Ein Kampf um Deutungshoheit – Die Kontroversen um das ehemalige Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes in der Leistikowstraße in Potsdam
Von Anne Lepper
Es ist ruhig geworden um die Gedenkstätte in der Leistikowstraße in Potsdam. Das mag verwundern, bildete der Streit um den Ort doch vor einigen Jahren noch einen Kristallisationspunkt der Debatten, die seit dem Historikerstreit 1986 die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik bestimmten. Das ehemalige Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes in der Leistikowstraße 1, das sich bis 1994 innerhalb eines militärischen Sperrgebiets befand – der Deutschlandzentrale der Militärspionageabwehr – war lange Zeit ein umkämpfter Ort. Bereits unmittelbar nach der Aufhebung des Sperrgebiets forderten Bürger_innen und verschiedene Organisationen die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände, 1997 setzte man sich vor Ort erstmals im Rahmen einer Ausstellung mit der Geschichte des Gebäudes auseinander. In den darauffolgenden Jahren entspann sich jedoch um die Entwicklung und die inhaltliche Ausrichtung einer künftigen Gedenk- und Begegnungsstätte in der Leistikowstraße ein Konflikt, in dem vor allem die beteiligten Opfervereine und eine Zeitzeug_innen-Initiative gegen die Gedenkstättenleiterin Ines Reich als Repräsentantin des Wissenschaftsbetriebs mobilisierten und ihr vermeintliches Recht auf Deutungshoheit einforderten.
Die Gedenkstätte, die 2009 nach der Sanierung des Gebäudes unter Reichs Leitung neu eröffnet wurde, wurde von den Zeitzeug_innen und bisherigen ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen aufgrund der Neuausrichtung von Beginn an harsch kritisiert. Der Streit, der in der Folgezeit zunehmend personalisiert und höchst eskalierend betrieben wurde, spitzte sich im Jahr 2012 weiter zu, als sich im Kontext der Eröffnung der neuen Dauerausstellung die bundesweite „Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V.“ einklinkte. Sein Höhepunkt wurde schließlich erreicht, als am 23. März 2012, wenige Tage vor der Eröffnung, die Gedenkstättenleiterin durch ein Mitglied des Gedenkstättenvereins tätlich angegriffen wurde, und diese daraufhin Anzeige erstattete. Nicht nur an diesem Punkt stellte sich im Zuge der Auseinandersetzungen immer wieder die Frage, ob anstatt der vermeintlichen Interessen der Opfer nicht eher politische Erwägungen im Vordergrund standen.
Was „aufarbeiten“? Und wie?
Dabei ist die Leistikowstraße in Potsdam nicht der einzige Ort, an dem über eine „richtige“ Aufarbeitung und Vermittlung der deutschen Vergangenheit gestritten wird. Insbesondere an Gedenkstätten, deren teilweise doppelte oder dreifache Vergangenheit eine komplexe Gemengelage verschiedener Unterdrückungs- und Verfolgungserfahrungen vorzuweisen haben, gab und gibt es immer wieder Kontroversen darüber, wie die jeweilige Geschichte erzählt werden sollte. Kontroversen, die sich an Fragen nach der individuellen Deutung von Leiderfahrungen und Verbrechen sowie der grundsätzlichen Einordnung und historiografischen Gewichtung von Nationalsozialismus und real existierendem Sozialismus orientierten, sind Teil der Entstehungsgeschichte nahezu aller SBZ/DDR-Gedenkstätten. Dass diese Auseinandersetzungen gerade in der Politik immer wieder persönliche Positionierungen, Abgrenzungsbedürfnisse und Solidarisierungsforderungen zeitigen, zeigten zuletzt unter anderem die Aussagen Hubertus Knabes, Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, der gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) im Herbst 2015 beklagte, dass Abgeordnete der Partei „Die Linke“ sein Museum eher selten besuchen würden.
Die Gedenkstätte Leistikowstraße
In der Gedenkstätte wird auf drei Etagen die Geschichte des Ortes anhand moderner didaktischer Mittel präsentiert. An Medienstationen und durch dreidimensionale Ausstellungsstücke können sich die Besucher_innen ein Bild von der Situation während der Zeit des sowjetischen Untersuchungsgefängnisses machen. Anhand von Texten, Bildern und Dokumenten werden die Schicksale ehemaliger Inhaftierter nachgezeichnet. Ein weiterer Teil der Ausstellung richtet den Blick auf die historischen Zusammenhänge, es werden die sowjetischen Geheimdienste und ihre Aufgaben innerhalb des sowjetischen Machtapparates thematisiert und kritisch beleuchtet. Im Fokus stehen dabei sowohl die Geheimdienstmitarbeiter selbst als auch ihre konkreten Arbeitsabläufe. Zusätzlich dazu wird in einem Teil der Ausstellung der Alltag der Inhaftierten anhand von Ausstellungsvitrinen dargestellt und durch Zeitzeugeninterviews ergänzt. Im Keller des Hauses können die Besucher_innen schließlich in ehemaligen Zellen eingeritzte Inschriften ehemaliger Häftlinge begutachten.
