Der Historiker Jan Meiser (M.A.) ist im Bereich der historisch-politischen Jugend- und Erwachsenenbildung zu einer Vielzahl von Themen tätig. Er studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum sowie im Masterstudiengang Geschichte der internationalen Politik an der Philipps-Universität Marburg. Von 2021 bis 2022 war er Bildungsreferent für das YLAB Göttingen und entwickelte dort das Planspiel „In der Paulskirche“. Für den Sammelband „1848/49 in Westfalen-Lippe: Biografische Schlaglichter aus der revolutionshistorischen Peripherie“ (2023) veröffentlichte er eine politische Biografie über den linksliberalen Paulskirchenabgeordneten August Ziegert.

Jan Meiser

Die Frankfurter Nationalversammlung und ihre Verfassungsarbeit verkörpern eine wichtige Wegmarke bei der Entwicklung von Demokratie und Grundrechten in Deutschland. Eine Vielzahl der in der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 aufgenommenen Grundrechte spielen auch in der heutigen Gesellschaft eine zentrale Rolle. So greifen beispielsweise NGO‘s bei ihrer Arbeit auf die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zurück. Ausgehend davon stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, Schülerinnen und Schüler auf lebendige und spielerische Weise an dieses wichtige, über einhundert Jahre zurückliegende Ereignis der deutschen Demokratiegeschichte heranzuführen.

Um einen kreativen und dem forschenden Lernen Raum gebenden Ansatz zu verwirklichen, entschied sich das YLAB – Geisteswissenschaftliches Schülerlabor der Georg-August-Universität Göttingen als außerschulischer Lernort für die Vermittlungsmethode des Planspiels. Bei einem Planspiel übernehmen die Lernenden die Rollen unterschiedlicher Akteure innerhalb eines historischen oder aktuellen politischen Szenariums und erhalten hierdurch die Gelegenheit, die Abläufe eines Ereignisses oder Prozesses zu erfahren. Daher eignet sich diese Vermittlungsmethode gut für die Simulation eines Parlaments und ermöglicht zudem eine intensive Auseinandersetzung mit den Biografien der Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlaments, ihren Geisteshorizonten und politischen Ideen. Das vom YLAB entwickelte Planspiel mit dem Titel „In der Paulskirche“ richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II und dauert ungefähr sieben Zeitstunden. 

Handbuch für das Planspiel und Abstimmungsvorlage (links). Zeitungsmeldung zur Entstehung der Fraktion Landsberg (Bildmitte). Clipschilder für die Abgeordneten und ihre Fraktionen (rechts und unten). Foto: G. Heß.

ZIELSETZUNG DES PLANSPIELS

Mit Hilfe des Planspiels lernen die Jugendlichen die verschiedenen politischen Strömungen der Paulskirche, die sich in den sogenannten Gasthaus-Fraktionen versammelten, kennen. Sie erfahren, dass es in diesem Parlament bereits einen konservativen und linken Liberalismus gab. Zugleich lernen sie, dass die Rolle von Frauen in der Frankfurter Nationalversammlung auf das Zuschauen und Kommentieren von der Galerie aus beschränkt blieb. Sie machen sich mit den Ideen der damaligen demokratischen Bewegung vertraut, von deren parlamentarischen Vertretern erste Impulse zur Lösung der sozialen Frage, wie zum Beispiel die Einführung eines Rechts auf Arbeit, ausgingen.

Anhand des Planspiels erkennen die Teilnehmenden, dass letztendlich keine Fraktion ihr politisches Programm in vollem Umfang durchsetzen konnte. Stattdessen mussten die Abgeordneten in oftmals zähen Verhandlungen um Kompromisse ringen. Sie erkennen hierdurch, dass sich in modernen Verfassungen unterschiedliche politische Wertvorstellungen widerspiegeln, die in einem Diskurs ausgehandelt wurden. Darüber hinaus stellen sie fest, dass viele der Grundrechte, über die damals debattiert wurde, Bestandteile des heutigen Grundgesetzes sind. Ein Anliegen bei der Konzeption des Planspiels war es zudem aufzuzeigen, dass das Leben in freiheitlichen Strukturen keine Selbstverständlichkeit ist. Vielmehr bedurfte es vielfältiger Anstrengungen in Deutschland, um dort dem demokratischen Verfassungsstaat zum Durchbruch zu verhelfen.

