Magazin vom 23. September 2015 (07/2015)

Erinnern und Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges

Liebe Leserinnen und Leser,

in diesem Jahr jährte sich sowohl das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal, als auch die Befreiung des Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz. Beide Daten sind uns Anlass genug, einen – durchaus ausgesprochen kritischen Blick – auf den Umgang mit diesen Jahrestagen im Besonderen und auf die bundesdeutschen Erinnerungskulturen im Allgemeinen zu werfen. Vieles was langjährig ertrotzt werden musste, oft genug gegen den Willen der gesellschaftlichen Mehrheit und weiten Teilen ihrer parlamentarischen Vertretung, scheint heute selbstverständlich und common sense, ja ist Teil eines neuen nationalen Selbstverständnisses geworden.

Sicherlich, die Gedenkstättenpädagogik und die historisch-politische Bildung über die Vernichtung der europäischen Juden und zu anderen nationalsozialistischen Massenverbrechen hat sich deutlich ausdifferenziert und professionalisiert. Doch inwieweit wirkt diese Bildung heute selber ausgrenzend gegenüber Zugewanderten? Ist es legitim aus dem deutschen Menschheitsverbrechen bzw. aus dem Gedenken daran heute eine nationale Identität zu konstruieren? Oder wird hierüber nicht allzu viel erneut verdrängt? Wie steht es um die Frage der ausstehenden Reparationen gegenüber Griechenland oder für die Italienischen Militärinternierten?

Die Beiträge in dieser Ausgabe werden manche dieser Fragen andiskutieren, eindeutige Antworten lassen sich nur selten finden. Dennoch kann die Mehrzahl der Texte als Plädoyer für ein Eingedenken im Sinne Walter Benjamins gelesen werden, welches unter der Prämisse steht, sich nicht mit der Vergangenheit zu versöhnen, sondern im Blick zu behalten, wo sie bis heute weiterwirkt. Die europäische Politik gegenüber Geflüchteten, die tagtäglichen Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte, anhaltender Rassismus und Antisemitismus und, nicht zuletzt, die pogromartigen Übergriffe in Heidenau zeigen diese Notwendigkeit aus unserer Perspektive nur allzu deutlich auf.

Ingolf Seidel gibt in seinem Beitrag einen Einblick in einige Diskussionen, die während der Tagung #erinnern_kontrovers des Vereins Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien im Juli diesen Jahres eine Rolle spielten. Darüber hinaus thematisiert er Untiefen der Erinnerungs- und Gedenkkulturen und die Problematik der Renaissance der Totalitarismusdoktrin. 

Der Aufsatz von Cornelia Siebeck fragt nach dem Zusammenhang  des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in Deutschland und der nationalen Selbstvergewisserung anhand der Ausstellung „Zeitreise 1914-2014“ und der Reden des Bundespräsidenten Joachim Gauck. 

Mittels der Begriffe Erinnern und Gedenken befasst sich Thomas Lutz in einer kritischen Perspektive mit der Entwicklung der Erinnerungskulturen hin zu ihrem heutigen Bestand. 

Eine österreichische Perspektive auf die Funktion von KZ-Gedenkstätten bringt Werner Dreier ein. Sein Thema ist das Verhältnis von Gedenkstätten und Geschichtspolitik im Spannungsfeld von gesellschaftlich stabilisierenden sowie die Gesellschaft herausfordernden Perspektiven.

Etienne Schinkel geht davon aus, es habe im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg ein Beharren auf der These einer deutschen Kollektivunschuld triumphiert mit der die Deutschen sich wechselweise als Opfer Hitlers, ihres vermeintlichen Unwissens über den Holocaust und später als Opfer der Alliierten stilisiert hätten.

Ralf Dietrich hinterfragt die, aus seiner Sicht zensierende, Intervention der Gemeindevertretung des brandenburgischen Ortes Halbe in einer wissenschaftlichen Ausstellung über die dortige Kriegsgräberstätte.

Einen organisierten Versuch der Umdeutung der NS-Vergangenheit in den 1950er- und 1960er-Jahren durch die „Kameradschaftshilfe ehemaliger Internierter und der Entnazifizierungsgeschädigten Landesverband Hessen e.V.“ greift Arne Jost auf. 

