Ort/Bundesland: Hessen |
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Regine Gabriel Gedenkstätte Hadamar Mönchberg 8 65589 D-Hadamar Tel.: +49 (0) 6433 917 172 Fax: +49 (0) 6433 917 175 |
Die Gedenkstätte Hadamar, die sich auf dem Gelände des Zentrums für soziale Psychiatrie befindet, ist ein Ort der Erinnerung an ca. 15.000 Menschen, die im Rahmen der NS-Euthanasie-Verbrechen hier ermordet wurden. Zwischen 1941 und 1942 wurden geistig behinderte und psychisch kranke Menschen Opfer der NS-Rassenideologie, wonach Menschen zu „lebensunwertem Leben“ degradiert und ihnen somit ihr Menschsein abgesprochen wurde. Seit 1983 sind die authentischen Kellerräume mit den Überresten der Gaskammer, dem Sezierraum mit originalem Seziertisch und dem Standort der Krematorien als Gedenkstätte für Besucher/innen zugänglich. Der Friedhof, mit den Massengräbern der sogenannten 2. Euthanasie-Phase, wurde bereits 1963 in eine Gedenklandschaft umgewandelt. Heute können BesucherInnen sich zudem durch die Dauerausstellung ausführlich über das Thema informieren. 2006 kam als neues Ausstellungselement die ehemalige Busgarage hinzu.
„Kinder leben und lernen in der Gedenkstätte Hadamar“ lautet das Motto, unter dem seit 2002 Projekttage über Pfingsten für Kinder ab 9 Jahren angeboten werden. Nach dem kennen lernen der Ereignisse der NS-Euthanasie-Verbrechen in Hadamar am authentischen Ort am Beispiel von Kinderschicksalen, mit einer anschließenden kreativen Erarbeitungsphase steht am Ende des Erkenntnisprozesses ein „Produkt“, das als Element in die Ausstellung der Gedenkstätte integriert wird, wie z.B. 2003 die von den Teilnehmern erarbeiteten Gedenksteine aus Ytong auf dem Kinderfriedhof.
Für das Pfingstprojekt 2006 meldeten sich vier Mädchen und zwei Jungen im Alter zwischen 12 und 15 Jahren an, von denen fünf bereits an den vorangegangenen Veranstaltungen teilgenommen hatten. Wie bisher bei allen diesen Projekten unterstützten zwei ehrenamtliche Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte die Arbeit mit der Gruppe. Das diesjährige Projekt „Lebendige Bilder“ – ein Walk Act, fand in Kooperation mit der Spiel & TheaterWerkstatt Frankfurt statt. Ein szenisches Straßentheater, das von der
Improvisation lebt, sollte inszeniert werden. Zwei Bereiche der kreativen Auseinandersetzung mit dem Thema NS-Euthanasie-Verbrechen wurden miteinander verbunden.
Zum einen beschäftigten wir uns mit einer kleinen Auswahl Bilder von John Elsas. Im Alter von 79 Jahren begann John Elsas 1930 Bilder zu kreieren und mit Versen zu versehen. Bis zu seinem Tod 1935 entstanden 25.000 außergewöhnliche Kunstwerke, die alltägliche Szenen zeigen, die aber im Verlauf der Jahre immer politischer wurden. Die von ihm praktizierte Collagentechnik und die Knittelverse („Meine Bilder werden immer wilder“), die seinen Bildern so viel Witz und Spitzfindigkeit geben, sollten die Grundlage für die Gestaltung eigener Bilder sein.
Zunächst wurden Beispiele der Bilder von John Elsas aus dem Katalog der Ausstellung 2001 in Frankfurt am Main betrachtet und interpretiert. Die Bilder, die die Kinder dadurch angeregt erarbeiteten, dienten als Grundlage für die Inszenierung von „Lebendigen Bildern“, die in der Öffentlichkeit präsentiert werden sollten. Natürlich hofften wir, dass unsere Aktionen auf Neugierde und Interesse bei den Menschen auf der Straße treffen würden. Wir rechneten aber auch mit Abneigung und Intoleranz. Daher war es notwendig, die Jugendlichen besonders gut auf diesen „Walk Act“ vorzubereiten.
