Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Ein zwei Stockwerke hoher Kubus, eher ein Baugerüst, umwickelt mit leichten weißen Stoffbahnen, die am Fuß des Gebildes dichter werden. Am Abend leuchtet das Gebilde von innen. Es könnte eine Ankündigung für ein Neubauprojekt sein, der Beginn einer Baumaßnahme. Aber es erscheint auf prominenten Plätzen in Europa, Menschen nähern sich, erkunden die Informationen, die sich auf der unteren Ebene des Gerüstes sowohl außen als auch im Inneren befinden. Kommen sie näher, so entdecken sie die Möglichkeit, hinter die Oberfläche zu schauen, Klappen zu öffnen, Filme auf Monitoren zu betrachten. Was ist das?
Die Freiluft-Ausstellung „After the Great War. A New Europe 1918-1923“ ist ein Projekt, das sowohl pädagogische als auch politische Ziele verfolgt. Der Begriff „Neues Europa“ wurde vom Gründungsvater der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk, geprägt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Bemühungen um die Konsolidierung der europäischen Einigung ist das eine programmatische Position. Aus historischer Sicht ist der Begriff nicht selbstevident. Es sind die Landschaften, die von Finnland, Russland, dem Osmanischen Reich und dem Deutschen Reich begrenzt wurden. Sie waren die prägenden Gebiete der Kultur des alten Europa, ergänzt allerdings um die süd-, west-, nord- und osteuropäischen Kulturlandschaften. Der Begriff soll also die politische und nicht die kulturelle Topographie bezeichnen.
Nicht zufällig waren diese Landschaften seit Jahrhunderten von blühender Vielfalt der Sprachen, Religionen und kultureller Produktivität geprägt. Ein leuchtendes Beispiel ist die Stadt Lemberg, in der sich die Wege aus dem osmanischen Reich nach Polen mit denen aus Russland nach Österreich kreuzten, sie kann als Kraftzentrum europäischer Geistesgeschichte gelten. Was wir heute als neue Heterogenität in Europa erfahren – und was manche Europäer*innen mit Befremden betrachten – erweist sich beim Blick in diese Landschaften als Wesensbestand europäischer Kultur, dessen ausgeprägteste Gruppe die Juden*Jüdinnen waren, von denen sich viele aus ihrer rechtlosen Situation im Zug der Aufklärung zu einer gestaltenden Kraft der Moderne hocharbeiteten. Dass ihre Sprache, das Jiddisch, auf der eindrucksvollen Karte der europäischen Sprachen (S.32) fehlt, ist daher mehr als ein Fehler.
Was war also neu in den Jahren 1918-1923? Was ist die Erzählung dieser Ausstellung, die nicht nur die Erfolge der Nationalbewegungen vorstellt, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Gründung neuer Staaten feiern konnten? Sie will Fragen aufwerfen: “Was it possible to avoid what was to come, among others, the economic crisis and the rise of authoritarian and totalitarian regimes? If so, what should have been done differently? Can we identify the mistakes that were made then and where we stand after 100 years? Which ‚old‘ questions still move us today?“ (Katalog, S. 10) Die Suche nach Themen., die uns heute bewegen, ist eine zentrale Aufgabe der historisch-politischen Bildung. Bevor sie gestellt wird, wäre zu klären, wer das Kollektiv ist, das diese Fragen stellt oder beantwortet. Diese Klärung ist nicht Thema der Ausstellung, die im Duktus der objektiven Information erzählt. Hier muss ich einschränken, dass ich leider nicht die Ausstellung, sondern nur den Katalog und die auf der Website https://enrs.eu/afterthegreatwar zugänglichen Informationen nutzen konnte. Die Nationalstaaten haben dieses „Wir“ erst erzeugt, die Geschichte der nationalen Homogenisierungen, die in der Ausstellung an vielen Beispielen erzählt wird, dieses zentrale Übel des 20. Jahrhunderts, wird in seiner Gewaltförmigkeit in verschiedenen Varianten deutlich.
Die Ausstellung ist nach Themen gegliedert und bemüht sich, diese jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Diese Perspektiven sind zum einen die der neuen Nationalstaaten, zum anderen die der Minderheiten, die keinen eigenen Staat erkämpft hatten – oder sich nicht darum bemühten. Dieses Konzept hat den Vorteil, die Perspektiven deutlich zu zeigen und auch den Interessen der heutigen Staaten entgegen zu kommen. Sein Nachteil ist, dass die Formung dieser Staaten sozusagen ex post als Notwendigkeit erscheint, selbst wenn das in den Texten der Ausstellung teilweise relativiert wird.
