Am 5. März 2008 wäre der bedeutende Politikwissenschaftler und ehemalige Direktor des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin, Ossip K. Flechtheim, 99 Jahre alt geworden. Er starb vor zehn Jahren am 4. März 1998 einen Tag vor seinen 89. Geburtstag in einer Seniorenresidenz in Kleinmachnow bei Berlin. Dorthin war er kurz zuvor wegen altersbedingter gesundheitlicher Beschwerden mit seiner Frau Lili Flechtheim, geborene Faktor, umgezogen.
Beide hatten sich 1942 in New York als Emigranten jüdischer Herkunft kennen gelernt. Lili Faktor, Tochter des Chefredakteurs des Berliner Börsen–Couriers, in deren Elternhaus bedeutende von den Nazis verfemte Künstler von Rang und Namen verkehrten, war nur knapp durch die Hilfe der Schulfreundin Sibylle Ortmann den mörderischen Verfolgungen des Naziregimes in Europa entkommen. Bitte beachten Sie auch die Rezension der Publikation des Briefwechsels von Sibylle Ortmann „Wir leben nun mal auf einem Vulkan“ auf diesem Webportal: [node:4127]
Ossip Kurt Flechtheim (1909-1998) war Politikwissenschaftler, Rechtssoziologe, Historiker und vor allem Mitbegründer der Zukunftsforschung. Der in der Ukraine geborene, in Münster und Düsseldorf aufgewachsene Forscher und Universitätslehrer wirkte in Deutschland, der Schweiz und den USA. Sein Leben wurde durch die Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt. Diese Ideenwelt und ihre Erschütterungen reflektierte Flechtheim wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen. Sein umfangreiches Werk befasste sich mit den Kardinalproblemen des 20. und 21. Jahrhunderts: Krieg und Frieden, Demokratie und Diktatur, Faschismus und Antifaschismus, dem Nord-Süd-Konflikt, vor allem mit Kapitalismus und Kommunismus in ihren verschiedenen Formen.
Sein Buch über die KPD (1947) ist bis heute ein Standardwerk. Flechtheim war politischer Wissenschaftler im doppelten Wortsinn: Er war einer der Wegbereiter des Faches Politische Wissenschaft in Deutschland, und er verstand Wissenschaft als immanenten Teil politischen Handelns, was eine kritische Distanz zu den Akteuren des politischen Geschäftes voraussetzte. Gleichwohl wirkte Flechtheim von 1952 bis zu seiner Emeritierung 1974 trotz seines umfangreichen publizistischen Werks nicht nur in der abgeschlossenen Welt der theoretischen Wissenschaften.
Er beteiligte sich aktiv am öffentlichen Leben dieser bewegten Jahre der politischen Um- und Aufbrüche im Zuge der Studentenrevolte, über die jetzt im Rückblick viele kritische Publikationen erschienen sind, in denen damalige Aktivisten meinen, die „68er“ auf die RAF reduzieren bzw. mit der „NS-Bewegung“ gleichsetzen zu können. Flechtheims Einschätzung der Studentenbewegung und seine Rolle an der FU sind dem gegenüber ein unverzichtbares und erhellendes Zeitzeugnis.
Ein guter Grund gerade jetzt an Flechtheim anlässlich seines 99. Geburtstages sowie seines Todestages vor zehn Jahren mit Verweis auf die vorliegende Biografie von Mario Kessler zu erinnern. Flechtheim blieb seinen sozialistischen Grundüberzeugungen und Zielen stets treu, womit er sich auch Ablehnung und Kritik einhandelte. Auf Ehrungen verzichtete er gerne. Die ihm 1979 angetragene Verleihung des Bundesverdienstkreuzes lehnte er konsequent ab mit Verweis auf die zahlreichen Träger dieses Ordens mit für ihn „untragbarer Vergangenheit“, weil sie sich „im Dritten Reich schwerster Missetaten schuldig gemacht haben“.
Sein Engagement für eine friedliche und humane Zukunft bestimmte sein gesamtes politisches Denken und Schaffen. Von 1956 bis 1971 war er Mitglied der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus, ab 1971 Mitglied der Humanistischen Union und 1975 bis 1977 Mitglied ihres Bundesvorstands, 1967 Mitbegründer des Republikanischen Clubs e.V. in Berlin, ebenfalls Mitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte und 1974 bis 1996 ihr Vizepräsident, um nur einige seiner gesellschaftspolitischen Betätigungen zu nennen.
Der Autor Mario Kessler, Jg. 1955, der mit Arbeiten zum Antisemitismus und zur Arbeiterbewegung bekannt wurde, arbeitet schon seit fast zwei Jahrzehnten über die Remigranten unter den vertriebenen deutschen Historikern und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Kessler zeichnet chronologisch Flechtheims Lebensweg über Kindheit, Jugend und Studium, das Exil in Genf und den Vereinigten Staaten bis zu seinem akademischen Wirken im Westteil Berlins und zur weltweiten Anerkennung seiner Arbeit nach. Immer bindet er für den Leser hochinformativ auch biografische Seitenblicke auf bedeutende Zeitgenossen Flechtheims ein, vor allem seinen lebenslangen Freund John (Hans) Herz, aber auch Franz Neumann, Hans Mayer, Herbert Marcuse, Richard Löwenthal, Robert Jungk und viele andere.
Der mehr als 50-seitige Anhang enthält eine informative Zeittafel, ein komplettes Schriftenverzeichnis Flechtheims sowie ein Literatur- und Personenregister. Trotz der Vielzahl wissenschaftlicher Belege und Zitate gelingt es Kessler mit zahlreichen Anekdoten und Hintergrundgeschichten die Lebensgeschichte Flechtheims höchst anschaulich und packend zu erzählen und ihn als einen unbestechlichen Humanisten zu würdigen. Diese Biografie ist zugleich als ein hervorragendes Beispiel der Geschichtsschreibung über die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts zu empfehlen.
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- 10 Dez 2009 - 20:33