Aus diesen Überlegungen ergaben sich folgende Lernziele: Die Kinder/Jugendlichen sollen
Die so erstellten Bilder dienten dann der inhaltlichen und gestalterischen Vorlage für eine spiel- und theaterpädagogische Inszenierung, die ihren Höhepunkt in der Präsentation als „Walk Act“ in der Öffentlichkeit hatte.
Die relativ kleine Gruppe von sechs Jugendlichen zeichnete sich durch eine enorme soziale Kompetenz, Toleranz und Freude auf die gemeinsam zu bewältigende Aufgabe aus. Wir begannen mit einer spielerischen Vorstellungsrunde, um einander besser kennen zu lernen. Danach gab es ein Warm up, um ins Spielen zu kommen: Partnerübungen mit und ohne Musik zur Stärkung der Selbst-, Fremd- und Raumwahrnehmung.
Anschließend fand ein kurzer Informationsgang durch die Ausstellung statt. Er diente dazu, den Ort, an dem wir uns befinden, ins Gedächtnis zu rufen, und diejenigen, die zum ersten Mal an dem Projekt teilnahmen, über die Euthanasie-Verbrechen in Hadamar zu informieren. Am Abend beschäftigten wir uns mit John Elsas und seinen Bildern. Zunächst gab es einige Informationen über den Künstler. Nachdem alle die Bilder angeschaut hatten, wählte jede/r sich ein Bild aus, was ihr/ihm besonders gefiel. Danach bildeten wir zwei Gruppen. Jede Gruppe sollte den Bildern eine Reihenfolge geben und ein Standbild aus den Motiven entwickeln.
Durch das vorherige Warm up und der Tatsache, dass fast alle der Teilnehmenden inzwischen mit spiel- und theaterpädagogischen Methoden vertraut sind, kam es äußerst schnell zu aussagefähigen ersten Standbildern. Wir beendeten die erste Arbeitsphase mit einer Entspannungsübung und zwei Pantomimenspielen.
Am Samstagmorgen fand ein Gang zum Friedhof statt. Jedes Kind legte eine Rose auf einen der Gedenksteine bei den Kindergräbern. Nach der Einstimmung in den neuen Projekttag sammelten wir Ideen und Assoziationen zum Komplex Euthanasie-Verbrechen, zu aktuellen Themen und Gegenwartsbezügen im weitesten Sinne. Dazu gehörten auch Presseberichte aus der Frankfurter Rundschau vom Februar 2006 zu verschiedenen Themen wie z.B. „Krankenmorde“ und „Spätabtreibungen von behinderten Kindern“ sowie rechts-extremistische Überfälle auf nichtdeutsche Mitbürger/innen.
Die Jugendlichen sprachen folgende Stichpunkte an:
Aus diesem Ideenfundus konnte sich jede/r einen Bereich auswählen, um ihn in Anlehnung an die Collagentechnik von John Elsas zu gestalten und mit einem Reim zu versehen. Neben diesem thematischen Bild, konnte jede/r ein freies Bild herstellen und zu seinen Bildern beispielsweise eigene Knittelverse verfassen.
Nach der Mittagspause begannen wir mit den Vorübungen auf den „Walk Act“. Daraus entstanden Standbilder. Danach bildeten sich zwei Gruppen, die vorherigen PartnerInnen standen sich jeweils gegenüber, um die Körperhaltung der/des anderen zu spiegeln. So entstanden neue Standbilder zu Begriffen wie: Macht, Ohnmacht, Stark, Schwach, Satt, Hungrig, Freude, Ärger. Als letztes wurde mit leeren Bilderrahmen gespielt und die eigenen Knittelverse dazu eingebracht. Ein großer Kieferrahmen diente als Spielelement und sollte das Thema „lebendige Bilder“ für die Spieler/innen und die Zuschauenden sichtbar machen.
