Die Straße als Protestraum im Wandel mediatisierter Öffentlichkeiten
von Kathrin Fahlenbrach
Die Straße hat eine lange Geschichte als Ort des Aufbegehrens gegen Obrigkeiten und der öffentlichen Manifestation kollektiver Interessen und Bedürfnisse. In Europa ist sie spätestens mit der französischen Revolution zu einem mythischen Ort geworden, an dem sich der ‚Wille des Volkes‘ formiert. Zu dieser mythischen Zuschreibung trug wesentlich bei, dass seit der Neuzeit Proteste auf der Straße immer wieder autoritäre Herrschaftsverhältnisse in Europa ins Wanken oder gar zum Einsturz brachten. Damit hat sich die Straße historisch als ein zentraler Ort demokratischen Wandels erwiesen.
Der Mythos der Straße als ‚Ort des Volkes‘ speist sich daneben aus psychosozialen Erfahrungen. Die eigene Anwesenheit in einer Masse bei Demonstrationen, Aufmärschen oder Barrikadenkämpfen kann starke Gemeinschaftsgefühle wecken. Das gemeinsame Gehen, Skandieren von Parolen und Zeigen von Protestemblemen lässt die Einzelnen sich als Teil eines symbolischen Kollektivkörpers erfahren. Je größer die Menge, desto größer ist daher die Chance, dass diese sich im Moment des Protestes als machtvoll erfährt. Dieser Moment der Selbstermächtigung verbindet sich performativ mit Überzeugungen und kollektiven Emotionen wie Wut, Empörung oder Stolz.
Auf der einen Seite zeichnet Straßenproteste also ein hohes Potential an individuell und kollektiv erfahrenen Emotionen aus, die bis heute ihren Ereignischarakter prägen. Als solche stellen sie auf der anderen Seite bis heute eine wichtige instrumentelle Ressource in politischen Machtkämpfen (etwa Demokratie-Proteste in Belarus) sowie im Kampf um gesellschaftliche Deutungshoheit (z.B. Querdenker-Proteste) dar. Dies ist umso bemerkenswerter, als Öffentlichkeit längst nicht mehr nur über die Straße hergestellt wird, sondern sich in einem steten Prozess der Mediatisierung befindet. Welche Funktion hat die Straße als Protestraum im medialen Wandel erfahren und welchen Stellenwert hat sie heute noch?
Die massenmediale Ausweitung der Straße als Protestraum
Die Straße unterliegt als Ort des kollektiven Protestes einem anhaltenden Wandel von Öffentlichkeit und damit auch einem medialen Wandel (Fahlenbrach 2008). Lange Zeit war die Reichweite von Straßenprotesten begrenzt auf die primäre Öffentlichkeit vor Ort: auf die zur selben Zeit dort Anwesenden, also vor allem Demonstrierende, Passant:innen und Polizei. Straßenproteste störten die öffentliche Ordnung in einem begrenzten lokalen Raum, was gerade in monarchischen Gesellschaften wie im Frankreich des 18. Jahrhunderts eine enorme Provokation darstellte. Allerdings war auch diese primäre Öffentlichkeit spätestens seit dem Aufkommen der Drucktechnik mediatisiert: Flugblätter, die für Straßenproteste mobilisieren, wie die berühmten Aufrufe zum „Sturm auf die Bastille“ im revolutionären Paris.
Der öffentliche Resonanzraum der Straße als Protestort erweiterte sich freilich erheblich mit der Ausweitung des Pressewesens und der Differenzierung der Nachrichtenmedien im 20. Jahrhundert. Vor allem telekommunikative Technologien der Informationsverbreitung – wie das Telefon, das Fax-Gerät, das Radio und schließlich das Fernsehen – ließen die zeitliche Distanz zwischen den Ereignissen auf der Straße und ihrer überregionalen, gar internationalen Verbreitung schrumpfen und brachten sie schließlich ganz zum Verschwinden. Radio und Fernsehen ließen ihr Publikum in den 1960er Jahren live an Protesten gegen den Vietnamkrieg auf den Straßen Washingtons oder gegen den Besuch des persischen Schahs auf den Straßen Berlins und Hamburgs teilnehmen. Im Modus des medialen Dabei-Seins können sich seitdem auch Menschen von den Protesten angesprochen oder angegriffen fühlen, die sich weitab des lokalen Straßenprotestes befinden. Gerade das visuelle Erleben gewalttätiger Konfrontationen zwischen Demonstrierenden und Polizei kann Menschen zur Teilnahme an den Protesten oder gar zur Organisation eigener Proteste mobilisieren (Razsa 2014). Es sind besonders die fotografischen und televisuellen Bilder des Straßenprotestes, die seine Wirkmächtigkeit exponentiell erhöhen. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Protestierende ihre Straßenaktionen vor allem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend den visuellen Selektions- und Inszenierungsprinzipien des Fernsehens, aber auch der Printmedien anpassten.
