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Von Ingolf Seidel
Ob sich Theodor Herzl den Judenstaat, über den er 1896 schrieb, so vorstellte wie das heutige Israel, ist mehr als unsicher: Eine bunte, laute Gesellschaft voller Widersprüchlichkeiten. Man findet Ultraorthodoxe mit Pejes, als wäre man in einem osteuropäischen Schtetl zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem Holocaust, genauso wie junge bauchfreie Tops tragende Frauen und sich cool gebende junge Männer, die durch die Straßen Tel Avivs flanieren. Dazu gesellen sich arabisch sprechende Palästinenser/innen christlicher und muslimischer Religion, die unübersehbare Präsenz von Soldat/innen und ein Dauerkonflikt mit der palästinensischen Nationalbewegung, der Attentate, Raketenbeschuss und kriegerische Aktionen der israelischen Armee mit sich bringt.
Über all dies und mehr schreiben die deutsche Journalistin Judith Seitz und der israelische Politikwissenschaftler Itay Lothem in „Israel – Nah im Osten“. Das Buch ist eine eingängig geschriebene Einführung für junge Menschen über die Geschichte, das Leben und die heutige Situation in Israel und wurde in Auftrag gegeben von ConAct, dem Koordinierungszentrum Deutsch-israelischer Jugendaustausch. Das Ergebnis ist eine Skizze über den israelischen Staat, die empathisch auf die schwierige Situation des Landes eingeht, aber auch die mannigfaltigen liebenswürdigen Aspekte und die Vielfalt der Gesellschaft beschreibt. Neben dem zentralen Text der beiden Autor/innen finden sich eingestreut viele kurze Erlebnisberichte und Reflexionen von jungen Teilnehmer/innen einer deutsch-israelischen Schreibwerkstatt. Diese ansprechenden Kurztexte bieten subjektive Eindrücke auf Erlebnisse in Israel, aber auch vertiefende Informationen zur Landeskunde und -kulturen.
Sicherlich denkt die Mehrzahl auswärtiger Betrachter/innen sofort an den israelisch-palästinensischen Konflikt und sicherlich auch an den Holocaust, wenn sie auf eine Publikation über Israel stoßen. Beides findet selbstverständlich seinen Platz in den zehn Kapiteln des Buches. Das jüdisch-israelische Narrativ hat in der Darstellung des Zusammenlebens von Juden, Drusen, Palästinensern sicherlich ein gewisses Übergewicht. Das hält aber Seitz und Lothem nicht davon ab, auch die palästinensisch-arabische Sicht immer wieder aufzugreifen und immer wieder auf problematische Aspekte von Diskriminierung der, mit rund 1,5 Millionen Einwohner/innen recht großen palästinensischen Minderheit (von insgesamt ca. 7,7 Mio. Menschen in Israel) innerhalb der Staatsgrenzen hinzuweisen. Die formale Gleichberechtigung der arabischen Minderheit als Staatsbürger und die offizielle Zweisprachigkeit verhindern eben nicht, dass arabische Schulen weniger von staatlichen Zuwendungen profitieren oder dass Baugenehmigungen für palästinensische Familien verweigert werden (vgl. S. 101).
In den historischen Kapiteln zum Ursprung der jüdischen Nationalbewegung des Zionismus, einer Reaktion auf den europäischen Antisemitismus und zur Staatsgründung Israels, wird darauf hingewiesen, dass die frühen zionistischen Pioniere nicht in ein Land ohne Volk kamen, in dem sie mit viel Idealismus dem kargen oder sumpfigen Boden das Ackerland abrangen, sondern dass in der bis dahin unbedeutenden osmanischen Provinz Palästina eine bunte Mischung aus Christen, Muslimen, Drusen und Tscherkessen lebte, die in erster Linie durch die arabische Sprache, jedoch durch kein gemeinsames Nationalgefühl geeint wurden (S. 46 f). Zu diesen Gruppen gesellte sich noch der so genannte Jischuw - Jüdinnen und Juden, die immer ein Teil der örtlichen Bevölkerung waren. Obwohl „Israel – nah im Osten“ keine geschichtswissenschaftliche Abhandlung ist, nimmt die Darstellung von Geschichte einen breiten Raum ein. Die aktuelle Situation ist für Jugendliche und junge Erwachsene auch kaum ohne die Vorgeschichte der Staatsgründung Israels verständlich. Wer nicht darum weiß, dass die britische Mandatsmacht sowohl der zionistischen, als auch der arabischen Seite eindeutige Hoffnungen auf eine staatliche oder nationale Heimstatt in Palästina machte, kann die jeweiligen Ansprüche und Enttäuschungen nicht nachvollziehen. Die Vernichtung des europäischen Judentums durch Deutsche und ihre Helfershelfer machte es zudem für die Mehrheit der wenigen Überlebenden kaum vorstellbar, weiterhin in Europa zu leben.
