Susanne Thimm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt u.a. am Lehr- und Forschungsforum „Erziehung nach Auschwitz“ und freie Kuratorin. Sie arbeitet und forscht zu Bildung und Partizipation, sowie Erinnerungsprozessen im postnationalsozialistischen Deutschland.
von Susanne Thimm
Stephan Bundschuh/Ansgar Drücker/Judith Hilgers/Timo Voßberg/Eren Yıldırım Yetkin (Hrsg.): partizipativ erinnern. Praktiken, Forschung, Diskurse. Eine Bestandsaufnahme, Düsseldorf 2022.
Der Reader „partizipativ erinnern. Praktiken, Forschung, Diskurse – eine Bestandsaufnahme“ wurde von Stephan Bundschuh, Ansgar Drücker, Judith Hilgers, Timo Voßberg und Eren Yıldırım Yetkin herausgegeben. Er thematisiert in vier Teilen die Beteiligung junger Menschen an Erinnerungsprozessen – nicht nur im Kontext der Erinnerung an den Nationalsozialismus, sondern auch bezogen auf den Kolonialismus und die (post-)Migrationsgesellschaft. Dieser Blickwinkel greift die aktuellen Debatten um Erinnerungsprozesse auf und bildet somit einen guten Ausgangspunkt für interessierte Multiplikator*innen der Jugend- und Bildungsarbeit, für die der Reader konzipiert ist.
Im Zentrum steht die Gegenwärtigkeit vergangener Ereignisse mit Blick auf Gesellschaft, Wissenschaft und Bildungspraxis. Insbesondere die politische Dimension von Debatten um Geschichte und die Gegenwärtigkeit von Vergangenem wird von den Autor*innen einleitend erörtert und zum Ausgangspunkt der Broschüre gemacht. Weiter wird das Verständnis von Partizipation thematisiert und festgehalten, dass Partizipation eine „ernsthafte Beteiligung an Entscheidungen, Organisationsstrukturen oder Forschungsprozessen“ (S.7) meint, die Organisationen allerdings auch zulassen müssten.
Im ersten Teil wird der allgemeine gesellschaftliche Rahmen abgebildet, vor dessen Hintergrund Partizipation, Erinnerung und Jugendarbeit stattfinden. Astrid Messerschmidt führt hier grundlegend aus, dass der Begriff des Erinnerns als „gesellschaftstheoretische Kategorie“ verwendet werde, und sich als solche auf „kollektive Bezugnahmen auf Tat- und Leidenskomplexe der Vergangenheit, die in der Gegenwart nachwirken“, bezieht (S. 12). Messerschmidt stellt dies insbesondere für die nationalsozialistischen Verbrechen fest. Dieses Verständnis von Erinnern als gesellschaftstheoretische Kategorie trifft meiner Lesart nach ebenfalls auf die anderen Beiträge des Readers zu und bildet meines Erachtens das Grundverständnis der Herausgeber*innen in der Auseinandersetzung mit partizipativen Erinnerungsprozessen ab. Mit Blick auf die Rolle der pädagogischen Vermittlung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den verübten Verbrechen hält Messerschmidt fest: „Bildungsarbeit nach Auschwitz wird belanglos, wenn der Schauder über Grausamkeit und entgrenzte Gewalt den Zugang zum Thema bestimmt und der Eindruck vermittelt wird, die richtigen Lehren aus der Geschichte seien bereits gezogen und müssten von der jüngeren Generation nur noch nachvollzogen werden.“ (S.13) In dieser Aussage zeigt sich, wie zeitgemäß die Frage nach partizipativen Formaten in der historisch-politischen Bildung ist. Sie stützt die These der Herausgeber*innen, dass und wie z.B. die Ideologien des Nationalsozialismus und Kolonialismus und daran anknüpfende politische Praktiken nachwirken und Fragen nach „struktureller Einbindung in heutige Gewaltverhältnisse“ (S. 13) – wie Messerschmidt formuliert – aufwerfen. Damit wird Partizipation als Thematisierung verschiedener lebensweltlicher Bezugnahmen gesetzt, die gerade in Hinblick auf die Frage nach diverser Positionierung und Beteiligung an dem, was oft als „Erinnerungskultur“ bezeichnet wird, relevant werden. Auch die Frage nach und die Notwendigkeit von Selbstreflexion von Akteur*innen in der Erinnerungspädagogik stellt Messerschmidt heraus und hält mit Bezug auf die geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin fest, dass ein Erinnern, dass die Vergangenheit zum Gegenstand festgefügter Rituale mache, ein konformistisches Erinnern sei. Dabei solle es im Erinnern nicht darum gehen, die Erinnerung an den Holocaust zum Instrument nationaler Selbstvergewisserung zu machen (vgl. S. 15), sondern vielmehr als „Kritik an Gemeinschaftsvorstellungen“, in denen die Ideologie der Volksgemeinschaft und ihre rassistischen und antisemitischen Begründungen nachwirken“ (S. 15) zu verstehen. Das hieße auch, dass in den darin enthaltenen Momenten der Reflexion der gesellschaftlichen Fortwirkungen ebenso die Grundlage zur Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Formen von Rassismus und Antisemitismus, sowie anderen Diskriminierungsformen wie beispielsweise Queerfeindlichkeit in der Gegenwart liegen.