Pioniere waren in dieser Hinsicht die antiautoritären Bewegungen Ende der 1960er Jahre. Inspiriert von interventionistischen Konzepten der Situationisten entwickelten sie neue performative und symbolische Happeningformen wie Sit-ins oder symbolische Trauerzüge, in denen sie Situationen auf der Straße schufen, zu denen sich auch Unbeteiligte vor Ort verhalten mussten. Gerade solche symbolischen Aktionen, die heute in Flashmobs ihre Fortsetzung finden, hatten von Anfang an einen visuellen Spektakelcharakter, der sie in den Fokus der Nachrichtenmedien rücken ließ. In solchen Aktionen fungiert nicht nur die Masse als Argument, sondern auch die spezifische Form und der Ort der Aktion – etwa Teach-ins an Universitäten als Störungen tradierter Abläufe und Inhalte der akademischen Lehre. Die Formierung zum symbolischen Kollektivkörper wird damit szenisch weitergeführt und geht über die bloße Manifestation von Gemeinschaft hinaus. Solche symbolischen Szenarien beziehen auch den journalistischen Kamerablick mit ein (Fahlenbrach 2008). Dies gilt auch für die Inszenierung von Einzelnen als Symbolfiguren des Protestes – wie die US-amerikanische Aktivistin Jan Rose Kasmir, die sich während eines Vietnamkriegsprotestes in Washington mit einer Blume vor eine Reihe bewaffneter Soldaten stellte und deren Foto zu einer Ikone des Antikriegsbewegung wurde.
Die visuelle Inszenierung von Protestformen setzte sich in der Folge fort. Dabei fand eine wachsende Fokussierung auf Straßenproteste als „image events“ statt (Delicath/De Luca 2003). Sternmärsche und Menschenketten der Friedensbewegung der 1980er Jahre etwa formierten sich im Bewusstsein der sie von oben begleitenden Kameras. Dasselbe gilt für überdimensionale Flaggen – wie etwa der Regenbogenflagge, die für die mediale Vogelperspektive auf den Körpern der Teilnehmenden eines ganzen Protestzuges getragen wurde. Der Effekt dieser menschlich bewegten ‚Körper-Flagge’ stellte sich nicht etwa bei den lokalen Zuschauer:innen und Passant:innen auf der Straße ein, sondern beim Medienpublikum, das auch der erste Adressat der Aktionen war. Für die Protestmobilisierung wurde der Straßenraum also immer stärker den massenmedialen Bedingungen angepasst. Seit den 1980er Jahren werden Protestaktionen auf der Straße und an anderen symbolträchtigen Orten von NGOs zunehmend professionell geplant, teilweise unterstützt von PR-Agenturen. Ziel etwa der von Greenpeace in Szene gesetzten öffentlichen Die-ins ist es, die Gefahren der Klimawandels sinnfällig zu machen und möglichst hohe öffentliche Aufmerksamkeit hierfür zu erzielen.
Die hier nur knapp skizzierte Entwicklung zeigt: Die Ausweitung von Öffentlichkeit durch elektronische Telekommunikationsmedien, die Simultaneität der Nachrichtenübertragung sowie die Tendenz zur Visualisierung von Nachrichten haben wesentlich zur öffentlichen Ausweitung der Straße als Protestraum beigetragen und neuen (Bild-)Formen des Protests Vorschub geleistet.
Die Ausweitung der Straße als Protestraum in die digitalen Netzmedien
Um 2000 erfuhr die Protestkultur einen nächsten Paradigmenwechsel, der die Mediatisierung der Straße als Protestraum weiter vorantrieb. Bis dato konnten Protestakteure ihre Sichtbarkeit in der massenmedialen Öffentlichkeit nur über Allianzen mit Gatekeepern in den Redaktionen oder über die gezielte Adressierung von Nachrichtenfaktoren beeinflussen. Die Chance, nun über das Internet nicht nur eigenständig Bilder von Protesten öffentlich zu verbreiten, sondern auch – im Web 1.0 – über E-Mail-Verteiler und Websites Proteste zu organisieren bzw. hierfür zu mobilisieren, stellte eine erhebliche Erweiterung aktivistischer Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung dar. Die Bilder der globalisierungskritischen Proteste beim G20-Gipfel in Seattle 1999 wurden auf bewegungseigenen Websites verbreitet, ohne redaktionelle Selektion und Rahmung. Auf diese Weise gelangten Fotos und Videos der „Battles of Seattle“, die eindrücklich die Polizeigewalt gegen friedliche Straßenproteste der Aktivist:innen dokumentierten, ungefiltert in die internationale Öffentlichkeit. Diese Bilder trugen wesentlich zur globalisierungskritischen Mobilisierung von Aktivist:innen auf den Straßen in Europa und anderen Regionen der Welt bei.
Die Hybridisierung der Straße als Protestraum schritt weiter voran, als sich um 2010 mit dem Aufkommen von sozialen Online-Plattformen das Web 2.0 entwickelte (vgl. Abbildung).