Zusätzlich befassen sich die Jugendlichen mit der Funktionsweise des Parlamentarismus, dessen Grundlagen von der Paulskirche im deutschen Kontext entscheidend geprägt wurden. Das betrifft zum Beispiel die fachliche Diskussion in themenbezogenen Ausschüssen oder das Debattieren und Abstimmen im Plenum unter der Anleitung eines Parlamentspräsidiums. 

Das Ziel von „In der Paulskirche“ besteht darin, eine Verfassung für einen deutschen Nationalstaat zu entwerfen, die sowohl Vorgaben für die Staats- und Regierungsform, die Grundrechte, das Wahlrecht als auch für die Grenzziehung Deutschlands enthält. Es ist kein Problem, wenn die von den Jugendlichen spielerisch entwickelte Verfassung vom Original der Reichsverfassung von 1849 abweicht.

Im Rahmen einer anschließenden Reflexion besteht die Möglichkeit, die Planspielverfassung inhaltlich mit dem historischen Original zu vergleichen und nach den Optionen ihrer damaligen Realisierbarkeit zu fragen.

SPIELABLAUF

Zu Beginn ordnen sich die Teilnehmenden Kleingruppen zu und wählen das Profil eines historischen Abgeordneten der Nationalversammlung aus. Die Abgeordnetenprofile umfassen unterschiedliche Vorstellungen zu den Themenbereichen Staats- und Regierungsform, Grundrechte und Wahlrecht/zukünftige Grenzen Deutschlands.

Unter den spielbaren Abgeordneten finden sich etwa der liberale Bankier Hermann von Beckerath oder der demokratische evangelische Pfarrer Karl Kotschy, dessen zweite Muttersprache Polnisch war.

Auf diese Weise können die Jugendlichen sehen, dass die Paulskirche kein ausschließliches „Professorenparlament“ darstellte, sondern auch Vertreter anderer Berufe umfasste. Zudem verdeutlichen die Abgeordnetenprofile, welche Auswirkungen die Lebensumstände und die regionale Herkunft der Parlamentarier auf ihr politisches Weltbild hatten. Die Jugendlichen müssen nun ihren Abgeordneten einer der Parlamentsfraktionen, wie zum Beispiel dem Casino, zuordnen, wozu sie Fraktionsprofile zum Abgleich erhalten. Bei der Erstellung der Abgeordnetenprofile achteten die Spielentwickler darauf, dass diese präzise Aussagen zu den drei Themenbereichen beinhalten, sodass die politische Ausrichtung des jeweiligen Parlamentariers klar ersichtlich wird. Die Casino-Fraktion sollte bei der Durchführung die größte Fraktion darstellen, da dies den realen politischen Kräfteverhältnissen in der Paulskirche entspricht. Zwei Jugendliche übernehmen die Rollen des Parlamentspräsidenten und des Vizepräsidenten. Die Aufgabe des Parlamentspräsidiums besteht vor allem darin, während des Planspiels Kompromisslösungen zwischen den beteiligten Fraktionen herzustellen und die finale Abschlussdebatte zu leiten. 

Nach der Zuordnungsphase beginnt für die Teilnehmenden die Arbeit in den drei Fraktionssitzungen und den drei Themenausschüssen. Es gibt dabei insgesamt drei Fraktionssitzungen und zwei Sitzungen in den Ausschüssen. Innerhalb der ersten Fraktionssitzung überlegen die Jugendlichen, welche politischen Zielsetzungen für ihre Fraktion besonders wichtig sind. So will etwa die liberal-konservative Casino-Fraktion eine konstitutionelle Monarchie mit einem starken Kaiser und ein Zensuswahlrecht durchsetzen, während die linke Fraktion Donnersberg für die Einführung einer sozialen Republik mit einem allgemeinen Männerwahlrecht eintritt. Des Weiteren müssen die Mitglieder der Fraktionen überlegen, wer von ihnen in welchen Ausschuss gehen soll. In den Ausschüssen geht es darum, für die jeweiligen Themenbereiche Allianzen mit den anderen Fraktionen zu bilden und Kompromisse zu erarbeiten. Dennoch sollten die Fraktionen darauf achten, möglichst viele Punkte ihres Programms umsetzen zu können. 

 

Abgeordnetenprofil des Jenaer Richters Christian Schüler (rechts). Spielanleitung für die Abgeordneten (unten). Foto: G. Heß.

