Von Markus End
Die Verfolgung von Roma und Sinti im Nationalsozialismus stellt bis heute lediglich eine Fußnote in der Geschichtsschreibung des Holocaust dar. Und das, obwohl nach derzeitigem Forschungsstand ca. 500.000 als "Zigeuner" verfolgte Menschen in Vernichtungslagern und Gaswagen vergast, von Einsatzgruppen erschossen, durch Arbeit zugrunde gerichtet oder auf andere Art und Weise ermordet wurden. Ungezählte weitere wurden Opfer von Zwangssterilisierungen, Deportationen und Lagerhaft.
Die Ignoranz für die Massenvernichtung der Roma und Sinti durch die Deutschen und ihre Helferinnen und Helfer in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verdeutlicht besonders eindrücklich das weitreichende Fortwirken des Antiziganismus. Anstatt das Ressentiment gegenüber Roma und Sinti zu ächten und somit den vorherrschenden Bildern der Mehrheitsbevölkerung entgegen zu wirken, führten Legislative, Exekutive und Judikative die Ausgrenzung und Stigmatisierung fort.
Hier der Kürze halber nur drei Bespiele: 1953 wurde in Bayern eine Landfahrerordnung beschlossen, die wesentliche Elemente des 1926 beschlossenen Gesetzes "Zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen" fortführte. Dazu gehörten besondere Ausweise, regelmäßige Meldepflichten bei den Behörden und die Vorstellung einer generellen Gefahr durch "Landfahrer". Im bayerischen Landeskriminalamt (LKA) wurde eine Landfahrerzentrale eingerichtet, die ab den 1950ern, genau wir ihre Vorgängerinstitutionen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, wieder bundesweit zuständig war. In Bayern - wie in anderen LKAs - wurde mit den während des Nationalsozialismus über Roma und Sinti angelegten Akten weiter gearbeitet, teilweise bis in die 1980er Jahre. Die Beteiligung der Judikative zeigte sich beispielsweise in dem berüchtigten Urteil des Bundesgerichtshofs von 1956, in dem er feststellte, dass Roma und Sinti bis 1943 nicht aus rassistischen Gründen, sondern aufgrund ihrer "Asozialität" verfolgt worden seien. Dieses Urteil wurde erst 1963 teilweise aufgehoben.
Doch nicht nur die staatlichen Institutionen, die Gemeinden und Städte beteiligten sich an der Nachkriegsverfolgung von Roma und Sinti, auch die Bevölkerung tat ihr Übriges, wie die "Affäre Magolsheim" zeigt: Eine Sinti-Familie hatte 1957 in der kleinen Gemeinde Magolsheim auf der schwäbischen Alb ein Haus erworben. Das Geld war ihr vom Bürgermeister einer anderen Gemeinde unter der Bedingung zur Verfügung gestellt worden, dass sie sein Städtchen verließ. Nachdem die Gemeinde Magolsheim ohne Erfolg alle möglichen legalen Wege beschritten hatte, um eine Ansiedlung der Familie zu verhindern, griffen die Bürgerinnen und Bürger zur Selbstjustiz: Am Abend, bevor die Familie einziehen sollte, versammelten sie sich in der Dorfkneipe, um zu beratschlagen. Am Ende legte sich der Bürgermeister schlafen, während eine Gruppe von mehreren Dutzend Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern, angeführt vom Dorflehrer zu dem zweistöckigen Wohnhaus zog und es in gemeinschaftlicher Arbeit bis auf die Grundmauern einriss.
Am nächsten Morgen musste die Sinti-Familie unter den hämischen Blicken des Dorfes ihren Einzug abbrechen. 31 Personen wurden später wegen Landfriedensbruchs und der Zerstörung von Bauwerken zu Bewährungsstrafen verurteilt. Das sehr geringe Presseecho verurteilte zwar die Methode der Magolsheimer Bürgerinnen und Bürger, konnte aber deren Anliegen offenbar gut nachvollziehen und äußerte zwischen den Zeilen Verständnis.
Nach diesem kurzen Einblick in die Stimmung der 50er Jahre möchte ich in die jüngere Vergangenheit springen: Benachteiligende Gesetze sind zwar offiziell abgeschafft, doch immer noch geben Behörden häufig das Kürzel "MEM" für "mobile ethnische Minderheit" an, wenn sie in Pressemeldungen von Straftaten berichtet, die angeblich von Roma und Sinti begangen wurden.
Das Amtsgericht Bochum entschied 1996, dass ein Vermieter einen vom Mieter vorgeschlagenen Nachmieter nicht akzeptieren müsse, weil dieser der Minderheit der Roma und Sinti angehörte. Und diese seien als "traditionsgemäß überwiegend nicht sesshafte Bevölkerungsgruppe" als Mieterinnen und Mieter nicht geeignet. Im April 1995 umstellten ca. 150 Polizistinnen und Polizisten eine Kölner Flüchtlingsunterkunft, durchkämmten sie und zwangen ca. 50 Romnijaim Alter zwischen 15 und 55 zur Abgabe von Blutproben und zu gynäkologischen Untersuchungen. Anlass war, dass in der Nähe der Unterkunft eine totes Neugeborenes gefunden worden war, dessen Pigmentierung ein Arzt als "roma-typisch" eingestuft hatte.