Neben den historischen Kapiteln wird aber auch auf den zentralen Charakter der Armee in der Gesellschaft eingegangen, Grundzüge der jüdischen Religion anhand der zentralen Feiertage erläutert und die komplizierte Frage „Wer ist eigentlich Jude oder Jüdin“ aufgeworfen. Auch diese Kapitel sind weitgehend multiperspektivisch geschrieben. Den Umstand, dass so manche Israelis eine Synagoge nie von innen gesehen haben, beschreibt Itay Lotem aus eigener Anschauung, wenn er vom Besuch eines Gotteshauses erzählt, den amerikanische Verwandte während einer Visite in den USA für ihn organisiert haben und den er schweißnass überstehen musste, da er mit den religiösen Riten nicht vertraut ist. Ein älterer Herr, der diesen Umstand wahrnimmt, spricht den Autor daraufhin als Israeli an: „ Es ist immer das Gleiche mit euch. Ihr seid die einzigen Juden auf der Welt, die mit einem Gebetsbuch nichts anfangen können“ (S. 114). Diese Geschichte spiegelt sicher nur einen Ausschnitt der Gesellschaft, die sich zwischen religiöser und kultureller Tradition und Säkularität bewegt. Sie spiegelt aber gleichzeitig die Komplexität und Diversität dessen, was unter dem Begriff Judentum vereint wird wider. Die Leser/innen bekommen zudem einige grundlegende Informationen über den Islam oder über die Existenz der Bahai, einer äußerst liberalen Abspaltung innerhalb des Islam, die im heutigen Iran massiv verfolgt wird.
Eine Beschreibung, die nicht die verschiedenen jüdischen Einwanderergruppen und deren Integration in die israelische Gesellschaft aufgreift, wäre lückenhaft. Ausführlich gehen Itay Lotem und Judith Seitz auf die Geschichte der Misrachim, der Juden aus den arabischen Ländern, die von dort vertrieben wurden ein. Sie beschreiben außerdem die Herausforderungen, die beispielsweise die Einwanderung von einer Million Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion aufgeworfen hat, die noch dazu überwiegend der jüdischen Traditionen entfremdet waren.
Viele israelische Besonderheiten sind mit einem Augenzwinkern beschrieben; so wenn die Schlangen vor den bitter notwendigen Sicherheits- und Personenkontrollen an Busbahnhöfen, Einkaufszentren etc. thematisiert werden, die häufig eher chaotisches Gedrängel darstellen und die manches Mal für Flirts oder Streitigkeiten genutzt werden. Weniger amüsant stellt sich dagegen der Hintergrund der schwierigen Sicherheitslage in Israel dar. Folgerichtig wird der Armee ein eigenes Kapitel gewidmet und auch für das Gefühl einer, manchmal virulenten, aber immer latent vorhandenen Bedrohung im Alltag der Israelis sensibilisiert. Viele Menschen entgehen diesem Gefühl durch Entpolitisierung und für Jüngere, vor allem im lebhaften Tel Aviv, bieten Clubs und Partys Möglichkeiten zur Realitätsflucht wenigstens in Friedenszeiten an.
“Israel – Nah im Osten“ erreicht das durch die Leiterin von ConAct Christine Mähler formulierte Ziel, Lust zu machen, sich mit den „facettenreichen Lebensrealitäten in Israel zu beschäftigen“ mit Leichtigkeit. Die Publikation ist nicht nur gut für die Vorbereitung auf deutsch-israelische Begegnungen geeignet, sondern kann auch in Ausschnitten als Bereicherung von Seminaren oder im (Projekt-)Unterricht genutzt werden. Manche Aspekte der israelischen Realität können notgedrungen nur kursorisch gestreift werden. Ein Mehr an Information und Komplexität würde allerdings die Hauptzielgruppe des Buches ohne Frage eher abschrecken und langweilen. Ein abschließender Serviceteil mit Tipps für Literatur, Filme und Websites bietet die Möglichkeit zum intensiveren Studium; Adressen sowie Kontaktmöglichkeiten für Freiwilligendienste und Studium runden das sehr gute Gesamtbild des Bandes ab.
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- 11 Mär 2014 - 12:19