Ein neuer Historikerstreit?
Im Jahr 2013, also unmittelbar nachdem die höchste Eskalationsstufe in den Auseinandersetzungen um den Gedenkort Leistikowstraße erreicht war, erschien im Metropol Verlag ein von Wolfgang Benz herausgegebener Band, der den Konflikt auf wissenschaftlicher Ebene aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen und analysieren sollte. Die Beiträge, die demgemäß sowohl von Historiker_innen und Gedenkstättenmitarbeiter_innen als auch von Zeitzeug_innen verfasst wurden, bieten dadurch ein überaus vielschichtiges und differenziertes Schlaglicht auf den Ort und die Thematik.
Andrew H. Beattie nimmt in einem einführenden Artikel die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte zum Anlass, um die verschiedenen Standpunkte, die sich in der deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik während und im Anschluss an den Historikerstreit herausgebildet haben, zu beleuchten und dabei überdauernde Totalitarismustheorien und Gleichsetzungstendenzen im deutschen Umgang mit seiner Geschichte aufzudecken. Angesichts dieser, von ihm beobachteten und beschriebenen Entwicklungen skizziert er noch einmal die unterschiedliche Wahrnehmung verschiedener Historiker_innen bezüglich einer differenzierten Betrachtungsweise und der erinnerungspolitischen Einordnung der deutschen Vergangenheit in der Gesellschaft. Es sei jedoch trotz dieser divergierenden Auffassungen zu keinem „neuen Historikerstreit“ gekommen, so Beattie. Grund dafür sei unter anderem das fehlende Interesse an einer wissenschaftlichen Analyse und Darstellung des Historikerstreits und den daraus resultierenden geschichtswissenschaftlichen Kontinuitätslinien und Brüchen bis in die Gegenwart. In seinem Aufsatz zeichnet er den Weg vom Historikerstreit 1986 über die Jahre nach der Wiedervereinigung bis zum Streit um die Gedenkstätte Leistikowstraße nach. Der Fokus liegt hierbei in erster Linie auf der Frage nach der Vergleichbarkeit von real existierendem Sozialismus und Nationalsozialismus sowie der Verhinderung einer Gleichsetzung beider Systeme auf politischer, gesellschaftlicher oder wissenschaftlicher Ebene.
Vergleich, Gleichsetzung, Trivialisierung
Juliane Wetzel erläutert in ihrem Beitrag die Problematik des 23. August als europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus. Der umstrittene Gedenktag, dessen Durchführung Nivellierungstendenzen innerhalb der jeweiligen Gesellschaften sichtbar macht, wird mittlerweile in verschiedenen europäischen Ländern, darunter Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Kanada, Bulgarien, Kroatien, Polen, Ungarn und Slowenien begangen. Wetzel verweist in ihrem Text auf die Gefahr der Trivialisierung des Holocaust durch die Gleichsetzung mit dem Stalinismus.
Als Beispiele einer Geschichtsauffassung, die statt auf Differenzierung zwischen den jeweiligen Vorgängen und Systemen auf eine Instrumentalisierung und Mystifizierung des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft abzielt, werden in dem Band zwei Orte vorgestellt: Brigitte Mihok gibt einen Einblick in die Gedenkstätte „Haus des Terrors“ in Budapest, in der massiv die Gleichsetzung des faschistischen Regimes auf der einen und des kommunistischen Regimes auf der anderen Seite betrieben wird, und Ewa Czerwiakowski befasst sich mit dem Museum des Warschauer Aufstands von 1944, in dem die historischen Fakten über den Kampf der Warschauer Zivilbevölkerung gegen die Nationalsozialisten teilweise durch einen unsachlichen Heldenkult überlagert wird.
Unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte
Die Konflikte um das Recht auf Deutungshoheit, die sich aufgrund konkurrierender Interessen beteiligter Wissenschaftler_innen, Gedenkstättenmitarbeiter_innen und Zeitzeug_innen an vielen Gedenkstätten und historischen Orten entspinnen, werden in einem Beitrag von Carola S. Rudnick in Bezug auf die sächsischen Gedenkstätten und in einem Streitgespräch zwischen Winfried Meyer und Roland Brauckmann mit dem Fokus auf die Gedenkstätte Leistikowstraße thematisiert. In zwei weiteren Beiträgen kommen ehemalige Häftlinge des sowjetischen Untersuchungsgefängnisses zu Wort. Friedrich Klausch und Waldemar Hoeffding berichten über ihre Erfahrungen während der Haftzeit und setzen sich aus der Perspektive der Zeitzeug_innen mit der Entwicklung der Gedenkstätte auseinander.