Die Ausstellung nutzt sehr viele visuelle Materialien, sowohl historische Fotos und Graphiken, als auch visualisierte Statistiken und Karten. Weiter gibt es historisches Filmmaterial und erläuternde Texte in Englisch und der jeweiligen Landessprache. Die Darstellung ist bereits im Katalog auf das Notwendigste reduziert und nutzt die Bildebene als Möglichkeit für die Vermittlung von Informationen und zugleich von Emotionen und Grundstimmungen. Soweit das aus den Abbildungen im Netz erkennbar ist, verstärkt die Ausstellung dieses Verfahren.
Welche Botschaften transportieren die Bilder? Ein erstes Beispiel: Das Thema Armenien-Genozid folgt auf die Darstellung von Verbrechen gegen Zivilist*innen während des Krieges. Dann zeigt ein Großfoto geflüchtete Pol*innen, ein Text bemüht sich um eine vorsichtige Formulierung zum Genozid an der armenischen Bevölkerung, verbunden mit einem kleinen Portraitfoto von Armin T. Wegner. Das nächste Element ist ein großes doppelseitiges Foto, das zugleich optisch die Verträge von Brest-Litovsk und Bukarest kommentiert. Es zeigt armenische Flüchtlinge an der Küste (vermutlich Antiocha). So erhält das Thema auf der Bildebene ein großes Gewicht, ohne auf den erinnerungspolitischen Konflikt Bezug zu nehmen (S. 56 und 58/59). Das ist eine diplomatische Entscheidung, die wenig informierte Besucher*innen allerdings nicht mit Informationen über den erinnerungspolitischen Gehalt dieser Ereignisse versorgt.
Die Thematik der „ethnischen Säuberung“ wird im Kontext der militärischen Kriege in Folge der Pariser Friedensverhandlungen und der dort beschlossenen Grenzziehungen wieder aufgegriffen. Ein Großfoto ruft aktuelle Assoziationen auf: Bootsflüchtlinge auf Schiffen (S. 126/127) Im Text wird der Bevölkerungsaustausch (population exchange) zwischen Griechenland und der Türkei 1923 beschrieben. Dabei wird von Religionszugehörigkeiten (orthodox und muslimisch), nicht von Nationalität gesprochen. Ein britischer Beobachter beschreibt das Schicksal der Menschen in Smyrna (S. 128). Dazu zeigt die Ausstellung ein Foto von Flüchtlingen im Hafen von Smyrna. Das Schicksal der griechischen Flüchtlinge wird durch diese Kombination von Ego-Dokument und zwei sehr eindrucksvollen Bildern empathisch behandelt. Eine Beschreibung des Schicksals der muslimischen Deportierten fehlt.
Das Kapitel über Revolutionen beginnt mit „Reasons for Unrest“ (S. 67). Soziale Revolten und nationalistische Aufstände werden ohne Unterscheidung als Folge der Leiden des Krieges dargestellt. „A groundswell of support for extremism from the political ‘Right’ and ‘Left…“. Das nimmt den Ereignissen ihre je spezifische politische Dimension. Die Suche nach einer neuen Ordnung wird nicht auf die politischen Entwürfe und Auseinandersetzungen der Vorkriegszeit bezogen. Das wird bei der Darstellung der russischen bzw. sowjetischen Geschichte besonders deutlich. Die Revolution erscheint lediglich als destabilisierendes Ereignis, der Text betont die deutsche Rolle beim bolschewistischen Putsch (S. 68) und beschreibt dann die Bemühung der Bolschewisten um die Ausbreitung der Revolution. Der Text steht vor einer großen Reproduktion eines sowjetischen Propagandagemäldes, das den monumentalen Bolschewiken feiert. Soziale Dynamik, nicht zuletzt die während des Krieges bedeutende internationalistische Friedensbewegung, kommt nicht vor. Vielmehr entsteht der Eindruck, die kommunistische Führung der Aufstände und der militärische Expansionismus, der die neuen Nationalstaaten ins Sowjetreich inkorporieren soll, seien ein nationalstaatliches Projekt. Die polnische Gegenwehr wird so ein Erfolg, der den imperialen Anspruch der Sowjetunion abwehrt. Die kommunistischen Bewegungen der Zeit mit ihrem Anspruch, eine neue Ordnung zu schaffen, die im Interesse der sozial Schwachen eine internationalistische Politik realisiert, wird ignoriert. So kann die jeweilige innenpolitische Entwicklung nach 1918 nicht verständlich werden, sei es z.B. in Deutschland oder in Jugoslawien.
