Geschichtspolitik und Gegenerinnerung
Mit 29 wissenschaftlichen Beiträgen widmet sich der Band 6/2008 der renommierten interdisziplinären Monatszeitschrift Osteuropa dem wichtigen, hochaktuellen und gleichwohl brisanten Thema des Umgangs mit Geschichte und der Ambivalenz von Erinnerung an Krieg, Gewalt und Trauma in folgenden Ländern Osteuropas: Polen Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, der Ukraine und Belarus. Nach sieben einleitenden Beiträgen folgen acht Länderstudien. In weiteren neun Einzelstudien wird der Umgang mit historischer Erinnerung in osteuropäischen Gedenkstätten Museen und Schulbüchern dargestellt. Fünf Beiträge sind Erinnerungsorten in Musik und Literatur in Polen, Tschechien und dem Baltikum gewidmet.
Im 20. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm), haben die Menschen in Mittel- und Osteuropa Revolutionen, Bürgerkriege, Diktaturen, zwei verheerende Weltkriege, Okkupationen, Terror, Vertreibungen, gigantische Massen- und Völkermorde in einer beispiellosen Gewaltentfaltung erfahren, die als traumatische Erinnerungen die jeweils nationalen Geschichtsbilder prägten. Viel ist die Rede von einer europäischen Erinnerungskultur, doch ist eine einheitliche europäische Erinnerungskultur überhaupt denkbar? Kann die EU geschichtspolitisch die Angleichung nationaler Erinnerungskulturen in Osteuropa an westeuropäische Vorgaben einfordern?
Schon die Erinnerungen an 1945 sind quer durch Europa unterschiedlich bis gegensätzlich. Ob für die Zukunft Europas Erinnerung nötig ist, beantwortet György Konrád im ersten Beitrag paradigmatisch mit einem klaren „Ja“. Erinnerung ist unabdingbar. „Wer sich nicht erinnert, der leidet an Bewusstseinsschwund. Doch: „Allmählich, ob sie nun wollen oder nicht, teilen die Europäer ihre Erinnerungen miteinander.“ Programmatisch für die diskutierten Inhalte des Bandes zeigt das Titelbild des Bandes einen Soldaten der Roten Armee, typische Symbolfigur eines sowjetischen Kriegerdenkmals, das im Frühjahr 2007 begleitet von heftigen Protesten, Ausschreitungen in Estland und diplomatischen Spannungen mit Russland aus dem Zentrum Tallins auf einen Friedhof transferiert wurde.
Schnell sind westliche Beobachter mit abwertenden Urteilen zur Stelle, wenn es um die Auseinandersetzungen der Osteuropäer und ihren Umgang mit ihren jeweiligen nationalen Traumata geht. Seit 1989 findet eine z.T. stürmische Aufarbeitung und Neubewertung der Vergangenheit in den osteuropäischen Ländern statt mit häufig ambivalenten Ergebnissen. Ideologische Denkverbote fielen, historische Forschung sowie das Wissen über Orte von Terror und Massenmord ist erheblich gewachsen. Doch andererseits ist auch zu beobachten, dass Politiker, Regierungen, Organisationen, und Verwaltungen Deutungen von Geschichte für eigene Zwecke instrumentalisieren: zur Legitimation von Macht, Mobilisierung von Menschen und nationale Identitätsstiftung. Im Kampf um Deutungshoheit sind auch fragwürdige Versuche zu beobachten, Geschichte nationalistisch zu mythologisieren, ideologisieren, neue Tabus zu verhängen. „Dagegen ist Einspruch zu erheben. Doch widersprüchliche Geschichtsbilder und konkurrierende Erinnerungen sind notwendige Voraussetzungen für Aufklärung und die Herausbildung einer pluralistischen Geschichtskultur“ geben die Herausgeber zu bedenken.
Kenntnisreiche Beobachter und Kommentatoren wie auch Karl Schlögel, Stefan Troebst und andere in diesem Band warnen vor voreiligen und überheblichen Urteilen. Die Be- und Verarbeitung dieser Geschichte braucht Zeit, Geduld, fairen Dialog und seitens der westlichen Europäer auch weitaus gründlichere Kenntnisse dessen, was in den Ländern Osteuropas geschah. Dazu trägt dieser Themenband hervorragend bei, nicht zuletzt auch u.a. auch durch relevante Buchrezensionen im Anhang.
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- 31 Okt 2011 - 12:05