solche Einheit gerade während einer Sperrung der Grenzübergänge nach Gaza infolge von andauernden Raketenangriffen auf Israel im Januar 2008 mit den palästinensischstämmigen Jugendlichen durchführen zu wollen und dazu noch das vorhandene Diskussionsbedürfnis der Jugendlichen ignoriert zu haben. Ihre in diesem Zusammenhang einleuchtende These ist, dass die antisemitischen Äußerungen sich indirekt gegen sie als Vertreterin der Mehrheitsgesellschaft richteten, sich die Jugendlichen also einer Umwegkommunikation bedienten, indem sie auf die Juden zielten. Situationen, in denen man über wichtige Gruppenstimmungen oder Gesprächsbedürfnisse Einzelner hinweggeht, um sein Seminarprogramm oder den Stoff einer Stunde durchzunehmen, kennen sicherlich alle, die praktisch im Bildungsbereich tätig sind. Daher ist die Reflexion von Pädagog/innen über ihren eigenen sozialen Status und über das eigene Handeln eine der Grundlagen für anerkennende Pädagogik. Die eigene Haltung im pädagogischen Prozess ist entscheidend für den Verlauf und die Empathiefähigkeit der Teilnehmenden. Gleichzeitig gerät man vor dem Hintergrund eigener Verstrickungen leicht in die Problematik der Reproduktion von Stereotypen und Zuschreibungen. Mit dieser Herangehensweise werden antisemitische Äußerungen nicht negiert oder banalisiert, sondern im Gegenteil geht das Trachten danach nicht selbst als pädagogische Arbeitende/r entsprechende Situationen herzustellen, in denen Jugendliche in eine Anerkennungskonkurrenz geraten. Daher ist auch Gryglewskis Plädoyer für regelmäßige inhaltliche und selbstreflektierende Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte ein wichtiger Fingerzeig. 

Gryglewski zeigt, dass die von ihr vorgenommene Typenbildung weder hundertprozentig trennscharf, noch statisch ist. Im Verlauf der Langzeitprojekte nehmen Teilnehmende unterschiedliche Haltungen gegenüber den historischen Themen ein, die abhängig vom Prozess des Projekts sind, wobei auch die Beziehungen zu den Pädagoginnen relevant sind. Mehrheitlich gehören die Teilnehmer/innen dem „freundlich-interessierten Typ“ an, der nach Einschätzung der Autorin repräsentativ für viele Jugendliche deutscher und vor allem nicht-deutscher Herkunft sei; eine Einschätzung, die ich aus der Erfahrung der pädagogischen Arbeit mit heterogenen Gruppen klar bestätigen würde. Dieser Typ zeichnet sich durch Interesse an der Mitarbeit in der Freizeit, an den Inhalten, aber auch durch Aufgeschlossenheit gegenüber den Methoden aus. Der offen-empathische Typ würde demgegenüber die Bearbeitung des Themas Nationalsozialismus nicht immer von sich aus anstrengen, verhält sich aber sehr aufgeschlossen. Ihm fehlt es laut Gryglewski häufig an Faktenwissen, was sich vor allem in emotionalen Diskussionen für ihn problematisch zeigt. Augenfällig, und im Widerspruch zur Alltagsmeinung über diese Jugendlichen stehend, ist, dass sich unter den Teilnehmenden nur ein Jugendlicher des „provozierenden Typs“ befand, der antisemitische Äußerungen zur Provokation von Elke Gryglewski oder der begleitenden Sozialarbeiterin nutzte.

Ein wichtiges und bemerkenswertes Nebenergebnis der Studie ist, dass die Jugendlichen mit arabisch-palästinensischem und türkischem Hintergrund sich über die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vielfach erst ihrer eigenen Diskriminierung in Deutschland bewusst wurden. Eindrücklich steht dafür eine Passage innerhalb eines Texte der Jugendlichen Onur und Aycan: „Wenn man die nationalsozialistische Vergangenheit beachtet, ist es schwer nachvollziehbar, dass soviel Menschen nichtdeutscher Herkunft nach Deutschland gezogen sind und noch immer ziehen.“ (S. 225)

Elke Gryglewskis Beobachtungen beziehen sich auf ein außerschulisches Bildungssetting. Ihre Schlussfolgerungen und Hinweise für die pädagogische Praxis lassen sich in vieler Hinsicht auf das schulische Lernen übertragen. Daher und wegen der hohen Relevanz der Debatte, unter anderem für die Antisemitismusprävention, ist „Ausgrenzung und Erinnerung“ ein hoher Verbreitungsgrad und eine kritische Diskussion zu wünschen – gerade vonseiten der pädagogischen Praxis. 

 

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