Unter den Motiven der politischen Aktionen und auch der Kriege dieser Zeit waren Bestrebungen zentral, ethnisch homogene Nationalstaaten zu begründen. Sie werden in der Ausstellung in den Mittelpunkt gestellt. Als Ego-Dokument wird zum Beispiel ein Text des polnischen Premiers Jędrzej Moraczewski von 1918 gezeigt, der seine Freude an der Staatsgründung ausgedrückt (S. 96). Als Bild wird ihm ein Foto zugeordnet, das zeigt, wie deutschsprachige Geschäftsschilder in Warschau demontiert werden. Richtet sich die Freude also auf die ethnische Reinheit der Nationalstaaten? Die Aggression des Krieges, dessen Gräuel im Kapitel zuvor ausführlich gezeigt werden, setzt sich im Aufmacher-Bild zum Thema „Friedensverträge“ fort. Ein Herr mit Hut und ordentlich gebügelter Hose schlägt mit einer Spitzhacke von oben in einen Stahlhelm, der vor einem Berg von bereits ebenso behandelten Helmen liegt. Bildunterschrift: „German helmets destroyed during disarmament, 1919“ (S. 98/99). Die Assoziation, die dieses Bild aufruft, ist Mord, Angriff auf die Köpfe von Menschen – auf jeden Fall nicht Frieden. Ob die Aufnahme dieser visuellen Aggression in das Kapitel über die Friedensverträge bewusst erfolgte? Sie ist jedenfalls geeignet, die Bemühung um Frieden als Fortsetzung der Gewalt des Kriegs zu denunzieren.
Auch die Verträge selbst konnten die politisch von den Siegermächten geforderte Selbstbestimmung der Völker nicht gewährleisten. Das belegt die Karte der Tschechoslowakei mit farblich gekennzeichneten Nationalitäten, die sich auf ihrem Staatsgebiet 1923 befanden (S. 116). Diese Karte schließt – zumindest im Katalog – die Darstellung der Friedensverträge und ihrer unmittelbaren Folgen ab. Es folgt noch ein Großfoto von der ersten Sitzung des Völkerbundes in Genf 1920. Aber das Großbild, das direkt darauf folgt, zeigt drei polnische Kämpfer, die mit ihrem Maschinengewehr nur knapp am Betrachter vorbei zielen. Das Kapitel „Kriege um Unabhängigkeit und Grenzen“ beginnt (S. 118/119). Der Text betont: “These conflicts had a major impact on the identity of some of the nations that constituted the new states.”
Die Darstellung dieser militärischen und politischen Konflikte ist eine sehr schwierige Aufgabe. Eine Karte (S. 123) soll die über Plebiszite und Grenzkonflikte darstellen. Sie ist sehr unübersichtlich, da die Farbcodes unklar bleiben. Das liegt am Gegenstand, an der Komplexität des Themas. Um die Interessen, Entwicklungen, Kompromissbemühungen und andererseits aggressiven Chauvinismen darzustellen, wäre erheblich mehr Platz, Bildmaterial und Text erforderlich. So wird zu viel auf einmal vorgestellt und der Eindruck beim Betrachter entsteht, dass es aus objektiven Gründen keine friedliche Lösung geben konnte. Die für die Gegenwart relevanten Fragen gerade in diesem Themenfeld sind aber die nach den Details, nach den Chancen der Vermittlung, nach den Gründen für ihr Scheitern. Auch die Präsentation von Personen, die sich um eine friedliche Lösung bemüht haben, wäre an Stelle der häufigen Fotos von Kämpfern wünschenswert. Als Folge der Grenzkonflikte werden hier die oben schon vorgestellten Bevölkerungsverschiebungen – also Deportationen und Massenflucht – mit anrührenden Fotos und Erfahrungsberichten vorgestellt. Wie schon angemerkt, ist diese Darstellung allerdings sehr einseitig, weil die muslimische Bevölkerung keine Erwähnung findet (S. 126-128).
