Täterbiografien
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Eckdaten
Ort/Bundesland: Nordrhein-Westfalen |
Bibliografie
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Einleitung
Personalisierung ("Hitler und seine Verbrecher"), Dämonisierung ("die KZ-Bestie"), unzureichende Analyse der gesellschaftspolitischen Faktoren oder Ausblendung von Sozialisationsfaktoren sind an bundesdeutschen Schulen nach meiner Beobachtung noch immer Merkmale der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit den Tätern der NS-Verbrechen.
Täterbiographien
Seit einiger Zeit sind Täterbiographien verstärkt Thema der NS-Forschung, sicher vor dem Hintergrund, anhand noch dokumentierbarer Beispiele individuelle Persönlichkeitsgeschichte und Beteiligung an Nazi-Verbrechen weitergeben zu wollen. Wegbereitend waren dazu die in den achtziger Jahren erschienenen Arbeiten von Ernst Klee und Götz Aly sowie Projekte zur Erforschung von Täterbiographien, die das Hamburger Institut für Sozialforschung förderte. Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern ist es, diese Ansätze für die schulische Arbeit zu nutzen. Zur Behandlung des Themas "Euthanasie im NS-Staat" stehen erst seit wenigen Jahren differenziertere Materialien für den Unterricht zur Verfügung.
Das Beispiel des "Euthanasie"-Arztes Mennecke bot mir die Möglichkeit, mit Schülerinnen und Schülern in einem Pädagogik-Grundkurs der 13. Jahrgangsstufe exemplarisch Biographie und Innenansichten eines Massenmörders aus der Nazi-Zeit kennen zu lernen und zugleich in das Thema "Euthanasie", das jungen Leuten weitgehend unbekannt ist, einzuführen
Wer war Dr. med. F. Mennecke?
- Geboren 1904, Abitur, Kaufmannslehre, Medizinstudium (1927)
- 1932: Eintritt in die NSDAP, Assistenzarzt
- 1934: Promotion
- 1935: Approbation und Bewerbung bei der hessischen Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau
- 1937: Kreisamtsleiter im rassenpolitischen Amt der NSDAP Rheingau
- 1938: Oberarzt, dann (de facto) Anstaltsleiter und formell ab 1939 Direktor der Landesheilanstalt Eichberg. Ortsgruppenleiter. Nur fünf Jahre nach dem Staatsexamen steht er einer Anstalt mit ca. 1.000 Patienten vor.
- 1939, August: Truppenarzt an der Westfront, angefordert für Erbbiologieforschung und Versuche der IG Farben
- 1940, Berlin: In Hitlers Kanzlei erfährt Mennecke, dass "unproduktive" Psychiatriepatienten systematisch getötet werden sollen. Mennecke arbeitet als Gutachter, er bereist psychiatrische Anstalten und erfasst dort die Opfer, die für die Gaskammer bestimmt sind. Er "mustert" Patienten aus.
- 1941: Beförderung zum Facharzt. Er prahlt vor Kollegen, er sei Mitglied einer Kommission, die Meldebögen überprüfe, mit denen Kranke erfasst würden - diese Bögen gingen nach Berlin - und berichtet, er sei in Hadamar gewesen und habe durch ein Fenster der Vergasung zugesehen.
- 1941, Frühjahr: Mennecke ist aktiv bei der "Sonderbehandlung 14 f 13", der Häftlingseuthanasie", bei der Polen, Juden, Sinti und Roma, politische Gefangene sowie "Arbeitsscheue und Kriminelle" ermordet wurden. Der Ablauf dieser Aktion ist dem Krankenmord abgeschaut. Mennecke beginnt in Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück und Buchenwald. Er schreibt "Diagnosen", die zum Niederträchtigsten gehören, was je ein deutscher Mediziner verfasst hat. Mennecke denkt darüber nach, ob man Patienten nicht durch Stromstöße bei der Elektroschock-Behandlung töten könne. Aber er legt sich mit seinem Vorgesetzten an, einem Parteibonzen. Zur Strafe wird er als Ortsgruppenleiter abgesetzt und muss 1943 wieder zur Wehrmacht ins Lazarett (nach Metz). Für kurze Zeit wird er an die Ostfront versetzt, bekommt Angstzustände und wird mit der Diagnose "Basedowsche Krankheit" selbst ins Lazarett verlegt. Er bewirbt sich bei verschiedenen Vergasungsanstalten, erfährt dann aber, dass er Tbc hat
- Sommer 1945: Ermittlungen der Alliierten
- 1946: Anklage. Prozess, in dem er behauptet, er sei Gegner der "Euthanasie" gewesen
- 21. Dezember 1946: Er wird zum Tode verurteilt.
- 27. Januar 1947: Seine Frau besucht ihn im Zuchthaus. Einen Tag später wird er in der Zelle tot aufgefunden.
Mennecke starb vor der Revisionsverhandlung. Wären seine Briefe nicht erhalten geblieben, so hätte er sich - eloquent wie viele seiner Berufskollegen - vermutlich als Wohltäter oder Widerstandskämpfer dargestellt. Aber seine Briefe zeigen die Innenansichten eines "normalen" Bürgers, der scheinbar ganz selbstverständlich, ohne Dynamik und innere Kämpfe, zum Massenmörder geworden ist.