Anschließend daran, eröffnen drei weitere Beiträge eine wissenschaftliche Perspektive auf die sowjetische Besatzungsjustiz und ihren Folgen. Andreas Hilger gibt in „Der Gulag in Deutschland“ einen Überblick über sowjetische Haftstätten in Deutschland nach 1945. Martin Jander stellt die „Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft“ sowie deren Motive und Aktivitäten vor und Enrico Heitzer setzt sich mit der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ auseinander, über die in dieser Ausgabe noch einmal ausführlich in einer Rezension geschrieben wird. Sowohl Jander als auch Heitzer bewegen sich in ihren Texten im Spannungsfeld zwischen der Durchsetzung berechtigter Opferinteressen auf der einen und den politischen Kampagnen militanter antikommunistischer Aktivist_innen auf der anderen Seite.
In einem zweiten Beitrag befasst sich Carola S. Rudnick mit der Musealisierung der DDR und Barbara Distel setzt sich schließlich mit der Frage auseinander, ob mit dem fortschreitenden Verlust von KZ-Überlebenden als Zeitzeug_innen die mediale Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus mehr und mehr durch die emotionalen Bedürfnisse und Forderungen der Konsumenten bestimmt wird, die historische Genauigkeit dabei jedoch zunehmend aus dem Blickfeld gerät.
Zusammenfassung
Der Band bietet einen vielseitigen Einblick in aktuelle und vergangene geschichtspolitische Debatten. Durch den Einbezug unterschiedlicher Perspektiven und eine interdisziplinäre Herangehensweise gelingt es außerdem, die verschiedenen historischen und thematischen Zugänge miteinander zu verknüpfen und so einen detaillierten Überblick über den Kampf um die Deutungshoheit in der Tradierung eines deutschen Geschichtsbewusstseins zu geben. Diese Ansicht teilen jedoch nicht alle. Nach der Veröffentlichung des Bandes und der bereits erwähnten Anzeige durch die Gedenkstättenleiterin Ines Reich im Zusammenhang mit der Eröffnung der Dauerausstellung kritisierten Opferverbände und Zeitzeug_innen-Vereine sowohl die Publikation als auch die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung scharf.
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion, die im Kontext der Buchveröffentlichung im Mai 2013 in der Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam durchgeführt wurde, traten die Gegensätze zwischen Wissenschaftler_innen, Gedenkstättenmitarbeiter_innen und Zeitzeug_innen sehr deutlich zum Vorschein, wenngleich zu Beginn der Veranstaltung alle Beteiligten beteuerten, es wäre ihnen grundsätzlich an einer konstruktiven Zusammenarbeit gelegen. Die Vertreter der Opferverbände sahen sich im Anschluss daran dazu veranlasst, eine Stellungnahme in Bezug auf das Buch zu verfassen, die am 23. Mai 2013 in der Märkischen Allgemeinen veröffentlicht wurde. Neben einer grundsätzlichen Kritik an der Darstellung ihrer Position in mehreren Beiträgen des Bandes sind darin auch die wiederholten Forderungen nach einer Überarbeitung der Dauerausstellung enthalten. Diese solle, so die Zeitzeug_jnnen, um die Themen Gulag und Widerstand in der SBZ/DDR erweitert werden. Wenngleich Leiterin Ines Reich ihre Position sowie die Arbeit der Gedenkstätten im Rahmen der verschiedenen Veranstaltungen und schriftlichen Darstellungen zu verteidigen wusste, stimmte sie einer Überarbeitung der Ausstellung an einigen Stellen letzten Endes doch zu. Dies führte dazu, dass sich die Gemüter allmählich beruhigten und Reich 2014 zum fünfjährigen Jubiläum der Gedenkstätte gar eine positive Bilanz ziehen konnte. Das anfangs schwierige Verhältnis zu den Zeitzeug_innen sei mittlerweile konstruktiv, so Reich. Wenngleich einige Vertreter_innen der Opferverbände diesbezüglich nach wie vor eine andere Meinung zu haben scheinen, so bleibt doch zu hoffen, dass sich die verschiedenen Parteien auch in Zukunft weiter annähern können.
Die Lektüre des Bandes empfiehlt sich für Lehrkräfte jedenfalls vor allem in Vorbereitung auf einen Besuch der Gedenkstätte, es können jedoch auch grundsätzliche Fragen der Gedenk- und Erinnerungspolitik anhand der verschiedenen Beiträge behandelt werden.
Informationen
Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße PotsdamLeistikowstraße 1
144 69 Potsdam
Tel. 0331-2011540
Email: mail [at] gedenkstaette-leistikowstrasse [dot] de
Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag 14 bis 18 Uhr
Führungen: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr nach Voranmeldung
Montag geschlossen
Eintritt frei
Literatur
Benz, Wolfgang: Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam. Metropol Verlag, Berlin 2013. 294 Seiten.
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- 20 Apr 2016 - 05:06