Die Kapitel zu den sozialen Folgen des Krieges und zur „Großen Transformation“ der Gesellschaften rücken die Zivilbevölkerung, namentlich Frauen und Kinder in den Blick. Im Text wird neben den Vertreibungen auf die großen Unterschiede bezüglich des Leidens und der Verluste unter der Zivilbevölkerung verwiesen. Der Anteil der Zivilist*innen an der Gesamtzahl der Toten des Krieges betrug im Deutschen Reich 1%, in Serbien dagegen 10% Daher ist es sehr bedauerlich, dass in den zu diesem Themenfeld gewählten Abbildungen die großen Staaten, und nicht zuletzt westeuropäische Quellen dominieren. Die Bemühung um eine breite Streuung der nationalen Zuordnung der Quellen ist hingegen sehr positiv zu bewerten. Zu den Themen Epidemien, Invaliden, psychische und soziale Folgen, Frauenarbeit repräsentieren zwei Abbildungen Deutschland, je eine die Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien (S. 136/137).
Das Kapitel „A Great Transformation” wird mit einem aus der Untersicht fotografierten Bild eines teuren Cabrios aufgemacht, in dem die polnische Schauspielerin Zula Pogorzelska sitzt (S. 155). Sie schaut im Jahr 1929 sehr cool auf die Betrachtenden. Der Text betont Veränderungen auf unterschiedlichen Feldern: Obwohl autoritäre Regime entstanden, „Some of these changes eventually led to the rise of authoritarian regimes. However the new political context made possible the emancipation of nations, the creation of new states – mostly republics – and the granting of women’s rights.” (S. 154) Die im Text angesprochenen Probleme, aber auch die immense politische Dimension der Durchsetzung von Frauenrechten wird auf der Bildebene zu einer oberflächlichen Erscheinung. Auf den folgenden Seiten (=Tafeln? S. 157-161) wird das Thema Wahlen behandelt, es gibt ein Foto von Uniformierten, die 1920 in ein Wahllokal für die Konstituierende Versammlung in Litauen gehen, eine Aufnahme aus einem Wahllokal in Warschau 1927, ein Studiofoto der Fraktion der USPD bei der deutschen Nationalversammlung in Weimar 1919 und eine Fotografie von 1923, die zwei elegant gekleidete Damen aus Ungarn zeigt. Erstaunlich ist, dass das Thema Frauenrechte in den Texten zu allen Fotos auftaucht, die mit den Wahlen zu tun haben, abgeschlossen durch das Modefoto, das allerdings dem Thema wirtschaftlicher Aufschwung zugeordnet wurde. Könnte es sein, dass die Absicht, die Durchsetzung politischer Rechte der Frauen zu behandeln, aus unerfindlichen Gründen keinen eigenen Platz fand? Es ist schon erstaunlich, dass zu dem USPD-Gruppenbild eine Bildunterschrift gehört, die besagt, es seien die weiblichen Mitglieder der Fraktion abgebildet. Das mag schon sein, aber soweit das erkennbar ist, erscheinen lediglich drei Frauen unter 16 Männern. Wäre das nicht eine Gelegenheit, über die Mühen der Durchsetzung von Rechten zu sprechen? Im pädagogischen Materialheft gibt es die Aufgabe, Fotografien zu finden, auf denen Frauen abgebildet sind. Es wird aber auch hier nicht erkennbar, welche Botschaft mit der Präsentation der Bilder verbunden sein könnte.
Vor dem Hintergrund der Verflechtung der Konflikte um nationale Selbstverständnisse mit solchen um Religionen ist die Darstellung des Themas „Churches after the war“ (S. 167) ausgesprochen wichtig. Zunächst ist es erstaunlich, dass keine Moschee, keine Synagoge erwähnt wird. In den behandelten Landstrichen des „Neuen Europa“ gab es diese beiden Arten von Gotteshäusern bzw. Religionsgemeinschaften vor 1918 und es gibt sie oft noch bis heute. Der Text spricht von einer fundamentalen Krise für die Kirchen während des Krieges. In Zentraleuropa hätten sie aber ihre zentrale Rolle behauptet. Nur in der Sowjetunion sei die Kirche als „opponent oft he communist regime“ systematischer Verfolgung ausgesetzt worden. Das dem Text zugeordnete Foto zeigt fröhliche Rotarmisten, die 1927 das Kloster des heiligen Simonov in Moskau plündern. Der Eindruck, den dieses Foto beim Betrachtenden auslöst, verweist auf andere Motivationen und Kontexte der Ablehnung und oft auch Bekämpfung der Kirchen, als dies im Text dargestellt wird. Die aggressive Politik der Bolschewiki gegen die orthodoxe Kirche allein als Verfolgung von Opposition zu beschreiben, ist allzu vereinfachend, das wird auf der Bildebene offensichtlich. Die klare Thematisierung der Rolle der Kirchen in Mittel- und Osteuropa – einschließlich der Gründe für ihre Bekämpfung nicht nur durch die Kommunist*innen – wäre ein wichtiges Thema für den Vergleich der historischen Erfahrungen. Nicht viel später wird als erstes Bild im Kapitel über den Kampf um Identität („struggle for identity“) ein Foto von der Zerstörung der monumentalen orthodoxen Kirche ein Warschau 1924-26 (S. 171) gezeigt. Es gehört zu der Headline „Reinforcing national identity“. Es gibt im Text keinen Bezug auf das Verhältnis zwischen Religionen und Nationalbewegungen. Die Bildunterschrift erläutert, „…which many Poles considered a symbol of Russian rule“. Hier ist umgekehrt zur Darstellung bezüglich der Sowjetunion die Kirche kein Akteur, sondern lediglich Funktion des politischen Kampfes um nationale Identität. Eine sorgfältige Betrachtung müsste unbedingt auf die gleichzeitige Bedeutung dieser unterschiedlichen Ebenen achten.
