Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Auf 183 Tafeln dokumentiert die Ausstellung Todesfälle von Menschen in Deutschland, die seit 1990 infolge rechter Gewalt ums Leben gekommen sind. Dieser Umfang zeugt von einem Ausmaß rechter Gewalttaten seit der deutschen Vereinigung, über die es in einer breiteren gesellschaftlichen Wahrnehmung bis in die Politik hinein noch immer ein viel zu geringes Bewusstsein gibt. Dafür ist, neben anderen Gründen, zentral, dass den Betroffenen rechter Gewalt auch nach dem NSU, nach den mörderischen Anschlägen von Halle und Hanau zu wenig zugehört wird. So sind von Rassismus Betroffene kaum als Expert*innen in TV-Talk-Sendungen präsent. Dabei ist die oben genannte Zahl ein Mindestwert, da es viele Zweifelsfälle gibt, die nicht auf den Tafelnaufgeführt sind. Seit dem Jahr 2004 wandert „Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“ durch viele Städte und Kommunen. Sie ist seither in Schulen, Kirchengemeinden, Rathäusern, in kleinen wie großen Einrichtungen zu sehen.
Der Verein „Opferperspektive – Solidarisch gegen Rassismus, Diskriminierung und rechte Gewalt“ als Träger der Ausstellung verfolgt mit ihr im Wesentlichen zwei Ziele: So soll an die Getöteten und Ermordeten erinnert werden und zugleich auf die anhaltende gesellschaftliche Verdrängung und Bagatellisierung rechter Gewalt aufmerksam gemacht werden. Dementsprechend heißt es auf der Webseite zur Ausstellung, dass „rechte Gewalt als ein virulentes Phänomen in dieser Gesellschaft zu erkennen“ ist und „sie als konsequente Folge rechter Ideologie zu begreifen“ ist sowie es notwendig ist, „sich auf die Perspektive der Opfer einzulassen“. Neben der Entleihmöglichkeit der Schau werden auf der zugehörigen Website pädagogische Materialien angeboten. Zudem können Workshops und Fortbildungen angefragt werden.
Das Design der Ausstellung basiert auf der Arbeit der Künstlerin Rebecca Forner, die 2002 das erste Mal im Außenbereich des heutigen Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“ in Berlin gezeigt wurde. Die Wanderausstellung wurde zwei Jahre später mit der „Opferperspektive“ erarbeitet. Die Grundlage der aufgenommenen Todesfälle stellt eine Chronik der Zeitungen „Der Tagesspiegel“ und „Frankfurter Rundschau“ dar, mit denen am Erscheinungsdatum 14. September 2000 93 Fälle von Todesopfern rechter Gewalt seit 1990 dokumentiert wurden. Die Chronik wich zum damaligen Zeitpunkt erheblich von der offiziellen Zählung des Bundesinnenministeriums ab. Dort wurden für denselben Zeitraum nur 24 Todesfälle gezählt. Die Differenz wurde zum Politikum. Zwar korrigierten die Innenminister von Bund und Ländern ihre Erfassungskriterien für rechte Straftaten. Doch bis heute liegen die amtlichen Zahlen deutlich unter denen unabhängiger Initiativen. Im Juni 2018 nannte das Innenministerium in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage 83 Todesopfer rechter Gewalt seit der deutschen Vereinigung. Diese Diskrepanz und das Erscheinen der Chroniken waren Anlass genug, die Ausstellung zu erarbeiten. Um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde sie als Projekt zur Ausleihe konzipiert.
