Empfehlung Ausstellung

Orte des Erinnerns – Auseinandersetzung mit der historischen Realität einer Nachbarschaft

Stephanie Beetz ist studentisches Mitglied der LaG-Redaktion.    

von Stephanie Beetz

Einem eiligen Passanten oder einer Fahrradfahrerin mögen die Schilder im Bayerischen Viertel in Berlin nicht direkt auffallen. In drei Meter Höhe hängen sie an Straßenlaternen und Mästen zwischen dem Rathaus Schöneberg und der Hohenstaufenstraße im Bezirk Berlin Schöneberg-Tempelhof. Mit ihren bunten Abbildungen auf einer der beiden Seiten sehen sie auf den ersten Blick wie Reklame aus – dass sie es nicht sind, erschließt sich erst, wenn man sie liest. Die Schilder gehören zu den Orten des Erinnerns, einem Flächendenkmal mit 80 Tafeln, das an die Entrechtung und Vertreibung der jüdischen Bewohner*innen des Bayerischen Viertels während des Nationalsozialismus erinnert.

Dass das Bayerische Viertel einmal Heimat von rund 16.000 Jüdinnen und Juden war, wäre sonst heute kaum sichtbar. Auch ein unscheinbares Denkmal, das an eine Synagoge in der Münchner Straße erinnert, lässt nicht auf die vielfältige jüdische Vergangenheit des Viertels schließen, das zwischen 1900 und 1914 auf einem Feld außerhalb Berlins gebaut wurde. Erschlossen wurde es von der Berlinischen Boden-Gesellschaft (BBG) unter ihrem Mitbegründer Salomon Haberland. Der jüdische Unternehmer plante das Viertel für ein überwiegend bürgerliches Publikum in der damals noch kreisfreien Stadt Schöneberg. Tatsächlich zogen nach Fertigstellung des Viertels viele Ärzte, Rechtsanwälte, Politiker*innen und Künstler*innen dorthin. Bis 1933 lebten und arbeiteten im Bayerischen Viertel viele jüdische, aber auch nicht-jüdische Menschen, die Kinder gingen hier zu Schule. Auch jüdische Intellektuelle wie Hannah Arendt, Erich Fromm, Albert Einstein und Gisèle Freund wohnten hier.

Lange Zeit war diese Geschichte ebenso unsichtbar wie die Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus. Den Künstler*innen des Denkmals, Renata Stih und Frieder Schnock, fiel bei einem Spaziergang durch das Bayerische Viertel 1991 auf, dass es dort nichts gab, dass an die jüdische Geschichte des Ortes und an die Opfer der Shoah hinwies und veranlasste diese dazu die Orte des Erinnerns zu entwickeln. Kurz darauf riefen der Berliner Senat und das Kunstamt Schöneberg zu einem Ideenwettbewerb für ein Denkmal auf, das daran erinnern sollte. 

Die Orte des Erinnerns

Renata Stih und Frieder Schnock konzipierten ein dezentrales Denkmal, das die historische Realität aus dem Nationalsozialismus mit dem gegenwärtigen öffentlichen Raum verbindet. Es rückt Taten in den Vordergrund. Gleichzeitig wird die umfassende Entwürdigung sichtbar. Auf 80 Metalltafeln veranschaulichen Ausschnitte aus nationalsozialistischen Gesetzen und Verordnungen sowie dazu passende Illustrationen die systematische Entrechtung von Jüdinnen und Juden.

 

Darstellung eines Brotlaibes als ein Schild der Orte des Erinnerns, Berlin-Schöneberg, 2024. Foto: Stephanie Beetz.