Einen ganz besonderen Beitrag hat Helmut Krohne für diese Ausgabe beigesteuert. Er hat ein Zeitzeuginnengespräch mit Dorothy Bergman, einer jüdischen Überlebenden eines Todesmarsches und des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, geführt.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Beiträge.

Das nächste LaG-Magazin erscheint am 28. Oktober. Es thematisiert Eugenik und „Euthanasie“ im historischen Kontext.

Wir wünschen Ihnen eine gute und anregende Lektüre.

Ihre LaG-Redaktion

Beiträge

Zur Diskussion

Das Ende der Äre der Augenzeugenschaft, das Lernen mit digitalen Medien, die Porbleme der Mehrheit in der Einwanderungsgesellschaft und eine Renaissance der Totalitarismusdoktrin, gehören zu einigen Herausforderungen der Erinnerungskulturen 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

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Zur Diskussion

Der Aufsatz von Cornelia Siebeck fragt nach dem Zusammenhang  des Umgangs mt der NS-Vergangenheit in Deutschland und der nationalen Selbstvergewisserung anhand der Ausstellung ‚Zeitreise 1914-2014‘ und mittels Reden des Bundespräsidenten Joachim Gauck.

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Mittels der Begriffe Erinnern und Gedenken befasst sich Thomas Lutz in einer kritischen Perspektive mit der Entwicklung der Erinnerungskulturen hin zu ihrem heutigen Bestand. 

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Werner Dreier befasst sich mit dem Charakter und den Problemstellungen von NS-Gedenkstätten sowie ihrer gesellschaftsstabilisierenden Funktion aus einer österreichischen Perspektive.

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Zur Diskussion

Etienne Schinkel setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit unterschiedlichen Formen der Erinnerungs- und Schuldabwehr der deutschen Bevölkerung mach 1945 auseinander.

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Zur Diskussion

Der Autor kritisiert geschichtsrelativierende Eingriffe seitens der örtlichen Gemeindevertretung in die historische Ausstellung an der Kriegsgräberstätte am Waldfriedhof Halbe.

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Zur Diskussion

Einen organisierten Versuch der Umdeutung der NS-Vergangenheit in den 1950er- und 1960er-Jahren durch die „Kameradschaftshilfe ehemaliger Internierter und der Entnazifizierungsgeschädigten Landesverband Hessen e.V.“ greift Arne Jost auf.

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Zur Vertiefung

Helmut Krohne hat ein Zeitzeugengepräch mit Dorothy Bergmann geführt, die als Zwangsarbeiterin auf einem Todesmarsch in das KZ Bergen-Belsen kam.

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Empfehlung Film

Der Dokumentarfilm Night will fall beschreibt die Situation, auf die die alliierten Truppen bei der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager stießen. Das von alliierten Filmteams gedrehte, historische Material wird dabei ergänzt durch Interviews mit Überlebenden der Lager, den ehemaligen Angehörigen der alliierten Streitkräfte, den Filmemachern und Historiker/innen. Dadurch entsteht ein eindrückliches und zugleich verstörendes Bild von der Situation im besiegten Deutschland des Frühjahrs 1945. 

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Lernort

Anhand von zwölf Ländern widmet sich das Deutsche Historische Museum dem 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa. Es möchte den Umgang mit den erlittenen Traumata und Zerstörungen, aber auch mit Täterschaft und Kollaboration zeigen. Zudem soll „1945“ die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen veranschaulichen.

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In der Vortragsreihe „Ende/Anfang – Perspektiven auf 1945“ eröffnete das Hamburger Institut für Sozialforschung einen vielschichtigen und differenzierten Blick auf das JMehr

Empfehlung Fachdidaktik

Einen Überblick zum aktuellen Stand der Bildungsarbeit an den Orten nationalsozialistischer Verbrechen geben, zugleich als kritische Einführung in die Gedenkstättenpädagogik (GSP) und als methodisch-didaktische Handreichung dienen soll ein neuer Sammelband.

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Empfehlung Fachbuch

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