Das Haus der Wannsee-Konferenz
Von Wolf Kaiser
Das Haus der Wannsee-Konferenz, in dem leitende SS- und Polizeioffiziere mit führenden Mitgliedern der Ministerialbürokratie über die Ermordung sämtlicher Juden Europas berieten, ist ein Ort, an dem man sich mit den Tätern auseinandersetzen muss. Wie alle gedenkstättenpädagogischen Bemühungen zielt die Befassung mit den Tätern darauf, historisches Verstehen zu ermöglichen und zugleich humanes Verhalten zu fördern. Diese Ziele mit NS-Tätern in Verbindung zu bringen, erscheint auf den ersten Blick paradox. Wie soll gerade die Untersuchung entsetzlicher Untaten humanes Verhalten fördern? Und kommt es nicht vielmehr darauf an, zum Abscheu vor solchen Handlungen zu erziehen?
Nun meint historisches Verstehen aber keineswegs, Verständnis für Täter zu entwickeln. Es ist äußerst wichtig, dass Lehrende und Lernende hier klar zwischen Verstehen und Verständnis haben unterscheiden. Wenn wir begreifen wollen, warum es zu den nationalsozialistischen Verbrechen gekommen ist, müssen wir uns mit den Tätern befassen. Denn diese, nicht die Opfer, haben die Entscheidungen getroffen, die zu millionenfachem Mord führten. Wir müssen untersuchen, unter welchen institutionellen Bedingungen die Täter (und Täterinnen) agierten, welche Mentalitäten und Motivationen sie mitbrachten, welche Ausbildung sie hatten und welchen ideologischen und propagandistischen Einflüssen sie ausgesetzt waren und in welchen Konstellationen und Prozessen sie zu Tätern wurden.
Wir können uns nicht auf diejenigen beschränken, die sich strafrechtlich als Täter definieren lassen. Vielmehr sind Personen einzubeziehen, die eine Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus trugen, die ihnen persönlich zugeschrieben werden kann, ohne dass sie – jedenfalls nach der gängigen Rechtssprechung – hätten strafrechtlich belangt werden können. Dazu gehören beispielsweise diejenigen, die Planungsgrundlagen für Deportationsmaßnahmen zur Verfügung gestellt haben, Verwaltungsbeamte, die die Ausgrenzung von Juden, Sinti und Roma und so genannten Asozialen gefördert haben, Finanzbeamte, die die Beraubung der Juden durch den Staat organisiert haben, Eisenbahner, die den Zugverkehr in die Vernichtung organisiert haben usw.
Es liegt auf der Hand, dass im Haus der Wannsee-Konferenz den Verantwortlichen für die Planung und Organisation des Völkermords an den europäischen Juden besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, doch zeigt die Ausstellung des Hauses, die ja den Gesamtprozess der Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten thematisiert, auch andere Tätergruppen.
Das Angebot an Themen für Studientage ist ebenfalls breit angelegt (vgl. http://www.ghwk.de/deut/bildung/bstudien.htm ).
Bei diesen ganztägigen Veranstaltungen können die Biographien und die Denk- und Handlungsweise bestimmter Täter oder die Charakteristika bestimmter Tätergruppen zum Gegenstand gemacht werden. Dabei erweisen sich oft diejenigen Personen als die interessanteren, die nicht von vornherein überzeugte Antisemiten und Rassisten waren und sich ohne alle Skrupel an den Verbrechen beteiligt haben, sondern viele Vorbehalte hatten und trotzdem mitgemacht haben. So waren solche Funktionsträger des NS-Regimes wie z.B. die Staatssekretäre Schlegelberger (Justiz) und v. Weizsäcker (Auswärtiges Amt) für die Verbrechen letztlich mit verantwortlich.
Die biographisch angelegte Untersuchung muss auch die Strukturen berücksichtigen, in denen die Täter Entscheidungen trafen, und ihren Handlungsspielraum ausloten. Dadurch wird neben dem Verstehen auch die Fähigkeit zum historischen Urteil gefördert. Studientage können sich aber auch auf ein bestimmtes historisches Geschehen richten und die unterschiedlichen Verhaltensweisen der daran Beteiligten beleuchten und zu erklären versuchen. Dabei geht es um die mitgebrachten Denkweisen und Charakterzüge, die Normvorstellungen und Selbstrechtfertigungen, aber auch um die sozialpsychologisch zu analysierende Dynamik des Geschehens. Man kann unter anderem auf das Material zurückgreifen, das die zweite Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht zur Verfügung gestellt hat, z.B. die Dokumente zu den ganz unterschiedlichen Reaktionen von Wehrmachtsoffizieren auf den ihnen erteilten Befehl, die Juden um Umkreis des weißrussischen Ortes Krutscha ermorden zu lassen.
Die Tragweite der Entscheidungen der Beteiligten, die humane Katastrophe, die das Handeln vieler herbeiführte, kann nur derjenige ermessen, der den Blick auch auf die Opfer richtet. Ein multiperspektivischer Zugang, der – wenn die Quellenlage es zulässt – auch die keineswegs unbeteiligten Zuschauer und die leider viel zu seltenen Helfer einbezieht, ist unerlässlich, auch wenn der Fokus auf den Tätern liegt. Dabei muss auch der Wahrnehmung der eigenen emotionalen Reaktionen Raum gegeben werden.
Nur so können Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Lernenden über das historische Geschehen und ihren eigenen Bezug dazu nachdenken und darüber, inwieweit die historische Erfahrung für ihr eigenes Urteil in Gegenwartsfragen und ihr Verhalten Bedeutung hat. Es hat keinen Sinn, ihnen eine Antwort auf diese Frage vorzugeben. Doch kann man die Möglichkeit eröffnen, dass die Lernenden eine humane Orientierung gerade aus der Auseinandersetzung mit denjenigen gewinnen, die durch ihr Handeln und vielfach auch in ihrem Denken jegliche Humanität negiert haben.
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- 20 Jan 2010 - 14:36