NS-Vergangenheit und nationale Selbstvergewisserung
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Von Cornelia Siebeck
Fungierte das Gedächtnis an die NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik jahrzehntelang immer auch als Ausgangspunkt für breite gesellschaftliche Debatten zu allerart Gegenwarts- und Zukunftsfragen, so scheint ihm diese Widerborstigkeit zwischenzeitlich abhanden gekommen zu sein. In den Gedenkjahren 2014/15 war jedenfalls zu beobachten, dass die NS-Vergangenheit zunehmend zum Zwecke der Affirmation der Gegenwart herangezogen wird.
Mit der Bundesregierung auf ‚Zeitreise‘
„Die Geschichte Deutschlands in den vergangenen hundert Jahren ist von Höhen und Tiefen, von Katastrophen und Glücksmomenten geprägt“, heißt es im Einleitungstext zu einer Ausstellung mit dem Titel ‚Zeitreise 1914-2014‘, die derzeit auf Initiative der Bundesregierung durchs Land tourt: „Die Schlaglichter, die die Zeitreise bietet, zeigen: Es ist eine äußerst positive Entwicklung, dass die dunklen Kapitel inzwischen der Vergangenheit angehören und wir heute in einem freien Europa in Frieden mit unseren Nachbarn leben.“
Die regierungsamtliche ‚Zeitreise‘ wurde zum 25. Jahrestag der ‚Friedlichen Revolution‘ konzipiert. Seither steht der der große graue Ausstellungscontainer zu allen möglichen historischen Anlässen im Raum: Vom Leipziger Lichtfest über das Mauerfalljubiläum und den Jahrestag der Stasi-Besetzung in Berlin bis hin zum Tag des Grundgesetzes in Bonn.
Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit, Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Friedliche Revolution, Wiedervereinigtes Deutschland – das sind die einzelnen Stationen. Jede Periode wird in wenigen Zeilen knapp porträtiert und mit zumeist wohlbekanntem historischen Foto- und Filmmaterial („Tor, Tor, Tor ...“, „Niemand hat die Absicht ...“ etc.) illustriert. In historisch günstigem Licht erscheint dabei allein die Bundesrepublik: Jenseits des ‚Linksterrorismus‘ scheint es hier seit 1949 keinerlei erwähnenswerten Problemlagen gegeben zu haben.
Die Arbeit an der positiven nationalen Meistererzählung
Abschließend preist die Ausstellung deutsche Gegenwart: „Heute ist Deutschland ein weltoffenes und respektiertes Mitglied der europäischen Staatenfamilie, das sich seiner Verantwortung in der globalisierten Welt bewusst ist.“In Gästebucheinträgen, die auf der Regierungswebsite zitiert werden, stößt diese Darstellung auf ungeteilte Zustimmung: „Ich bin dankbar, dass ich jetzt seit 25 Jahren in einem friedlichen und demokratischen Land leben darf“, ist dort zu lesen, oder: „Niemand stellt sich so kritisch seiner Geschichte wie Deutschland.“
70 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes und 25 Jahre nach dem Untergang der DDR wird in der Bundesrepublik stetig an einer positiven nationalen Meistererzählung gearbeitet. In geschichtspolitischen Verlautbarungen und Förderrichtlinien, in öffentlich finanzierten Ausstellungen und Konzepten für die historisch-politische Bildungsarbeit, in den Programmatiken aktueller Denkmal- und Gedenkstättenprojekte erscheint deutsche Geschichte zunehmend als erfolgreiche Überwindung totalitärer Vergangenheit: Ein langes Ringen um Freiheit, Demokratie und Einheit – reich an historischen Irrwegen und Opfern, aber mit Happy End.
Die NS-Vergangenheit als Antithese zu deutscher Gegenwart
Die NS-Vergangenheit nimmt in dieser Läuterungs- und Erfolgsgeschichte einen zentralen Platz ein. In der ‚Zeitreise 1914-2014‘ firmiert sie etwa als „dunkelste[s] Kapitel unserer Geschichte“. Wie dem eingangs zitierten Eröffnungstext zu entnehmen ist, zählt sie damit jedoch von vornherein zu den Kapiteln, die dank einer zwischenzeitlich ‚äußerst positiven Entwicklung‘ deutscher Geschichte als nachhaltig überwunden gelten können. Die NS-Vergangenheit wird damit zum konstitutiven Bestandteil einer positiven Nationalgeschichte; ihre Funktion besteht hier jedoch primär darin, eine Antithese zur deutschen Gegenwart zu bilden.