So ist auf einem Schild in der Münchner Straße zu lesen, dass „Juden [...] aus Sport- und Turnvereinen ausgeschlossen [werden]“, darunter das Datum des Erlasses, 25.04.1938. Auf einem weiteren Schild erinnern ein Fieberthermometer sowie ein Gesetzestext auf der Rückseite daran, dass jüdische Ärzte ab dem 25.07.1938 nicht mehr praktizieren dürfen. Die Gesetze werden im Präsens zitiert. Zudem knüpft ihre Platzierung gelegentlich an die unmittelbare Umgebung an, wie etwa der Hinweis auf das Verbot zum Kauf von Süßigkeiten, welches neben einem Delikatessengeschäft platziert wurde. Auf diese Weise zeigen die Orte des Erinnerns die Demütigungen und Entrechtung der jüdischen Menschen, gleichzeitig deren Sichtbarkeit für die deutsche Mehrheitsgesellschaft und deren Rolle im Nationalsozialismus.

Erinnerungskultur und Zivilgesellschaft

Die Orte des Erinnerns erzählen auch die Geschichte eines durch die Zivilgesellschaft hervorgerufenen Wandels in der deutschen Erinnerungskultur, dessen Auswirkungen im öffentlichen Raum ausgetragen wurden und sichtbar gemacht werden können. So ist zwar die Art und Umsetzung des Denkmals zwei Künstler*innen zu verdanken, die durch das Fehlen von Erinnerung und Gedenken motiviert wurden. Dass aber die Orte des Erinnernsüberhaupt errichtet werden konnten, war nur durch eine Nachbarschaftsinitiative im Bayerischen Viertel möglich. Diese begann in den 1980er Jahren, das Leben der jüdischen Bevölkerung in Schöneberg und deren Vertreibung im Nationalsozialismus zu erforschen. Rund zehn Jahre später begab sich auch Andreas Wilcke, damaliger Bezirksverordneter in Schöneberg, auf Spurensuche. Er trug innerhalb eines Jahres die Namen der deportierten Menschen aus seinem Bezirk zusammen und übergab sie der dortigen Bezirksverordnetenversammlung. Diese Initiativen mündeten in den 1990er Jahren in einen vom Bezirk Schöneberg-Tempelhof ausgeschriebenen Ideenwettbewerb für ein Denkmal zur Erinnerung an die jüdischen Bewohner*innen des Bayerischen Viertels und deren Entrechtung. An eben jenem Wettbewerb beteiligten sich Renata Stih und Frieder Schnock, die bereits an der Planung eines Denkmals arbeiteten.

Die Straße als Streitraum

Die Entstehungsgeschichte der Orte des Erinnerns zeigt den Einfluss, den zivilgesellschaftliche Akteure auf die Erinnerungskultur und auf die Gestaltung des Stadtbildes haben können. Sie verdeutlicht auch, wie Nachbarschaften dadurch zum Ort politischer Auseinandersetzung werden können. Regelmäßig sieht man Menschen, die vor den Schildern des Bayerischen Viertels stehen und diese lesen, oder geführte Gruppen, die über sie reden. Die Schilder regen zur Auseinandersetzung an – und sie provozieren.

 

Schild der Orte des Erinnerns zur Diskriminierung bei Heirat mit Juden vom 08.06.1937, Berlin-Schöneberg, 2024. Foto: Stephanie Beetz. 

Zu Beginn gab es Beschwerden von den Anwohner*innen bei der Errichtung des Denkmals.

Es kam zu antisemitischen Beschimpfungen gegenüber den Monteuren der Schilder, ein Polizeiruf veranlasste die zeitweise Unterbrechung der Konstruktion. Bis heute und verstärkt seit dem 7. Oktober 2023 kommt es zu antisemitischen Beschädigungen am Denkmal.

Diese Entwicklungen zeigen die Notwendigkeit des Denkmals und damit verbunden die Relevanz des Erinnerns im öffentlichen Raum: Denkmäler dieser Art können provozieren, zum Nachdenken anregen und Lücken in der Erinnerungskultur schließen. Gleichzeitig sind die Straßen, auf denen sie sich befinden, Orte, an denen unterschiedliche Positionen aufeinanderstoßen und immer wieder verhandelt werden müssen. 

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.