Es war sehr faszinierend zu sehen, mit welcher Intensität und Ernsthaftigkeit die Kinder mitmachten, ohne dabei den Spaß an diesem Tun zu verlieren. Es gelang den Spielenden immer wieder, sich auch aufeinander zu beziehen. So entstanden feste Strukturen, die für die Kinder sehr wichtig waren, um ihnen Sicherheit zu geben. Z.B. entwickelten sie einen Formation und Regeln, nach denen sie entschieden, wie und wann sie ihr Spiel beginnen wollten. Um ihnen Sicherheit über die Länge ihrer Spielszenen zu geben, führten wir ein, dass ich laut klatschen würde, wenn eine Szene ausgereizt erschien.
Am Nachmittag fand ein erster Gang in die Öffentlichkeit von Hadamar statt. Durch schwarze Bekleidung und helle Kiefernholzrahmen erregten wir Aufmerksamkeit. Zu Beginn fiel es den Kindern noch schwer, mitten in der Fußgängerzone vor einem Eiscafé stehen zu bleiben und zu spielen. Doch mit jeder neuen Station wurden sie mutiger und einfallsreicher. Anfangs spielte ich noch mit, doch im Verlauf konnte ich mich auf die Regie zurückziehen. Gänge durch zwei Supermärkte, wo es dann auch deutlich mehr Publikum gab als in der Stadt selbst, waren erste kleine Höhepunkte.
Am Sonntagmorgen wurden die wichtigsten Punkte für den „Walk Act“ zusammengetragen:
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entwickelten die Szenen des Vortags erneut und fanden zu einer außergewöhnlich klaren und eindrücklichen Bildersprache, die sehr gut strukturiert war. Am Ende der intensiven Vorbereitung für den „Walk Act“ in Limburg fand die Gruppe neben der Formation noch zu einem weiteren Bild, mit dem sie immer ihre Aktion beginnen wollten: Alle stehen mit dem Rücken zueinander im Kreis, halten ihre Rahmen vor das Gesicht und sagen im Chor: „Wenn die Menschen lachen, ein schönes Gesicht sie machen.“ Dies diente dann als Einstieg in ein offenes Spiel. Die Formation dagegen war der Beginn eines inhaltlichen Spiels.
Der „Walk Act“ im Zentrum Limburgs, der benachbarten Kreisstadt, ließ sich nicht einfach an. Zunächst fanden die Spielerinnen und Spieler es sehr schwierig, überhaupt die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gelang dies dann doch, gab es teilweise sehr abwertende Aussagen von Passanten. Die Spieler/innen sollten nicht mit den Passanten diskutieren. Daher verteilte eine der TeamerInnen ein Informationsblatt, in dem über unsere Aktion informiert wurde. Auffällig war auch, dass unsere Informationszettel immer
wieder dazu führten, dass Leute ganz schnell weitergingen, nachdem sie realisiert hatten, die Gedenkstätte Hadamar ist „auf der Straße“. Wir hatten verabredet, dass die Kinder alleine spielen sollten, unterstützt durch kleinere Interventionen zum Spielverlauf, wie z.B. Klatschen wenn eine Spielszene ausgereizt schien und beendet werden sollte.
Es stellte sich aber heraus, dass die Aufmerksamkeit der Passanten stärker auf uns gelenkt wurde, wenn ich mitspielte. Offenbar wurden wir erst ernst genommen, nachdem eine Erwachsene mit im Spiel war. Nach 1 ½ Stunden beendeten wir den Walk Act.