Im zweiten Artikel des ersten Teils beleuchtet Annette Hilscher die Implikationen dekolonialer partizipativer Praxis und Forschung. Damit wird der Blick von einer Erinnerung, die im deutschen Diskurs nach wie vor noch häufig und berechtigterweise eng mit dem Nationalsozialismus verknüpft ist, geweitet und Aspekte von (Post-)Kolonialismus und (Post-)Migration in die Bestandsaufnahme einbezogen. Hilscher thematisiert neben der Einordnung von Bestrebungen und Praktiken der Dekolonialisierung und den daran anschließenden Theoretiker*innen der Postkolonialen Theorie, wie z.B. W.E.B. Du Bois, inwiefern partizipative Forschungspraxis dazu beitragen kann, Rassismuskritik in den Forschungsprozess zu implementieren. Mit konkreten Beispielen aus der Praxis macht sie eindrucksvoll deutlich, dass dies oftmals ein ambivalentes Unterfangen ist, da partizipative Forschungssettings zwar dazu beitragen können, rassistische und koloniale Bilder nicht zu reproduzieren, ihnen aber oftmals die Möglichkeit fehlt, diese grundlegend aufzubrechen. Die von Hilscher gewählten Beispiele zeigen einleuchtend, wie partizipative Forschungspraxis dazu beitragen kann, dass Co-Forschende eigene Perspektiven auf z.B. die Geschichte der eigenen Community oder auf die Problematisierung von Selbst- und Fremdzuschreibungen einbringen können und daraus ein Forschen mit und nicht über eine bestimmte Gruppe entsteht. Und mehr noch: Sogar Fragestellungen und Prämissen von Forschung können entsprechend angepasst werden. Damit entsteht ein Beitrag zu partizipativerem Arbeiten, welches Möglichkeiten von Kritik an z.B. kolonialen Kontinuitäten und Rassismus eröffnet.
Das wird auch im letzten Beitrag des ersten Teils deutlich: In einem Interview mit Nesrin Unvar und Tobias Curtmann von der Bildungsinitiative Ferhat Unvar aus Hanau, dessen Titel den Bezug zur Relevanz der eigenen Perspektivität und Positioniertheit herausstellt: „Wir müssen uns selbst empowern, um es auch weitergeben zu können“. Im Gespräch wird deutlich, wie die eigene Betroffenheit genutzt wurde, um sich zu organisieren und einen Bildungsraum zu schaffen – in dem der rassistisch motivierte Anschlag von Hanau, bei dem 2020 ein Täter neun Personen und sich selbst tötete, nicht von externen Anbieter*innen politischer Bildung als Anlass für Bildungsarbeit genutzt wird, sondern die Mutter des getöteten Ferhat Unvar – Serpil Temiz Unvar – vor allem Freund*innen von Ferhat Unvar und seiner Familie einen Raum des Austauschs und der Organisation geboten und somit einen Ort der aktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Betroffenheit geschaffen hat. Im Zuge der Professionalisierung der Initiative werden z.B. auch Bildungsangebote konzipiert, die insbesondere von Schulklassen gut angenommen werden, weil durch die Thematisierung eigener Betroffenheit/en und Rassismuserfahrung/en eine andere Perspektive Einzug in die Klassenzimmer findet. Das Interview macht deutlich, wie politische Bildung und Partizipation zusammenfallen, aber auch, wie wenig beides von politischen Dimensionen zu lösen ist.
