Magazin vom 26. Oktober 2016 (08/16)

Der Umgang mit NS-Täterschaft und Kollaboration in der historisch-politischen Bildung und in Erinnerungskulturen

Liebe Leserinnen und Leser, 

wir begrüßen Sie zur neuen Ausgabe des LaG-Magazins. Wie der Titel besagt, bilden Auseinandersetzungsformen mit NS-Täterschaft und Kollaboration dieses Mal den Schwerpunkt. In den letzten Jahren ist die Auseinandersetzung mit der Verstrickung in Nationalsozialismus und deutsche Besatzung verstärkt in der Bildungsarbeit thematisiert worden. Die Täterforschung in den Geschichtswissenschaften setzt sich seit den 1990er-Jahren in größerem Rahmen mit der Thematik auseinander. 

Dennoch sind familienbiografische Nachforschungen und Gespräche gesamtgesellschaftlich marginal. Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit der derzeit stattfindende Rechtsruck, nicht nur in Deutschland, mit familiären oder gesellschaftlichen De-Thematisierungen und Problematiken von Erinnerungskulturen an die NS-Mordtaten in Europa zusammenhängt. Zumindest besteht in Mittel- und Osteuropa ein konfliktbehaftetes Verhältnis in den Erinnerungen an den „real existierenden Sozialismus“ und stalinistische Verbrechen auf der einen Seite und an deutsche Besatzung, Shoah, Porajmos und Kollaboration auf der anderen Seite. Die meist geschichtspolitisch aufgeladenen Erinnerungskonflikte führen nicht selten zu nationalen Opfernarrativen, wie dies in den baltischen Staaten oder auch der Ukraine zu beobachten ist. In diesem Zusammenhang ist jede Überheblichkeit von deutscher Seite aus unangebracht, wurden doch viele Diskussionen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit erst auf Druck von Überlebenden oder von bürgerschaftlich engagierten Menschen, häufig gegen die staatliche und mehrheitsgesellschaftliche Agenda, geführt. Der erinnerungspolitische Umgang beispielsweise mit Sinti und Roma zeigt, dass hier noch viel Diskussions- und Handlungsbedarf besteht. 

Oliver von Wrochem konstatiert eine zunehmende Bereitschaft, sich in Deutschland mit der Frage von Täterschaft, auch im familiären Rahmen, auseinanderzusetzen. Seine Betrachtungen basieren auf der reichhaltigen Erfahrung mit entsprechenden Seminaren, die von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme angeboten werden. 

Barbara Brix hat sich lange Jahre mit der Geschichte ihres Vaters auseinandergesetzt, der als Mitglied der Waffen-SS und Arzt der Einsatzgruppe C in das Morden in der Sowjetunion verstrickt war. In ihrem Essay zeichnet die Autorin die Entwicklung dieser Auseinandersetzung und die Fragen, die sich für sie daraus ergaben, sehr persönlich nach. 

Mit der ambivalenten Position zwischen Täterschaft und Opferdasein der Trawniki-Männer, überwiegend sowjetische Kriegsgefangene, die unter anderem in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ eingesetzt wurden, setzt sich Angelika Benz auseinander. 

Der Beitrag von Ingolf Seidel ist ein Bericht über eine Exkursion zu Orten der Zeitgeschichte in Lettland und Litauen im Frühsommer dieses Jahres. Darin zeigt er die konkurrierenden Narrative zu sowjetischer und deutscher Besatzung innerhalb der beiden baltischen Staaten auf. 

Die norditalienische Kriegsgräberstätte für deutsche Soldaten in Costermano dient für Rolf Wernstedt als Beispiel, sich mit den erinnerungskulturellen Herausforderungen und Schwierigkeiten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge auseinanderzusetzen, die an einem Ort bestehen, an dem unter anderem NS-Täter wie Christian Wirth, Franz Reichleitner und Gottfried Schwarz begraben liegen. 

Auch Henning Pieper nimmt sich des Themas von Kriegsgräbern an. An drei Beispielen, Weimar, Costermano und Lommel, führt er seine Betrachtungen zum Umgang mit Gräberstätten aus, die für Täter und Opfer die letzte Ruhestätte sind. 

Carmen Ludwig bespricht das Buch „Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte“ von Alexandra Senfft, das autobiografische Auseinandersetzungen zu elf Familiengeschichten im Nationalsozialismus beinhaltet. 