Zu dem zentralen Aspekt die Erinnerung an die Toten aufrechtzuerhalten, gesellt sich die Motivation die Ausstellungsbesucher*innen zur Selbstreflexion anzuregen und sich zu fragen, Wie würde ich mich als Zeug*in einer rechten Gewalttat verhalten? Bleibe ich passiv und dulde ich so einen Angriff? Oder greife ich ein und begebe ich mich unter Umständen selbst in Gefahr? Fragen, die nicht immer leicht zu beantworten sind, die sich aber in einer gesellschaftlichen Realität mit steigender antisemitischer, homophober, rassistischer und sozialdarwinistischer Gewalt im Alltag zunehmend stellen. In der Ausstellung stehen hierfür zusätzlich zu den aufgeführten Todesfällen symbolisch spiegelnde Tafeln mit den Aufschriften „Täter?“, „Opfer?“, „Zuschauer?“, die zum Nachdenken anregen sollen. Zudem wird in die Entstehung der Ausstellung, die Anerkennungspraxis und die Quellen der auf Deutsch und Englisch verfasste Ausstellung eingeführt. Leere Ausstellungsfahnen weisen darauf hin, dass rechte Gewalt weder mit dem Beginn der Chronik im Jahr 1990 aufgetaucht ist, noch mit ihrem derzeitigen Ende 2017 verschwindet. Insgesamt umfasst die Ausstellung 188 Tafeln. Im Kopf der Fahnen ist ein Foto der getöteten Person zusehen, sofern ein solches vorhanden ist. Längst nicht bei allen Opfern ist dies der Fall. Da anfangs ausschließlich öffentlich zugängliche Quellen verwendet wurden, zeigt sich hier eine gravierende Lücke in der Berichterstattung. Inzwischen konnten verschiedentlich auch Fotos von Opfern in die Ausstellung aufgenommen werden, die von Angehörigen zur Verfügung gestellt wurden. In Fällen bei denen kein Bild ermittelt werden konnte, bleibt eine Leerstelle in Form eines grauen Rasters. Im unteren Teil jeder Tafel wird über das Opfer und die Tat sowie das Tatmotiv (Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit, Rassismus etc.) informiert. In die Mitte sind zudem Postkartenmotive montiert. Die Postkarten sind anders als die restliche Ansicht farbig gehalten und stechen so besonders heraus. Sie irritieren den Blick der Betrachter*in und bilden eine zusätzliche Reflexionsebene, indem sie auf die Alltäglichkeit rechter Gewalt verweisen. Dahinter steckt, laut Rebecca Forner, auch die Absicht zu verdeutlichen, dass rechte Gewalt kein reines Ost-Problem ist, sondern überall stattfinden kann. Als vertiefendes Begleitmaterial zur Ausstellung wird bei deren Entleih ein Ordner mitgeliefert, der zusätzliche Informationen zu den einzelnen Todesfällen enthält. Die fast 400-seitige Dokumentation besteht in erster Linie aus Zeitungsartikeln, aber auch Flugblätter und Demonstrationsaufrufe antifaschistischer Initiativen wurden aufgenommen.
Seit 2004 wurde die Ausstellung „Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“ mehrfach überarbeitet und ergänzt. Dies geschah zuletzt und zum sechsten Mal 2019. Die letzten Opfer der mörderischen, rassistisch und antisemitisch motivierten Anschläge von Halle und Hanau konnten bisher noch nicht neu aufgenommen werden. Auch die Mordtat an dem CDU-Politiker Walter Lübke oder der Fall von Christopher W. aus Aue, der wegen seiner Homosexualität getötet wurde, fehlen noch. Die rasante Dynamik der Radikalisierung von insbesondere Männern im Internet die neben den gängigen rechten Ideologieelementen häufig auch von einem pathischen Hass auf Frauen geprägt sind, übersteigt hier die Reaktionsmöglichkeiten, die bei einem Medium wie einer Ausstellung vorhanden sind.
Das pädagogische Begleitkonzept
Das pädagogische Begleitkonzept zur Ausstellung wurde von der Erziehungswissenschaftlerin Dagi Knellessen erarbeitet. 2018 wurde das pädagogische Material durch den Autor dieses Artikels überarbeitet. Es richtet sich sowohl an die formale wie an die non-formale Bildung. Für den schulischen Bereich ist das Material für alle Schulformen gedacht. Es will Lehrkräften sowie Bildungsreferent*innen Anregungen zum Ausstellungsbesuch und dessen Vertiefung geben und steht auf der Webseite zur Ausstellung kostenfrei zum Herunterladen bereit. Das Angebot ist wie folgt gegliedert:
Das pädagogische Konzept gibt einen ausführlichen Einstieg in die Entstehungsgeschichte, Struktur und Gestaltung der Ausstellung sowie zum Aufbau der Ausstellungsfahnen. Das Konzept zielt nicht darauf ab, mit gefestigten rechten Jugendlichen zu arbeiten. Diese sind für die pädagogische Arbeit praktisch nicht mehr erreichbar. Die Schweigenden oder Jene, die sich gegen rechts abgrenzen, können jedoch argumentative Impulse erhalten und zur Positionierung ermuntert werden. Ein Abschnitt widmet sich dem Umgang mit gewaltförmiger Sprache. Gemeint sind damit stigmatisierende und diskriminierende Ausdrucksweisen wie „asozial“ oder „arbeitsscheu“ mit denen Menschen, als soziale Außenseiter*innen markiert werden, aber auch ganze Gruppen wie Sinte*zze und Romn*nja, gebrandmarkt werden. In vielen Zeitungsartikeln denen die Aussagen von Täter*innen auf den Tafeln entnommen sind, kommen solche und andere Ausdrücke vor. Wie ist damit umzugehen? Solche Worte vermeiden, um eventuelle Verletzungen oder mögliche Verfestigungen von Stereotypen zu vermeiden? Das kann ein Weg sein, der allerdings das Risiko in sich birgt, die menschenverachtende Sprache der Täter*innen und damit ihr Handeln zu derealisieren und im Unbewussten zu lassen. Der Umgang mit gewaltförmiger und menschenverachtender Sprache ist eine pädagogische Aufgabe, die es im Umgang mit der Ausstellung und anderswo zu leisten gilt.
