Liebe Leserinnen und Leser,
in diesem Jahr jährte sich sowohl das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal, als auch die Befreiung des Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz. Beide Daten sind uns Anlass genug, einen – durchaus ausgesprochen kritischen Blick – auf den Umgang mit diesen Jahrestagen im Besonderen und auf die bundesdeutschen Erinnerungskulturen im Allgemeinen zu werfen. Vieles was langjährig ertrotzt werden musste, oft genug gegen den Willen der gesellschaftlichen Mehrheit und weiten Teilen ihrer parlamentarischen Vertretung, scheint heute selbstverständlich und common sense, ja ist Teil eines neuen nationalen Selbstverständnisses geworden.
Sicherlich, die Gedenkstättenpädagogik und die historisch-politische Bildung über die Vernichtung der europäischen Juden und zu anderen nationalsozialistischen Massenverbrechen hat sich deutlich ausdifferenziert und professionalisiert. Doch inwieweit wirkt diese Bildung heute selber ausgrenzend gegenüber Zugewanderten? Ist es legitim aus dem deutschen Menschheitsverbrechen bzw. aus dem Gedenken daran heute eine nationale Identität zu konstruieren? Oder wird hierüber nicht allzu viel erneut verdrängt? Wie steht es um die Frage der ausstehenden Reparationen gegenüber Griechenland oder für die Italienischen Militärinternierten?
Die Beiträge in dieser Ausgabe werden manche dieser Fragen andiskutieren, eindeutige Antworten lassen sich nur selten finden. Dennoch kann die Mehrzahl der Texte als Plädoyer für ein Eingedenken im Sinne Walter Benjamins gelesen werden, welches unter der Prämisse steht, sich nicht mit der Vergangenheit zu versöhnen, sondern im Blick zu behalten, wo sie bis heute weiterwirkt. Die europäische Politik gegenüber Geflüchteten, die tagtäglichen Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte, anhaltender Rassismus und Antisemitismus und, nicht zuletzt, die pogromartigen Übergriffe in Heidenau zeigen diese Notwendigkeit aus unserer Perspektive nur allzu deutlich auf.
Ingolf Seidel gibt in seinem Beitrag einen Einblick in einige Diskussionen, die während der Tagung #erinnern_kontrovers des Vereins Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien im Juli diesen Jahres eine Rolle spielten. Darüber hinaus thematisiert er Untiefen der Erinnerungs- und Gedenkkulturen und die Problematik der Renaissance der Totalitarismusdoktrin.
Der Aufsatz von Cornelia Siebeck fragt nach dem Zusammenhang des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in Deutschland und der nationalen Selbstvergewisserung anhand der Ausstellung „Zeitreise 1914-2014“ und der Reden des Bundespräsidenten Joachim Gauck.
Mittels der Begriffe Erinnern und Gedenken befasst sich Thomas Lutz in einer kritischen Perspektive mit der Entwicklung der Erinnerungskulturen hin zu ihrem heutigen Bestand.
Eine österreichische Perspektive auf die Funktion von KZ-Gedenkstätten bringt Werner Dreier ein. Sein Thema ist das Verhältnis von Gedenkstätten und Geschichtspolitik im Spannungsfeld von gesellschaftlich stabilisierenden sowie die Gesellschaft herausfordernden Perspektiven.
Etienne Schinkel geht davon aus, es habe im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg ein Beharren auf der These einer deutschen Kollektivunschuld triumphiert mit der die Deutschen sich wechselweise als Opfer Hitlers, ihres vermeintlichen Unwissens über den Holocaust und später als Opfer der Alliierten stilisiert hätten.
Ralf Dietrich hinterfragt die, aus seiner Sicht zensierende, Intervention der Gemeindevertretung des brandenburgischen Ortes Halbe in einer wissenschaftlichen Ausstellung über die dortige Kriegsgräberstätte.
Einen organisierten Versuch der Umdeutung der NS-Vergangenheit in den 1950er- und 1960er-Jahren durch die „Kameradschaftshilfe ehemaliger Internierter und der Entnazifizierungsgeschädigten Landesverband Hessen e.V.“ greift Arne Jost auf.
Einen ganz besonderen Beitrag hat Helmut Krohne für diese Ausgabe beigesteuert. Er hat ein Zeitzeuginnengespräch mit Dorothy Bergman, einer jüdischen Überlebenden eines Todesmarsches und des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, geführt.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Beiträge.
Das nächste LaG-Magazin erscheint am 28. Oktober. Es thematisiert Eugenik und „Euthanasie“ im historischen Kontext.
Wir wünschen Ihnen eine gute und anregende Lektüre.
Ihre LaG-Redaktion