Unterrichtsverlauf
Ich selbst war gespannt und unsicher, ob meine Schülerinnen und Schüler Interesse hätten, zusammen mit mir am Beispiel des Dr. med. F. Mennecke die "Innenansichten" eines biederen, braven Ehemannes aus der Zeit der Weimarer Republik und des Faschismus kennen zu lernen und entsprechende Folgerungen zu ziehen.
Hatte ich in früheren Kursen schon am Beispiel von Rudolf Höß zu verdeutlichen versucht, wie Menschen zu Massenmördern der Nazi-Vernichtungs- und Ausrottungspolitik an den Juden werden konnten, so wählte ich mit dem Beispiel Mennecke diesmal einen neuen Zugang. Mir war deutlich, dass ich den Schülerinnen und Schülern damit eine große Anstrengung zumuten würde, besonders, was historisches Wissen und eine ausführliche Persönlichkeitsanalyse anhand von Briefen anging. Aus der langen Arbeit mit Schülerinnen und Schülern wusste ich, dass sie sich der Mühe nicht immer gerne unterzogen, pädagogische Fragestellungen auf dem Hintergrund historischer und gesellschaftspolitischer Erkenntnisse zu bearbeiten. Andererseits versprach ich mir von dem Unterrichtsthema zugleich,.einen Einblick in die Aktion T4, das Programm zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens", vermitteln zu können.
In einem vorbereitenden Gespräch musste ich feststellen, dass die Schülerinnen und Schüler im Gegensatz zur Vernichtungspolitik an den Juden über die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" nur vage Kenntnisse hatten. Einige versuchten, die Behandlung des Themas mit der uns Lehrern vertrauten Äußerung "Schon wieder ein Thema aus der Hitlerzeit" abzuwehren. Die meisten aber waren bereit, sich auf den kleinbürgerlichen Tätertypus Mennecke einzulassen, vielleicht auch deshalb, weil ich ihnen das Thema (besonders die Person Menneckes) ausführlich begründete.
Immer wieder musste ich Kenntnisse vermitteln, z.B. über die Zeit nach 1945, die Politik der Alliierten, besonders der Amerikaner, die während des "Kalten Krieges" selbst ein Interesse daran hatten, die "Belastung" der Deutschen durch Kriegsverbrecherprozesse abzubauen, damit sie gute, verlässliche Partner gegen den Kommunismus und die Sowjetunion würden.
Die Schülerinnen und Schüler interessierten sich insbesondere auch dafür, was mit den Tätern nach 1945 geschah. Am Beispiel der "Ärzte-Prozesse" (Nürnberger Prozesse) und den Hadamar-Prozessen, erfuhren sie, dass kurz nach Ende des Krieges Schuldige zur Rechenschaft gezogen und z.T. zum Tode durch den Strang verurteilt wurden, die "Wiedereingliederung" der Täter in die bundesrepublikanische Gesellschaft jedoch bald zur Hauptaufgabe der Nachkriegspolitik wurde.
Wir hörten eine Schulfunksendung des Westdeutschen Rundfunks zum Thema, informierten uns über das NS-"Euthanasie"-Programm und analysierten Menneckes Biographie anhand der Einleitung von Peter Chrousts Edition der Briefe Menneckes. Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten das Spießertum dieses Kleinbürgers, die patriarchalischen Züge seines Verhaltens und seinen Opportunismus heraus. Sie erkannten anhand der Briefe Menneckes [siehe Dokumente], insbesondere denen an seine Frau, dass die Nazis auf solche autoritär strukturierten Kleinbürger, die einen Grundpfeiler des verbrecherischen Systems bildeten, bauen konnten.
Ich konnte zurückgreifen auf Inhalte vorangegangenen Unterrichts: eine Unterrichtseinheit zum "autoritären Charakter" in der deutschen Geschichte seit der Zeit des Kaiserreichs ("Wilhelminismus"): Chauvinismus, Militarismus, Kolonialismus; Deutschland als eine verspätete Nation, was Demokratietradition und Demokratieerfahrung angeht; die Tradition der Untertanenmentalität, aufgezeigt an Heinrich Manns Roman "Der Untertan" aus dem Jahre 1914.
Wir verglichen die Sozialisationsbedingungen anderer NS-Massenmörder, u.a. auch die von Eichmann und Höß sowie von "Mitläufern", mit denen Menneckes und sprachen über den Stellenwert bürgerlicher "Primär- und Sekundärtugenden" wie Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordentlichkeit.
Auszüge aus den Briefen Menneckes waren am Ende der Unterrichtseinheit dann Bestandteil der schriftlichen und mündlichen Abiturprüfungen, die zeigten, dass die Schülerinnen und Schüler wichtige Einsichten über dieses nicht abgeschlossene Kapitel deutscher Vergangenheit gewonnen hatten.
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- 14 Okt 2016 - 11:28