Diese Dichotomie durchzog auch zahlreiche Reden von Politikern und Politikerinnen zum 70. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Lager. „Und doch konnten wir nach den dunklen Nächten der Diktatur, nach Schuld und Scham und Reue ein taghelles Credo formulieren“, verkündete etwa Bundespräsident Joachim Gauck am 27. Januar im Rahmen der Gedenkstunde des Bundestages: „Wir taten es, als wir dem Recht seine Gültigkeit und seine Würde zurückgaben. Wir taten es, als wir Empathie mit den Opfern entwickelten. Und wir tun es heute, wenn wir uns jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenstellen und jenen, die vor Verfolgung, Krieg, und Terror zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt bieten.“
Auschwitz und die deutsche Identität
Ein weiterer Satz aus Gaucks Rede, die zweifellos auch als Ouvertüre zum Gedenkjahr 2015 angelegt war, wurde seither vielfach zustimmend zitiert: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Aufschlussreich ist allerdings, wie Gauck dieses Verhältnis konkret definierte: „[D]a ist ein Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig bleibt.“Das ist ein offensichtlich widersinniges Bild. Ein Bruch ist nur ein Bruch, solange er als solcher bestehen bleibt. Sobald er irgendwo ‚eingewebt‘ ist, kann er nicht mehr als Bruch gelten, sondern müsste als Naht- oder Flickstelle etikettiert werden.
Derartige Paradoxien im Sprechen über NS-Vergangenheit und deutsche Identität dürften der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit aber mittlerweile wohl vertraut sein: Der nationalsozialistische „Zivilisationsbruch“ wird im vereinten Deutschland seit jeher viel beschworen. Die NS-Vergangenheit ist zentraler Bestandteil des historisch-politischen Bildungskanons und wird in einer staatlich geförderten Gedenkstättenlandschaft eindrucksvoll repräsentiert. Zugleich wird dieser „Zivilisationsbruch“ jedoch mehr und mehr in eine nationale Meistererzählung eingebettet, die dessen ‚lebendiges‘ Irritationspotenzial effektiv einhegt.
Der Status Quo als alternativlose ‚Lehre aus der Geschichte‘
Mehrere Generationen von Gedächtnisaktivisten und -aktivistinnen, unterstützt von einer wachsenden kritischen Öffentlichkeit, haben sich nach 1945 dafür engagiert, das NS-Regime und seine Massenverbrechen als irreversiblen historischen Bruch zu etablieren; als einen beständigen Störfaktor, der kritische Fragen nicht nur an die Vergangenheit, sondern auch an eine jeweilige Gegenwart und Zukunft provoziert, und zwar immer wieder aufs Neue.
Diese Sinnfigur des fundamentalen Bruchs war in der Bundesrepublik ein wesentlicher Motor für allerart Emanzipations- und Demokratisierungsprozesse. In der neuen nationalen Meistererzählung wird das Motiv des Bruchs durchaus beibehalten, zugleich aber im doppelten Wortsinn aufgehoben: Das sogenannte Lernen aus der Vergangenheit wird für erfolgreich abgeschlossen erklärt, die deutsche Gegenwart als glückliches ‚Ende der Geschichte‘ präsentiert.
Mit einer kritischen historischen Selbst- und Gegenwartsreflexion, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft zumal in den gegenwärtigen Krisenzeiten angezeigt wäre, hat das nichts mehr zu tun. Hier geht es um nationale Identitätspolitik, und darum, den gesellschaftspolitischen Status Quo als alternativlose Lehre aus negativer Vergangenheit zu legitimieren.
Bemerkenswert ist dabei nicht nur, mit wie viel Eifer diese historische Sinnstiftung aktuell betrieben wird, sondern auch, dass dagegen kaum einmal noch Einspruch erhoben wird.
Quellen
Aktuelle Informationen zur ‚Zeitreise 1914-2014‘ finden sich unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/01/2015-01-06-zeitreise-1914-2014.html (1.9.2015).
Ausstellungstexte und Filmmaterial sind hier dokumentiert http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/2014-11-17-zeitreise.html (1.9.2015);
Gästebucheinträge sind hier zitiert http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/2014-11-17-zeitreise-gaestebuch.html (1.9.2015).
Die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zum ‚Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus‘ am 27.1.2015 findet sich unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundestag-Gedenken.html (1.9.15).
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- 22 Sep 2015 - 19:38