Dr. Harald Engler ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte und Archiv am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner. Seine Forschung konzentriert sich auf die europäische Stadt- und Urbanisierungsgeschichte des 20. Jahrhunderts sowie die Planungs- und Baugeschichte der DDR. Zuletzt veröffentlichte er Der Flughafen Tempelhof (2023) und trug zum Sammelband Bauen und Planen im Nationalsozialismus (2023) bei.
LaG: Lieber Herr Engler, über den öffentlichen Straßenraum verhandelten immer schon verschiedene Interessent*innen: Stadt, Staat und Individuen, konkret Menschen, die Autofahren und andere, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind. Auch heute wird intensiv über den Ausbau vor allem städtischer Verkehrswege diskutiert. Lassen Sie uns einen Blick zurückwerfen auf die Entstehung der autogerechten Stadt und die Entwicklung der Proteste gegen die „Auto-Stadt“ in der Bundesrepublik und der DDR. Ab wann geriet die Utopie des Individualverkehrs und der autogerechten Stadt in die Kritik?
Harald Engler: Die autogerechte Stadt wird in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt, da entsteht etwa die Berliner Stadtautobahn relativ schnell mit riesigen Schneisen. Auch die Kritik beginnt erstaunlicherweise schon in den 1960er Jahren und nimmt dann in den 1970er Jahren zu. 1972 veröffentlichte Hans Dollinger, ein Münchner Publizist, das Buch Die totale Autogesellschaft und kritisierte damals bereits die Folgen und Auswüchse dieser Entwicklung. In München, Stuttgart, Bielefeld und später in West-Berlin gründeten sich die ersten Bürgerinitiativen, die manchmal sehr punktuell gegen bestimmte Straßen kämpften.
Bis heute gibt es diese Kritik und die überwiegende Mehrheit der Stadtplaner ist der Meinung, dass eine autogerechte Stadt kein gutes Muster für eine urbane Entwicklung ist. Aber trotzdem steigen bis heute die Zahlen von Autozulassungen stetig an. Das heißt, die autogerechte Stadtplanung hat gar nicht aufgehört, sondern wird vielerorts trotz der Kritik fortgesetzt oder vielmehr weiter ausgebaut.
LaG:Was waren Gründe der Bürger*innen, gegen den Ausbau einer autogerechten Stadt zu protestieren?
Harald Engler: Es ging insgesamt um die Frage: Wie wird eigentlich der Stadtraum aufgeteilt? Raum ist immer eine beschränkte Ressource in der Stadt. Der erste Grund des Protests war die defizitäre Urbanität. Das Verhältnis von Grün- und Erholungsflächen, Wohnungsbebauung und Verkehrsflächen war nicht ausgeglichen. Zugleich nahm die Zahl der Autos und die Straßenflächen immer stärker zu.
Zweitens spielten Luftverschmutzung sowie Lärm, also Umweltfragen und Klimaschäden eine Rolle. Das war in den 1970er Jahren ein großes Problem, weil es kaum Katalysatoren gab und dies gerade an den Ausfallstraßen gravierende Gesundheitsprobleme verursachen konnte. Auch Grünräume wurden zerstört, indem man Grünflächen umgewidmet hat in Straßenraum. Drittens waren natürlich auch Unfalltote, früher ohne Sicherheitsgurt noch mehr, und aggressives Verhalten im Straßenraum ein Grund. Viertens lösten die hohen Kosten für den Straßenbau Kritik aus. Nicht zuletzt waren die vielen Staus ein Ärgernis. Es gibt Bilder aus den 1960er und 1970er Jahren, die zeigen, wie die Städte vor allem in den Geschäftszentren voller Staus waren, vor Weihnachten zum Beispiel.
LaG: Was war jeweils spezifisch am Protest gegen die autogerechte Stadt in der Bundesrepublik und der DDR?
Harald Engler: Für die Bundesrepublik und für West-Berlin kann man sagen, dass es deutlich bessere Rahmenbedingungen gab für Protest gegen die autogerechte Stadt. So konnte man einfach eine Bürgerinitiative gründen. Auch existierten in der Bundesrepublik viel bessere Mobilisierungsmöglichkeiten über Medien. Das Verwaltungsgerichtsverfahren bot die Möglichkeit, als Bürger oder als Bürgerinitiative vor Gericht zu gehen und Verwaltungs- und Planungsprozesse infrage zu stellen und zu stoppen.
