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Schulgebäude als „authentische Orte“

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Bernhard Bremberger arbeitete als Historiker am Museum Neukölln und an der Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle des Berliner Senats, er publiziert zu Medizin und Zwangsarbeit und zur Lokalgeschichte und forscht derzeit an der Universität Potsdam zur NS-Geschichte des Gefängnisses Cottbus. Er ist Gründer und Moderator der seit 2001 aktiven internationalen Mailing Liste NS-Zwangsarbeit (http://www.zwangsarbeit-forschung.de/MailingListe/mailingliste.html).
Von Bernhard Bremberger

Dass die Justus-Liebig-Schule in meiner Heimatstadt Darmstadt 1942 ein Sammellager war, von dem südhessische Juden zur Vernichtung transportiert worden waren – das erfuhr ich zu meiner Schulzeit nicht, es wäre wohl auch kein Thema für den Unterricht gewesen.

Viel später recherchierte ich in den Sterbebüchern des Berliner Bezirks Neukölln und wunderte mich über die vielen Italiener, die während des Krieges in der Donaustraße 122 starben. Dort steht eine Schule, die während des Zweiten Weltkrieges als Reservelazarett genutzt wurde  – das Standesamt registrierte weit über 100 Tote – Kriegsgefangene verschiedenster Nationalität.

Allmählich fanden sich noch weitere Informationen zu Neuköllner Schulgebäuden:

  • Die heutige Anna-Siemsen-Oberschule: Zeitzeugen berichten von einer Baracke auf dem Schulhof für französische Arbeiter, die zu Steinmetzarbeiten eingesetzt worden waren.

  • Die Firma National Krupp (eine Tochter des US-Konzerns NCR) nutzte die benachbarte Schule am Stuttgarter Platz ebenfalls als Zwangsarbeiterlager. Untergebracht waren die Polen und Polinnen unter anderem in der von Reinhold Kiehl entworfenen Turnhalle. (1944 wurde daneben ein KZ-Außenlager errichtet für die jüdischen Arbeitskräfte der Firma.)

  • Die Schulgebäude in der Rütlistraße wurden als Hilfskrankenhaus genutzt, Namen von dort verstorbenen Ausländern sind bekannt, mittlerweile liegen auch Patientenakten von Zwangsarbeitern vor.

Diese Beispiele kann ich beliebig vermehren: für Neukölln, für ganz Berlin. Quer durchs Land lassen sich sicher Belege dafür finden, dass Schulgebäude während des Zweiten Weltkriegs Sammellager, Ausländerunterkünfte, Lazarette oder Hilfskrankenhäuser waren.

Seit über einem Jahrzehnt wird Zwangsarbeit von ausländischen Zivilisten in deutschen Schulen behandelt. Um das Thema den Jugendlichen nahezubringen, stehen nun zahlreiche pädagogische Materialien parat, die ihnen die grundlegende Problematik und die Lebensumstände ausländischer Zwangsarbeiter/innen vermitteln. Während die Zahl der Unterrichtsmaterialien zunimmt, sterben die Zeitzeugen; es kommt kaum mehr vor, dass Jugendliche Kontakt zu ehemaligen Zwangsarbeitern bekommen. Das Thema erreicht daher ihre Lebenswirklichkeit immer weniger.

Vor dem oben geschilderten Hintergrund gibt es bislang weitgehend ungenutzte Möglichkeiten, sie dafür zu interessieren. Wenn sie wüssten, dass in ihren Klassenzimmern 40 Personen wohnen mussten – Jugendliche in ihrem Alter, vielleicht auch Familien mit Kindern, die in der Nachbarschaft zur Arbeit gezwungen waren! Wenn sie wüssten, dass in ihrem Schulgebäude Menschen auf dem Weg in den Tod Station machen mussten! Wenn Sie wüssten, dass ein Trakt ihrer Schule als Krankenhaus genutzt war, in dem monatlich Dutzende von Osteuropäer/innen an Tuberkulose starben!

Ich kenne keine Schule, die ihre eigene Geschichte in dem Maße behandelt, wie die Sophie-Scholl-Schule in Berlin-Schöneberg. Am Anfang stand der Brief einer ehemaligen Zwangsarbeiterin, deren Familie in der Schule untergebracht war: Ihre Eltern und der ältere Bruder mussten am benachbarten Bunker bauen, die Zwölfjährige hatte das Lager sauber zu halten und jüngere Kinder zu beaufsichtigen. Nach Erhalt des Briefes begann man, sich mit der Geschichte des Gebäudes zu befassen. Es entstanden enge persönliche Kontakte zu den damals dort untergebrachten Ukrainern, Freundschaften, die über die Generationen gehen und bis heute gepflegt werden. Das Thema ist bei den Schülern verankert, sei es durch die Behandlung im Unterricht, sei es auch durch künstlerische Aktionen.

Oft wünsche ich mir, dass sich auch andere Schulen mit der Geschichte ihres Standortes und ihres Gebäudes auseinandersetzen. Nicht nur wegen des pädagogischen Wertes und der Nachhaltigkeit solcher Erfahrungen für die Schüler/innen. Bei meiner Forschung in Archiven begegnen mir häufig solche Informationen, allerdings lässt die alltägliche Arbeit gar nicht zu, jeder Spur intensiv nachzugehen. Ich kann die Schulen darauf hinweisen, kann meine Unterstützung anbieten und hoffen, dass die Hinweise auf fruchtbaren Boden fallen. Ich kann hoffen, dass sich Pädagog/innen dafür interessieren und bemerken, welch großartige Chance sich bietet, anschaulich Geschichte am eigenen Ort zu lernen und zu erarbeiten. Ein interessiertes Team von Schüler/innen unter motivierender pädagogischer Anleitung kann mit fachlicher Beratung großartige lokalhistorische Ergebnisse bringen. Sonst gibt es kaum jemanden, der sich in dieser Intensität darum kümmern dürfte.

Die Schule in der Graefestraße 85 in Berlin-Kreuzberg beherbergte während des Krieges sogar zwei Ausländerkrankenhäuser, eines für Arbeiter/innen aus Frankreich, eines für „Russen“. 385 Personen sollen dort verstorben sein. Es war gelungen, Kontakt zu einem französischen Arzt zu bekommen, der freiwillig in dieses Krankenhaus gegangen war und unter dem sich die Schule auch zu einem Freiraum für französische Priester entwickeln konnte. Es stand zur Debatte, die Schule nach diesem mittlerweile verstorbenen Arzt zu benennen – bleibt abzuwarten, ob sich die Schule auch nach dem Weggang des Lehrers, der sich intensiv darum kümmerte und engagierte, weiterhin dafür interessieren wird.

Die Clay-Schule in Berlin-Rudow bekommt endlich einen Neubau, und zwar in der Köpenicker Straße 39-45. Diese Adresse war Standort des größten Neuköllner Zwangsarbeiterlagers. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Schule, die immerhin das Thema „Verdrängte Geschichte“ auf ihrer Website thematisiert, mit der Geschichte des Ortes und dem Schicksal von über 2.500 Ausländer/innen, die dort leben mussten, beschäftigen wird.

Alles liegt am Engagement einzelner Pädagog/innen. Sie haben es in der Hand, am Beispiel des eigenen Schulgebäudes Geschichte interessant, anschaulich und erlebbar zu vermitteln.

 

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