In der zweiten Fraktionssitzung steht dann eine spezielle Wendung an, die eine Spaltung der Casino-Fraktion in die neu zu gründende Fraktion Landsberg vorsieht. Dieses Element soll die oftmals in der Frankfurter Nationalversammlung vorkommenden Fraktionsspaltungen repräsentieren, die sich auf Grund von Differenzen zu spezifischen Fragestellungen ereigneten. Als historische Vorlage greift das Planspiel auf die Entstehung der sich links vom Casino positionierenden Fraktion Landsberg im September 1848 zurück. Zur Gründung dieser Fraktion kam es, da eine Reihe von Casino-Abgeordneten eine stärkere Rolle des zukünftigen deutschen Parlaments sowie ein Wahlrecht auf breiterer Grundlage anstrebte. 

Für die Durchführung der Fraktionsspaltung erhalten die Mitglieder der Casino-Fraktion eine Ereigniskarte, die die Unzufriedenheit einiger Fraktionsmitglieder benennt und auf die politische Ausrichtung der neu zu gründenden Fraktion eingeht. 

Ausgehend von ihrem Spielerprofil müssen die Casino-Abgeordneten überlegen, welche Abgeordnete sich auf Grund ihrer Programmatik am besten dafür eignen, in die neue Fraktion zu wechseln. Nachdem der Spaltungsprozess abgeschlossen ist, erhalten die Landsberg-Mitglieder auch ein eigenes Fraktionsprofil. Ein weiteres Spielelement sind die sogenannten Sympathietaler, die ab der zweiten Fraktionssitzung zweimal vergeben werden können. Jede Fraktion erhält vier Taler, die an andere Fraktionen verteilt werden und dem Zweck dienen, auf die Entscheidungen der anderen Fraktion einzuwirken. Dem Präsidium obliegt der Vergabevorgang. 

Profile der Fraktionen Donnersberg, Württemberger Hof und Deutscher Hof, Abgeordnetenprofil des Geschichtsprofessors Friedrich Christoph Dahlmann aus Bonn (rechts und unten). Foto: G. Heß.

In der finalen Abschlussdebatte, die vom Parlamentspräsidenten mit einer kurzen Einführungsrede eröffnet wird, diskutieren die Teilnehmenden nacheinander die drei Themenblöcke und stimmen mit einfacher Mehrheit darüber ab. Jede Fraktion nominiert im Vorfeld einen Redner für einen der Themenbereiche. Bei den Abstimmungen gibt es keine Fraktionsdisziplin, da dieses Instrument in der Paulskirche noch nicht bekannt war. Das Präsidium fasst am Ende die beschlossenen Inhalte noch einmal zusammen. 

ERFAHRUNGSWERTE

Das Planspiel wurde von den Jugendlichen der Jahrgangsstufen 10 bis 12 sowie den begleitenden Lehrkräften durchwegs positiv beurteilt. Dabei wird sowohl der Effekt des historischen Lernens, der spielerische Zugangs zu demokratischen Aushandlungsprozessen im historischen Setting als auch der motivationsfördernde Aspekt des „spielenden Lernens“ betont. 

Viele Jugendliche gaben an, durch das Planspiel einen besseren Einblick in die politischen Herausforderungen erhalten zu haben, mit denen sich die Paulskirche konfrontiert sah. Zudem sei ihnen die große Bedeutung der Kompromissfindung für das Funktionieren parlamentarischer Prozesse bewusst geworden. Das Ereignis der Fraktionsspaltung wird als spannend charakterisiert, da hierdurch noch einmal eine neue Dynamik in das Spielgeschehen komme.

VORBEREITUNG UND KONTAKT

Das Planspiel wird in der Regel im YLAB der Universität Göttingen durchgeführt und kann dort gebucht werden (https://ylab.uni-goettingen.de/in-der-paulskirche/). Es besteht zudem die Möglichkeit, den Spieleentwickler Jan Meiser für eine Durchführung anzufragen. Für die Durchführung werden mehrere kleinere Räume oder ein großer Raum benötigt. Zudem muss eine ausreichende Anzahl an Tischen und Stühlen für die Fraktionen und Ausschüsse vorhanden sein. Vorkenntnisse zur 1848er Revolution sind hilfreich, jedoch nicht zwingend erforderlich. 

KONTAKT

Planspiel „In der Paulskirche“
Kontaktanfragen an: buero [at] ylab [dot] uni-goettingen [dot] de

 

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