In der DDR konnte man zwar Eingaben schreiben, aber das war eher kleinteilig und nicht mit Öffentlichkeit verbunden. Auch die Vernetzung war bereits dadurch erschwert, dass nicht jeder ein Telefon hatte. Umso bemerkenswerter ist es, dass es in der DDR überhaupt Initiativen gab, weil es schwieriger war, sie zu gründen und mit mehr Sanktionen verbunden.
LaG: Welche Akteure protestierten gegen die autogerechte Stadt in der DDR?
Harald Engler: Akteure des Protests waren zum Beispiel in der DDR das Kirchliche Forschungsheim in Wittenberg, geleitet von Hans-Peter Gensichen. Der organisierte eine Kampagne, vor allem mit Menschen aus der Kirche, die ziemlich erfolgreich war: Mobil ohne Auto, es gab auch einen Aufkleber mit dem Slogan. Diese Gruppe hat relativ früh in den 1980er Jahren dafür plädiert, sich ohne Auto fortzubewegen. In Ost-Berlin gab es die Umweltbibliothek im Keller des Gemeindehauses der Zionskirche und bei der evangelischen Stadtgemeinde eine Arbeitsgruppe Ökologie, die sich intensiv mit den autogerechten Stadtplanungsaktivitäten des Magistrats beschäftigt hat.
Erfolgreiche Einschränkungen beim Ausbau einer autogerechten Stadt in der DDR hatten jedoch andere Gründe: So scheiterte der Versuch, eine vierspurige Schnellstraße durch den jüdischen Friedhof in Weißensee zu bauen, an Protesten aus West-Berlin und dem Ausland. Und eine geplanten Hochstraße um den Alexanderplatz wurde nicht errichtet, da es Probleme bei der internen Genehmigung durch die Verwaltung – die Bauplanungsbehörden und Bauakademie – gab.
LaG: Gab es Bürgerinitiativen in der DDR, die sich gegen die autogerechte Stadt richteten?
Harald Engler: Eine Erfahrung aus Erfurt zeigt, dass es auch in der DDR möglich war, mit Bürgerinitiativen etwas zu bewegen. In Erfurt wollte der Stadtrat in den 1980er Jahren eine große Schnellstraße durch das historische Andreasviertel bauen lassen. Erfurt sollte einen Ring erhalten, wo man schnell um den Stadtkern herumfahren könnte. Eine Bürgerinitiative, wieder unter dem Dach der Kirche, mit circa 60 bis 100 Mitgliedern, kritisierte dies. Sie zeigte in Kirchen eine Ausstellung unter dem Titel „Verkehrsgerechte Stadt – Stadtgerechter Verkehr“. Es gab sehr große Resonanz, es kamen mehr als 10.000 Besucher*innen. Das Interessante ist, dass die Stasi das natürlich überwachte, aber nicht eingegriffen hat.
Die Initiative hat es geschafft, dass die SED und die Planer der Stadt Erfurt sich auf Gespräche im Rathaus einlassen mussten. Es gab einen Planungs-Pavillon in der Nähe des Andreasviertels und immer am Sonntag Gespräche, wo man mit der Verwaltung ins Gespräch kam und verhandelt hat: Was wollen wir eigentlich, wir Bürger*innen? Und das ist natürlich etwas sehr Ungewöhnliches, weil eigentlich hat die SED sich so etwas nicht aus der Hand nehmen lassen. Hier war sie dazu gezwungen. Diese Schnellstraße ist auch nicht realisiert worden. Natürlich auch, weil die Wende kam, aber ebenfalls, weil eine Bürgerinitiative dies verhindert hat. Heute ist das Andreasviertel restauriert und eines der interessantesten und schönsten Viertel von Erfurt.
LaG: Prominent in West-Berlin war der Protest der Bürgerinitiative Westtangente. Was war hier der Anlass und welche Protestformen haben sie entwickelt?