Das Kapitel unter der Überschrift „Kampf um Identität“ ist den Minoritäten gewidmet. Die Bild von der Zerstörung der orthodoxen Kirche in Warschau steht für die Überwindung der Macht imperialer Großmächte. Offensichtlich sind Minoritäten nicht die einzigen, die einen Kampf um „Identität“ austragen? Aber der Einleitungstext stellt das anders dar: “In all countries of the New Europe a substantial number of people belonged to national, ethnic or religious minorities.” Weiter wird die breite Varianz der Entscheidungen zwischen Assimilation und Emigration benannt, die Mitglieder dieser Gruppen für ihr Leben trafen. Das Aufmacher-Foto zu diesem Text zeigt eine Maccabi-Fußballmannschaft aus Litauen. Juden*Jüdinnen werden auch im Text als Minderheit benannt, die Antisemitismus ausgesetzt gewesen sei – andere finden in diesem Panel keine Erwähnung.
Da die Frage der Minderheiten und der selbst oder von außen zugeschriebenen Identitäten ein zentrales Thema der politischen Bildung ist, gehe ich auf diesen Teil der Ausstellung etwas genauer ein. Mehrfach geht der Text auf die Problematik der mangelhaften Einhaltung der durch internationale Verträge garantierten Minderheitenrechte ein. Auch die Machtlosigkeit des Völkerbundes im Versuch, auf diese garantierten Rechte durchzusetzen, wird mehrfach konstatiert. Einleitend finden sich sehr anschauliche Tortendiagramme zu den „national minorities“ (S. 172/173). Es ist auffällig, dass Juden*Jüdinnen für die Tschechoslowakei, Ungarn, Litauen, Polen separat erfasst sind. Für Rumänien, Jugoslawien, Österreich, Deutschland ist das nicht der Fall. Roma*Romnja sind nur für Rumänien separat erfasst, aber z.B. nicht für das spätere Jugoslawien. Der Text benennt die wachsenden Spannungen zwischen den sich festigenden Nationalstaaten (Assimilationsdruck, Misstrauen gegenüber den Minderheiten) einerseits und die weite Verbreitung der Mischung von Zugehörigkeiten (neue Grenzen, Diaspora-Gruppen). Die Besonderheit von Populationen, die keinen Nationalstaat haben oder womöglich auch keinen anstreben, wird nicht benannt. Um die Situation verständlicher zu machen, wäre es hilfreich, auf die politische und rechtliche Lage der Minderheiten vor 1914 einzugehen. Auch politische Positionierungen von Personen aus diesen Minderheiten zu beschreiben, könnte ein besseres Verständnis ermöglichen. Denn z.B. unter Juden*Jüdinnen gab es eine beträchtliche Anzahl von Parteigänger*innen der internationalistisch orientierten Linken.
Das Panel „Minorities – the regions‘ richness“ (S. 175) nennt die Koexistenz von Mehr- und Minderheiten „a testimony to the region’s richness“. Diese Aussage wird mit einem Foto belegt, das ein Roma-Orchester zeigt, sowie mit dem Portrait Ödön von Horváths. Unter der Überschrift „Jews in society“ fasst der Text das Leben im Schtetl, ihren Beitrag zu den entstehenden Nationalstaaten (“some Jews were truly assimilated.”) zusammen, um dann über eine Bemerkung zum religiösen Leben direkt auf das Thema Zionismus zu wechseln: “Their religious and cultural life was very rich. A number of Jews, however, supported the Zionist movement favouring Jewish immigration into Palestine.” (S. 176) Der Text transportiert auf diese Weise die Abtrennung der Minderheit vom Nationalvolk, es schwingt ein Ton der Kritik an mangelnder Beteiligung mit. Man könnte auch vom Bund als Alternative zum nationalstaatlichen Projekt und vom Zionismus als Reaktion auf den zu Beginn des 20. Jahrhunderts dramatisch angewachsenen Antisemitismus schreiben.
