Von Markus Nesselrodt
Bücher zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Deshalb erscheint die Frage durchaus legitim: wozu ein weiteres Werk? Die Herausgeber Noah Flug und Martin Schäuble betonen als Antwort zum einen, dass sie ihr Buch in erster Linie an junge Leserinnen und Leser ohne Vorkenntnisse zur Geschichte des Konflikts richten. Zum anderen sehen die Autoren ihre Publikation als ein Sprachrohr für diejenigen Menschen, die vom Nahostkonflikt tagtäglich betroffen sind. Sie seien es, so die Herausgeber, die hier zu Wort kommen sollen.
Das Buch behandelt die zentralen (Konflikt-)Themen der israelisch-palästinensischen Geschichte. Beginnend bei der britischen Mandatszeit über die Staatsgründung Israels, das palästinensische Flüchtlingsproblem und den Kampf um den Zugang zum Trinkwasser. Die zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen – der erste Arabisch-Israelische Krieg, der Suezkrieg, der Sechs-Tage-Krieg, der zweite Libanonkrieg – werden ebenfalls behandelt. Doch auch die Entstehung einer palästinensischen Nationalbewegung, die israelische Siedlungspolitik in den Palästinensergebieten, sowie die Bemühungen um einen Frieden werden thematisiert.
Im Gegensatz zu anderen Versuchen, verschiedene Perspektiven auf den Nahostkonflikt zu präsentieren (s. Beitrag zum israelisch-palästinensischen Schulbuch in diesem Magazin) werden Erlebnisberichte von israelischen und palästinensischen Zeitzeugen genutzt, um die Geschichte Israels und Palästinas im 20. Jahrhundert zu erzählen. Im Vordergrund der historischen Narration stehen dabei die subjektiven Perspektiven der Zeitzeugen. Stets ist das Bemühen der Herausgeber erkennbar, die Sichtweisen beider Seiten gleichberechtigt wiederzugeben. Daraus folgt die grundlegende Annahme dieses Geschichtsbuches, dass es im Nahostkonflikt nicht die eine Wahrheit gebe. Eine moralische Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht scheine oftmals unmöglich. Aus diesem Grund wählten die Herausgeber den Weg, israelische und palästinensische Zeitzeugen nach ihrer Version der Geschichte zu befragen.
Entscheidende Weichenstellungen für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in seiner heutigen Form sehen die Autoren in den Ereignissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Folglich wird dem ersten Weltkrieg und der Aufteilung des zerbrechenden Osmanischen Reiches große Bedeutung beigemessen. Im weiteren Verlauf zeichnen sich Konflikte um die Eigentumsfrage und Legitimität des nun unter britischem Mandat stehenden Territoriums ab. Ein Blick in die frühere Geschichte zeigt, dass es sich um ein seit drei Jahrtausenden stark umkämpftes Gebiet handelt, welches ständig den Besatzer wechselte. Daher können Juden, Christen und Muslime in der Geschichte Belege für ihren Anspruch auf Palästina finden. Neben religiösen Herleitungen wird jedoch auch der Konflikt zwischen arabischen und jüdischen Autochthonen und Siedlern herausgestellt, der ebenfalls zum komplexen Gebilde des Nahostkonfliktes gehört. Die Konfliktgeschichte steht in dem Buch ganz klar im Vordergrund. Das ist eine Möglichkeit, sich dem Thema zu nähern, denn „keine Generation von Israelis oder Palästinensern erlebte im 20. Jahrhundert eine Zeit ohne militärische Auseinandersetzungen“. Krieg, Verlust und Leid prägen dann auch die meisten Aussagen der Zeitzeugen.
Ergebnis des Bemühens um eine differenzierte Darstellung der Geschichte ist ein Stimmengewirr. Zwar wird eine Zweiteilung in „die Israelis“ und „die Palästinenser“ weitgehend vermieden, doch zeigt sich an dieser Stelle ein Grundproblem des Buches. Die Erzählungen stehen sich nämlich meist kontrastiv gegenüber. Die historische Erzählung wird von kurzen Zitaten aus den Zeitzeugeninterviews gestützt. Daraus ergibt sich eine sehr starke Fokussierung auf diese Berichte, die subjektiv und somit aber auch immer perspektivisch sind. Obwohl der Wille zur Differenzierung erkennbar ist, ist die Zusammenführung beider Perspektiven in einer, sich als objektiv generierenden Erzählung, problematisch. Man merkt dem Buch an, dass es sich unentwegt entscheiden muss und fragt „was wirklich geschah“. Dieses Manko trübt jedoch nicht den guten Gesamteindruck, denn die hier versammelten Zeitzeugenberichte ermöglichen einem deutschsprachigen Publikum Einblick in die Binnenperspektive des Nahostkonfliktes. Das Buch ist gut verständlich, wenn auch teilweise vereinfachend. Sehr hilfreich für die weitere Bildungsarbeit zum Thema ist der ausführliche Info-Teil mit einer detaillierten Zeittafel und verschiedenen historischen Karten auf den letzten Seiten des Buches. Abgerundet wird dieser Teil durch eine thematisch sortierte Literaturliste mit Empfehlungen zu wissenschaftlicher Fachliteratur, Sachbüchern, Reiseberichten, Romanen, Erinnerungsberichten, Filmen und Webseiten.
Trotz aller Kritik ist es den Autoren hoch anzurechnen, dass sie sich bemühen, die Geschichte der Israelis und Palästinenser differenziert und multiperspektivisch darzustellen. In dieser Geschichte, die so stark von Gewalt und Nicht-Kommunikation geprägt ist, findet sich dennoch eine hoffnungsvolle Episode: Der Israeli Elad und der Palästinenser Aiyub lernten sich auf einem Friedenscamp für Jugendliche in New York kennen. Nach anfänglichem Zögern und Zweifeln kamen sie ins Gespräch. Obwohl sie sich in politischen Fragen oft uneinig sind, haben sie gelernt, die Perspektive des Anderen zu akzeptieren. Und so steht am Ende des Buches die Hoffnung auf eine Lösung des Konfliktes im Dialog: „Wir sind hier, das ist unser Zuhause, und wir müssen eine Lösung finden“.
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- 16 Dez 2010 - 11:14