Am Abend organisierten wir eine sehr gelungene Premierenfeier. Am Montagmorgen gab es für alle Teilnehmer/innen das Angebot, die Kellerräume mit der ehemaligen Gaskammer, dem Sezierraum, dem Standort der Krematorien zu begehen. Dieses Angebot findet immer erst gegen Ende der Projekttage statt und ist immer absolut freiwillig. Mit Ausnahme eines Mädchens, das schon häufig in der Gedenkstätte war, nahmen die Kinder das Angebot an. Sie gingen äußerst aufmerksam und ruhig durch den Keller. Meine Erläuterungen waren sehr sparsam, da vieles von den jungen Jugendlichen selber erinnert und ergänzt wurde. Danach fand eine ausführliche Auswertung des Gesamtprojektes statt. Anschließend organisierten wir die Sonderausstellung mit den Bildern und Texten von John Elsas und den Kindern, sowie einigen Fotos vom Walk Act. Es ist inzwischen Tradition als gemeinsamen Abschluss der Projekttage den abholenden Eltern unsere Arbeit – hier die Sonderausstellung – vorzustellen.
Eine Gruppe mit nur sechs Teilnehmenden ist ein Risiko. In der Rückschau kann ich sagen, dass es mit dieser Gruppe kein Problem war. Die Kinder und Jugendlichen haben sich in einer ungemein engagierten, motivierten Weise auf hartes Arbeiten eingelassen. Die Tatsache, dass sich fünf der sechs Teilnehmenden seit längerem aus den vorangegangen Pfingstprojekten kannten, vereinfachte den Umgang sehr. Darüber hinaus wurde deutlich, dass sie inzwischen viele Formen des theaterpädagogischen Zugangs kannten und sofort einsteigen konnten. Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, mit welcher Ausdauer Kinder und Jugendliche in diesem Alter in der Lage sind konzentriert zu arbeiten, wenn sie u.a. auch mit anderen Methoden angeleitet werden. Diese Erfahrung steht diametral zur Schulerfahrung.
Es hat sich als besonders gut erwiesen, zwei Ebenen des Arbeitens zu verknüpfen. Zum einen die gestalterische Form mit dem Herstellen der Bilder und Texte und zum anderen die theaterpädagogische Form durch den „Walk Act“. Die Erfahrungen mit den Passanten in Limburg waren zwar schwierig, aber nicht uninteressant. Ich vermute, dass wir in größeren Städten wie Frankfurt oder Darmstadt auf deutlich mehr positive Resonanz gestoßen wären. Daher denke ich auch, es müssten noch zwei, drei vergleichbare Projekte stattfinden an anderen Orten, um zu entscheiden, ob das Medium „Walk Act“ für so schwierige Themen. wie wir sie bearbeitet haben, tauglich ist, oder anders gefragt, ob kleinere Orte wie Hadamar bzw. Limburg geeignete Spielorte sind. Vielleicht sind größere Städte offener für derartige Aktionen. Sicher kann ich sagen, dass die Gruppe noch etwas mehr Zeit gebraucht hätte, um ihre Unsicherheit in der Öffentlichkeit zu überwinden. Vor allem ein Junge hatte große Sorge, dass ihn jemand auf der Straße erkennen könnte.
Die Überlegung meinerseits, zunächst nicht mitzuspielen, hatte den Grund, die Gruppe selbständig ihre Szenen und Ideen umsetzen zu lassen. Denn in dem Augenblick, indem ich mit einstieg, waren alle doch stark auf mich und mein Spiel fixiert. Aber vielleicht ist das zu Beginn einer solchen Arbeit auch notwendig, um Sicherheit im eigenen Tun zu erlangen. Das Ausprobieren mit dem ganzen Körper, nonverbale Reaktionsweisen überzeugend einzusetzen, zu verändern und ihre Wirkung auf Zuschauende hin wahrzunehmen, lässt Lernprozesse in Gang kommen, die den eigenen Horizont des Denkens und Fühlens erweitern. Die Vorstellung Augusto Boals, der dem Statuentheater die Chance zuspricht, aus einer Situation/einem Bild das Hier und Jetzt darzustellen und so zu verändern, dass ein Idealbild entsteht, wurde im Spiel der Kinder und Jugendlichen in Ansätzen sichtbar. Natürlich sollte dies mit nur einem derartigen Projekt nicht überbewertet werden, doch beweisen diese Formen der Erarbeitung eines emotional geladenen Themas wie das des Nationalsozialismus, dass Varianten zum herkömmlichen Lernen möglich und produktiv sind.