Das pädagogische Konzept ist mehrgliedrig aufgebaut und ermöglicht die Arbeit auf unterschiedlichen Anforderungsstufen. Für den Schulunterricht sind die jeweils angesprochenen Kompetenzen vermerkt. Für die Vor- und Nachbereitung gibt es drei Varianten, die jeweils den Besuch der Wanderausstellung zur Grundlage haben. Variante I basiert auf Arbeitsblättern zu ausgewählten Fällen aus verschiedenen Bundesländern, sodass ein Regionalbezug geschaffen werden kann. Ein übergreifendes Arbeitsblatt hat alle Opfergruppen zum Thema. Die Arbeitsblätter können während des Rundgangs in Kleingruppen bearbeitet werden. Empfohlen wird bei dieser Variante, die auf 90 Minuten angelegt ist, ein abschließendes Auswertungsgespräch bei dem beispielsweise vertiefend die Unterscheidung völkisch-nationalistischer Ideologie zu den universellen Menschenrechten herausgearbeitet werden kann.
Variante II setzt mehr Zeit voraus. Sie verbindet mit dem Ausstellungsbesuch verschiedene Übungen wie die Arbeit mit einem Denkblatt, einer Mindmap und der Nachbereitung mit der Placemat Activity. Mit dieser Mischung werden Sozialformen von der Einzelarbeit bis zur Partner*innen und Kleingruppen- sowie der Plenumsarbeit angeboten. Mit dem Denkblatt können individuell Assoziationen zum Thema extreme Rechte und Gewalt gesammelt werden und anschließend entweder in der Lerngruppe gemeinsam besprochen werden oder die gesammelten Begriffe dienen zur Weiterarbeit mit einer Mindmap. Beide Übungen sind insbesondere zur Vorbereitung des Ausstellungsbesuchs gedacht, um vorab Begriffe und Kontexte rechter Gewalt anzusprechen. Die Nachbereitung kann entweder mit einem Auswertungsgespräch oder über die Placemat Activity erfolgen. Dabei handelt es sich um eine Übung aus dem kooperativen Lernen in drei Schritten (Einzel-, Kleingruppen- und Plenumsarbeit).
Variante III ist noch einmal in zwei Modelle unterteilt und bietet sich für Projektwochen oder mehrtägige Seminare an. Die Vorschläge beinhalten die Erstellung eines Audioguides mit Smartphones und oder die Möglichkeit Jugendliche als Peer Guides anzulernen, die andere durch die Ausstellung begleiten.
Das Glossar soll sowohl Lehrkräfte als auch Jugendliche bei der Begriffsklärung unterstützen. Die Datei mit weiterführender Literatur, Filmen und Links wendet sich an Lehrkräfte und Seminarleiter*innen, die sich im Einzelaspekte rund um das Problem rechter Gewalt einlesen wollen oder weiteres Material für ihre Arbeit suchen.
Die Ausstellung kann bei der Opferperspektive ausgeliehen werden. Ansprechpartner hierfür ist
Stephan KuhlmannZur Begleitung der Ausstellung, für Workshops, Lehrkräftefortbildungen und Schulungen von Ausstellungsguides sowie zur Einführung in die Peer Guide-Modelle können Sie zudem bei
Ingolf SeidelFachreferent*innen buchen.