Auch die Selbstjustiz bleibt ein wichtiges Mittel: Als sich Anwohnerinnen und Anwohner 1992 in Rostock-Lichtenhagen durch die Überbelegung eines Wohnheims durch zumeist osteuropäische Roma gestört fühlten, griffen sie es gemeinsam mit zugereisten Neonazis zwei Nächte hintereinander mit Steinen und Molotowcocktails an. Der antiziganistische Charakter dieses Pogroms und das aufgeheizte Medien-Umfeld, dass vor "Zigeunern" aus Osteuropa warnte, werden in der Rückschau zumeist übersehen.
Abgesehen von Rostock-Lichtenhagen riefen diese Ereignisse jedoch keinen Aufschrei in Medien und Öffentlichkeit hervor, lediglich Roma-Organisationen versuchen, solche Vorfälle zu thematisieren.
Auch die antiziganistischen Ausschreitungen und Morde in verschiedenen EU-Ländern wie Ungarn oder der Tschechischen Republik in den letzten Monaten oder in Italien im letzten Jahr finden in deutschen Medien nur sehr geringen und meist sehr verspäteten Niederschlag.
Diese exemplarische Bestandsaufnahme ist symptomatisch für alle Bereiche der Gesellschaft: Ob Politik, Kultur, Medien, Wissenschaft oder Bildung, eine Beschäftigung mit Antiziganismus spielt meist nur eine sehr marginale Rolle. Über die Gründe dafür kann auf dem jetzigen Stand der Forschung leider nur spekuliert werden.
Aber es ist immerhin möglich, zwei Anhaltspunkte zu liefern: Obwohl sich die Verfolgung in der Praxis häufig ähnelte, spielte der Antiziganismus im Vergleich zum Antisemitismus in der Propaganda des Nationalsozialismus, beispielsweise in den Reden Adolf Hitlers, eine fast vernachlässigbare Rolle. Auch der Grund hierfür ist nicht geklärt: Entweder erschien der Antiziganismus den Nazis so selbstverständlich, dass sie ihn nicht zu propagieren brauchten oder die Aufklärung über die vermeintliche "jüdische Weltverschwörung" war ihnen einfach wichtiger. In jedem Fall kann diese Nichterwähnung als ein Grund für die fehlende "reeducation" der Deutschen durch die Alliierten bezüglich Antiziganismus gelten.
Damit einher geht, dass die antiziganistischen Bilder vom "Zigeuner" auch heute noch tief in das kulturelle Bewusstsein der Deutschen eingeschrieben sind: Als diesen Sommer in Berlin eine Gruppe rumänischer Roma aus einem Park vertrieben und daraufhin zum Spielball der Behörden wurde, konnten die Medien offensichtlich nicht anders, als von "Diebstahl", "Bettel-Roma" oder "Nomaden" zu berichten. Diesen tief eingeschriebenen Mustern könnte nur mit hartnäckiger Aufklärungsarbeit über antiziganistische Bilder und Stereotype entgegengearbeitet werden.
Dazu müssten in den relevanten gesellschaftlichen Bereichen Menschen sensibilisiert und Strukturen langfristig verändert werden. Ein solcher tiefgehender Prozess bedürfte eindeutiger politischer Entscheidungen gegen die Diskriminierung von Menschen als "Zigeuner". Dazu würde eine rigorose Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus ebenso gehören, wie eine Aufarbeitung der Nachkriegsverfolgung und Diskriminierung in der BRD. Dazu gehörte auch, auf nationaler und europäischer Ebene wirkungsvolle Maßnahmen zu beschließen, um die Lebensbedingungen von Roma in ganz Europa langfristig und grundlegend zu verbessern.
Bisher jedoch ist ein Großteil der von der EU finanzierten Maßnahmen, wie Bildungsförderung, Wohnungsbauprojekte etc. wirkungslos verpufft. Die europäische Roma-Dekade, die von 2005 bis 2015 geht, hat bis jetzt lediglich eine Verschärfung des Antiziganismus gesehen und nicht wirklich zur Verbesserung der Lebenssituation von Roma und Sinti beigetragen. Der politische Wille und das Interesse, die Diskriminierung von Roma und Sinti nachhaltig und auf allen Ebenen zu bekämpfen, scheinen weder in der BRD, noch auf europäischer Ebene vorhanden zu sein. Ganz im Gegenteil muss Antiziganismus immer noch als allgegenwärtiger Normalzustand angesehen werden. Angesichts des Anstiegs der antiziganistischen Übergriffe, Pogrome und Morde ist das eine traurige und gefährliche Realität.
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- 4 Dez 2009 - 17:48