Harald Engler: Anlass für die Gründung der Bürgerinitiative Westtangente war zunächst die Zerstörung eines Spielplatzes, einer Grünfläche, in der Cheruskerstraße in Schöneberg. Dort sollte die sogenannte Westtangente durchgeführt werden, eine Autobahn quer durch das Stadtzentrum, durch Steglitz, Schöneberg, Tiergarten, Moabit und Reinickendorf. Die Protestmaßnahmen der Bürgerinitiative gegen den Bau dieser Westtangente waren sehr zahlreich und sehr vielfältig.
Die Initiative hat zum Beispiel während der Berliner Bauwochen alternative Stadtrundfahrten angeboten: Sie hat einfach einen Bus zwischen die anderen Senatsbusse geschoben, welche die Baustellen abfuhren, und alternative Geschichten präsentiert. Da saßen dann aus Versehen auch Senatsvertreter drin und das hat natürlich für viel Aufregung gesorgt. Auch hat die Bürgerinitiative auf dem geplanten Autobahnkreuz ein Picknick veranstaltet oder Senatsveranstaltungen unterbrochen, mit Go-ins mit Pauken und Trompeten.
Darüber hinaus haben sie sich mit Veröffentlichungen zu Wort gemeldet, wie 1976 mit dem Buch Stadtautobahnen. Ein Schwarzbuch zur Verkehrsplanung, und mit Plakaten zu Tempo 30- Zonen. Die Initiative war sehr gut vernetzt, mit anderen Initiativen in anderen Städten und schloss sich später im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) zusammen. In der Demokratie muss eben immer ausgehandelt werden, und wenn man nicht sichtbar und hörbar wird, hat man auch keine Erfolge. Bis heute mischt sich die Bürgerinitiative Westtangente im Übrigen in Planungen ein und ist weiterhin aktiv.
LaG: Was bewirkte die Bürgerinitiative Westtangente und wie prägte sie den Protest?
Harald Engler: Der Bürgerinitiative Westtangente ist es zunächst einmal gelungen, das über Stadtplanung breiter und kritisch reflektiert wurde, etwa auch, indem in den Medien darüber berichtet wurde.
Ein konkreter wichtiger Schritt zum Erfolg war, dass die Initiative Normenkontrollklagen einreichen konnte. Im Verwaltungsstaat ist es immer das beste Instrument bzw. der beste Weg, über Verwaltungsvorgänge Planungsvorgänge in Frage zu stellen. Das ist ihnen gelungen, denn die Richter haben in ihrem Urteil 1978, vier Jahre nach der Gründung der Initiative, Veränderungen bei der Planung der Westtangente gefordert. Entscheidender war aber, dass das Klima dann so weit gediehen war, dass der neue Senat unter Hans-Jochen Vogel 1981 auf die Westtangente verzichtet hat. Zwar ist der Tiergartentunnel, der 2006 fertig wurde, noch ein Fragment der Westtangente, das realisiert wurde, aber die große Westtangente, wie sie geplant war, kam nicht. Daher ist dies ein Beispiel für eine Bürgerinitiative, die extrem erfolgreich war, auch durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit.
LaG: Waren solche Bürgerinitiativen Vorbild für neue Formen der Aushandlung um die Gestaltung des Straßenraums?
Harald Engler: Die Bürgerinitiativen waren schon ein Vorbild für viele andere Initiativen und zugleich ein typisches Beispiel für die Neuen Sozialen Bewegungen, die sich in dieser Zeit formierten. Es war auf jeden Fall ein Moment, in dem Menschen gemerkt haben, dass sie in ihrem Wohnumfeld durchaus etwas bewegen können, hier etwa im Bereich Verkehr. Auch in der DDR war das so – in kleinerem Maßstab. Ich denke, die Friedensbewegung und die Umweltbewegung in der DDR waren stärker, aber es gab eben auch im Verkehrsbereich einige Gruppen, die tätig wurden.
Man kann allerdings nicht sagen, dass es eine Erfolgsgeschichte von Bürgerbewegungen gibt, welche die Verkehrsplanung umfassend verändert haben. Es gibt vielmehr Teilerfolge mit Höhepunkten in den 1970er und 1980er Jahren. Aber wir können nicht von einer linearen Erfolgsgeschichte sprechen. Die autogerechte Stadt kam und ging und erlebt heute wieder einen starken Zuspruch, etwa wenn wir an die Planung der A100 im Südosten Berlins denken.