Der Antisemitismus wird direkt im Anschluss beschrieben. Ein Augenzeugenbericht von einem Pogrom in der ukrainischen Stadt Proskurov 1919 (S. 178) wird von einem Foto begleitet, das drei verletzte jüdische Männer portraitiert. Ein erläuternder Text zum Antisemitismus schließt sich an (S. 179) Die Darstellung vermeidet die religiöse Dimension, die doch gerade in der orthodoxen Liturgie und in der katholischen Kirche Polens bedeutend ist. Vor allem werden dagegen die Varianten der Selbstpositionierung von Juden*Jüdinnen gegenüber den neuen Staaten, der Einfluss der ökonomischen Krise, sowie der Verdacht mangelnden Engagements und „the exaggeration of the support of progressive Jewish milieus for Bolshevism“ als Ursache des Antisemitismus benannt. Pogrome werden als Phänomene während der Kriege um Grenzen/Unabhängigkeit 1918-1923 beschrieben. Der Text geht nicht auf diskriminierende Politik der neuen Staaten gegen Minderheiten ein. Darauf verweist nur die Bildebene die Abbildung zeigt die Urkunde, die 1920 den Numerus Clausus für Angehörige von Minderheiten an den Universitäten in Ungarn erlässt. In einem der letzten Kapitel, das die Erosion des Neuen Europa behandelt, kommt die Ausstellung auf das Thema zurück. „Growing Anti-Semitism“ stellt im Text eine Tendenz der Zunahme des Antisemitismus in den Jahren nach 1919 für gesamt Neu-Europa fest (S. 202). Hier wird dies in den Zusammenhang des Anwachsens von Xenophobie und Rassismus gestellt. Auf der Bildebene wird diese Entwicklung ausschließlich mit dem Nationalsozialismus verbunden, es wird ein klassisches Motiv verwendet: Zerstörte Geschäfte in Berlin nach dem Novemberpogrom 1938. Die wichtige Frage, wie sich das Verhältnis der unterschiedlichen Mehrheitsgesellschaften zu ihren jüdischen Minderheiten vor dem Holocaust entwickelte, bleibt unbeachtet. Auch der Text engt genau diese Fragestellung auf Deutschland ein.
Die Darstellung der Ursachen des Antisemitismus – und anderer aggressiver Haltungen gegenüber Minderheiten – als Problem, das in der Mehrheitsgesellschaft entsteht, findet in der Ausstellung keinen Platz. Gerade eine für die Öffentlichkeit so leicht zugängliche Ausstellung im Außenraum ist geeignet, Themen anzusprechen, die Gespräche auslösen. Auch das pädagogische Begleitheft verpasst diese Chance, indem es lediglich auffordert, zu schauen, wo es eine besonders „vielfältige“ Bevölkerung gab. Die damit verbundenen Probleme – und erst recht die Chancen spielen in der Darstellung keine Rolle.
Ein offenes Angebot für Diskussionen über gegenwärtige Fragen macht die Ausstellung in ihrem letzten Kapitel „Multiple Memories of 1918-1923“ (S. 206-217) Hier werden die unterschiedlichen Bezugnahmen, die sowohl auf der Ebene der staatlichen Repräsentation als auch von Seiten der Opposition in den verschiedenen Staaten des „Neuen Europa“ heute zu beobachten sind, nebeneinander gestellt. Die Bezüge auf militärische Heldentaten dominieren, sie symbolisieren in allen Fällen die Suche nach einer nationalen Gründungserzählung. Zum Beispiel für Belarus sehen wir aber eine Demonstration, bei der friedlich die Fahne der Republik von 1918 geschwenkt wird.
Der Zusammenhang all dieser Erzählungen, die gemeinsame europäische Zukunft, findet sich in der Bereitschaft, die Unterschiedlichkeiten wahrzunehmen und die Perspektiven der Minderheiten und Mehrheiten ernst zu nehmen. Das wird im Konzept und auch in den Details dieser in ihrem Bemühen ehrenwerten Ausstellung deutlich.