Wir danken allen externen Autor_innen herzlich für die Mitarbeit. 

Das nächste LaG-Magazin erscheint am 23. November. Es trägt den Titel „Extreme Rechte und Möglichkeiten präventiver Bildungsarbeit“. 

Wir wünschen Ihnen eine gewinnbringende Lektüre. 

Ihre LaG-Redaktion 

Beiträge

Zur Diskussion

Die familienbiographische Arbeit zu Täterschaft stößt auf ein vermehrtes Interesse. Auf der Basis von Seminaren mit Nachkommen von Verfolgten und Täter_innen schildert Oliver von Wrochem seine Erfahrungen.

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Barbara Brix hat sich mit der Täterschaft ihres Vaters Auseinandergesetzt. IN ihrem Aufsatz beschreit sie Stationen dieses Prozesses und die Fragen, die sich ihr stellten und immer noch stellen.

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Die Autorin setzt sich mit der ambivalenten Position zwischen Täterschaft und Opferdasein der Trawniki-Männer, überwiegend sowjetische Kriegsgefangene, die unter anderem in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ eingesetzt wurden, auseinander.

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Die Erinnerungskulturen in den baltischen Staaten Litauen und Lettland sind durch kokurrierende Narrative über die deutsche und die sowjetische Besatzung gekennzeichnet. In Museen und Gedenkstätten findet dieses gespaltene Verhältnis seinen Niederschlag.

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Der Autor widmet sich dem schwierigen und herausfordernden Umgang mit Kriegsgräberstätten auf denen Täter, hier Mitglieder der SS, begraben sind.

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Zur Diskussion

Der Autor befasst sich anhand der Beispiele Weimar, Costermano und Lommel mit der Problematik im Umgang mit Kriegsgräbern in denen NS-Täter begraben sind.

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Bildungsträger

Das Bundesministerium des Innern lässt derzeit die Nachkriegsgeschichte der Innenministerien in beiden deutschen Staaten hinsichtlich des Umgangs mit der NS-Vergangenheit aufarbeiten. Die Forschungsergebnisse werden auch im Rahmen einer von Studierenden erarbeiteten virtuellen Ausstellung präsentiert.

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Bildungsträger

Im Rahmen des Projekts „Ortsbegehung“ haben sächsische Schüler_innen zur NS-Geschichte ihrer Heimatstädte geforscht. Entstanden sind dabei neben einem Kurzfilm tiefgründige Ausstellungen zu ortsbezogener Täterschaft.

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Empfehlung Unterrichtsmaterial

Er war Arzt, SS-Mann und überzeugter Nationalsozialist – dann erfuhr Walter Müller von seiner „jüdischen Abstammung“ und nahm sich das Leben. Ein Arbeitsblatt verspricht kontroverse Unterrichtsdiskussionen zur Erinnerung an Täter_innen und Opfer.

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Empfehlung Fachbuch

Auch wenn seit mehreren Jahren vermehrt über Täterschaften und die Verstrickung einzelner Personen im NS-System gesprochen und geforscht wird, wurde eine biografische Aufarbeitung bislang weniger in den Blick genommen. Alexandra Senfft unternimmt in ihrem neuen Buch den Versuch, das Schweigen zu brechen und einen offenen Dialog anzuregen.

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Empfehlung Fachbuch

Ein Ausstellungskatalog zeigt die Rolle der Polizei im NS-Staat, ihre Verbrechen und deren Aufarbeitung. Der Katalog, der die Grundlage einer im Jahr 2011 im Deutschen Historischen Museum gezeigten Ausstellung darstellt, beinhaltet neben der Präsentation der Ausstellungsexponate auch kurze thematische Einführungen.

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Empfehlung Lebensbericht

Der Schweizer Journalist Sacha Batthyány arbeitet in seinem Buch die Verstrickung seiner Familie in nationalsozialistische Morde auf. 

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Empfehlung Fachbuch

Ein jüngst erschienener Band setzt sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Höcker-Album auseinander. Das Fotoalbum, das 2006 dem USHMM übergeben wurde, zeigt das SS-Personal von Auschwitz in seiner Freizeit in ausgelassener Stimmung.

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Empfehlung Fachbuch

Der Sammelband „Nationalsozialistische Täterschaften“ basiert auf Fachkonferenzen und Seminaren an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und bietet Akteuren der historisch-politischen Bildung die Möglichkeit, über den gewohnten Tätigkeitsbereich hinauszuschauen.

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