Daran anschließend werden im zweiten Teil des Readers Partizipation und Erinnerung als Themenfelder der Jugendarbeit in den Blick genommen. In insgesamt fünf Beiträgen werden verschiedene Projekte und Kontexte vorgestellt. Ansgar Drücker beleuchtet Erinnerungsarbeit im Kontext von Jugendverbandsarbeit, internationaler Jugendarbeit sowie außerschulischer Jugendbildung. Er gibt einen Überblick über verschiedene Formate und Organisationsformen, was einen guten Einstieg für die folgenden Praxisbeispiele bietet: Özge Erdoğan schreibt über Erinnerungsarbeit bei der Alevitischen Jugend, Anastassia Pletoukhina thematisiert in einer biografisch-analytischen Untersuchung das ehrenamtliche Engagement junger Jüdinnen:Juden in Deutschland. Und die Co-Forschenden im Projekt „„PEPiKUm“, Amina Courbier, Medea Courbier, Annela Kretschmer, Sophia Plato und Torben Pötter, befassen sich mit der Geschichte des Pfadfinder*innen-Stamms von Helfenstein in einem intergenerationalen Gruppengespräch. Außerdem wird das Projekt „PePiKUm“ von Projektmitarbeiter*innen vorgestellt.
Im dritten Teil der Broschüre werden partizipative Erinnerungspraktiken erneut aufgegriffen und konkrete Formate und Projekte vorgestellt. Autor*innen aus der pädagogischen Praxis und der kulturellen bzw. historisch-politischen Bildungsarbeit kommen zu Wort: Matthias Heyl, Anne von Oswald, Anne-Elisabeth Hampel, Stella Leder, Carla de Andrade Hurst, Elizaveta Khan, Evelyn Havia Jordán, Jan Stehle und Carolin Philipp. Alle thematisieren anhand von Praxisbeispielen die Rolle von Partizipation in der Erinnerungsarbeit – dabei geht es um den Nationalsozialismus, aber auch um Thematiken wie Flucht, Krieg, Jüdisches Leben, Kämpfe um Anerkennung und Globalität. Die Beispiele verdeutlichen, wie sich die eingangs in den Beiträgen von Astrid Messerschmidt, Annette Hilscher und Ansgar Drücker aufgeworfenen Themen in den jeweiligen Kontexten der pädagogischen Praxis niederschlagen. So zum Beispiel im Beitrag „Alles geht vorbei, außer der Vergangenheit“, welcher die Ausstellung RESIST!, die 2021/2022 im Rautenstrauch-Joest Museum in Köln zu sehen war, thematisiert, und anhand von Fragen antikolonialer Ausstellungspraxis und Partizipation besonders die künstlerischen Strategien der Ausstellung beleuchtet. Der Beitrag von Stella Leder wiederum zeigt am Beispiel des Dorfes Messingwerk (ein Ort, an dem mutmaßlich die erste Hachschara gegründet wurde), dass es eine wichtige Aufgabe künstlerischer Arbeit ist, Räume zu schaffen, die utopische Momente enthalten und durch daran anschließende Partizipationsmöglichkeiten Raum für jüdische Perspektiven und künstlerische Positionen zu bieten, die Leder als „empowernd“ (S. 70) beschreibt.
Im vierten Teil werden Materialien zur Erinnerungsarbeit in partizipativen Settings bereitgestellt – zusammengestellt von Lena Ehmer und Eren Yıldırım Yetkin. Diese umfassenden Tipps und Empfehlungen für Filme, Romane und weitere Handreichungen sind für die Adressat*innengruppe aus der Bildungsarbeit interessant, um eigene Projektideen zu konzipieren und wichtige Impulse für die eigene Arbeit zu bekommen.
Der Reader stellt nicht nur für Multiplikator*innen einen Gewinn und eine gelungene Zusammenstellung theoretischer Überlegungen und Problemaufrisse von Themen dar, die aktuell in der (historisch-)politischen Bildung diskutiert werden, wozu auch die Fortwirkungen von Nationalsozialismus und Kolonialismus und das Erinnern in einer pluralen Gesellschaft gehören, sondern bietet auch für den akademischen Diskurs relevante Impulse. Dabei sind insbesondere partizipative Forschungsmethoden im Rahmen von erinnerungspolitischen Kontexten als Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten für die eigene Arbeit weiterzudenken und zu reflektieren. Es ist als Bereicherung für alle im Feld Arbeitenden zu verstehen, dass das Projektteam auf diese Weise ihre Arbeit sichtbar macht und Reflexions- und Diskussionsgrundlagen für weitergehende Debatten anbietet.
Die Broschüre steht hier kostenlos zum Download zur Verfügung.