Straßenproteste als Image Events auf Social-Media-Plattformen: #letztegeneration auf TikTok, Screenshots, abgerufen am 18.11.2024.
Jede und jeder hatte auf einmal die Möglichkeit, sich auf selbst gestalteten Profilseiten auf Facebook oder MySpace sowie über Postings, Likes und Teilen mit anderen zu vernetzen und sich eigene, personalisierte Öffentlichkeitsräume zu schaffen. Das Web 2.0 leistete damit neuen Dimensionen der grenzüberschreitenden Vernetzung und Ausbildung aktivistischer Gemeinschaften Vorschub (Fielitz/Staemmler 2020). Wie es Castells (2015), anfangs noch euphorisch, prognostizierte, sahen Aktivist:innen auf Plattformen wie Facebook oder YouTube die Chance auf freie, unzensierte sowie autonome Räume, in denen sie sich organisieren und vernetzen. Aber auch und zugleich ihre eigenen Bilder von Straßenprotesten konnten sie nun ungefiltert verbreiten. Der Erfolg der Straßenproteste in einigen nordafrikanischen Ländern, die um 2010 als Arabischer Frühling in die Geschichte eingingen, schienen den frühen Netzutopien Recht zu geben. Zweifellos boten Plattformen wie Facebook und YouTube den Protestierenden gänzlich neue Möglichkeiten zur Selbstorganisation, aber auch zur unzensierten, öffentlichkeitswirksamen und globalen Verbreitung von Bildern der Straßenproteste.
Die neuen digitalen Freiräume wurden allerdings schon bald durch eine umfassende Ökonomisierung der sozialen Plattformen konterkariert. Waren es vormals besonders die journalistische Filter, die die öffentliche Sichtbarkeit von Straßenprotesten lenkten, sind es seitdem stärker als zuvor die ökonomisch auf maximale Abrufzahlen, virale Potenz und Big Data hin optimierten Algorithmen, welche automatisiert über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Postings entscheiden. So mag es nur folgerichtig sein, dass sich in den Netzwerken des Plattformkapitalismus neue aktivistische Milieus Sichtbarkeit verschaffen, welche die Algorithmen mit affektiv polarisierenden und radikalen Positionen bedienen – wie es aktuell rechtsextremen Akteur:innen auf TikTok gelingt.
Inzwischen haben aber auch einige links-liberale und emanzipative Bewegungen die algorithmischen Bilddynamiken der Netzöffentlichkeiten verstanden und schaffen darauf abgestimmte Bildereignisse des Straßenprotests (siehe Abbildung). So etwa die Klimaaktivist:innen, die durch Blockaden des Straßenverkehrs in den Alltag der Menschen eingriffen und sie – ganz im situationistischen Sinne – mit ihrer eigenen Verantwortung für die Klimakrise konfrontierten. Damit evozierten sie symbolträchtige Bilder von sich märtyrergleich dem Autoverkehr, dem Hass und der Gewalt von Mitbürger:innen und Polizei aussetzenden Aktivist:innen. Das Festkleben der Hände auf dem Asphalt als symbolischer Akt der Selbstverletzung und physischen Gefährdung geriet so zu einem moralischen Sinnbild, das die viralen Verbreitungsdynamiken erfolgreich bediente. Gleichzeitig haben diese Bilder vor allem in den polarisierten Netzöffentlichkeiten die Fronten eher weiter verhärtet.
Gerade angesichts der schwindenden Sichtbarkeit, den besonders links-liberale und emanzipative Aktivist:innen in den fragmentierten und personalisierten Öffentlichkeiten des Social Web heute erfahren, wird die Straße als Protestraum offenbar wichtiger denn je: nicht nur als Ort der demokratischen Selbst-Behauptung und der kollektiven Selbstermächtigung in einer ansonsten fragmentierten Öffentlichkeit. Sondern auch als Ort der Genese symbolträchtiger und algorithmisch attraktiver Bilder des Straßenprotestes, die übergreifende Aufmerksamkeit erzielen können.
Literatur
Castells, Manuel: Networks of Outrage and Hope. Social Movements in the Internet Age, Malden 2015.
Delicath John W./De Luca Kevin M.: Image Events, the Public Sphere, and Argumentative Practice: The Case of Radical Environmental Groups, in: Argumentation, Jg. 17 (2003), S. 315–333.
Fahlenbrach, Kathrin: Protest-Räume – Medien-Räume. Zur rituellen Topologie der Straße als Protest-Raum, in: Geschke, Sandra Maria (Hrsg.): Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraums an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Wiesbaden 2008, S. 98–111.
Fielitz, Maik/Staemmler, Daniel: Hashtags, Tweets, Protest? Varianten des digitalen Aktivismus, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 33 (2020), H. 2, S. 425–441.
Razsa, Maple John: Beyond ‘Riot Porn’: Protest Video and the Production of Unruly Subjects, in: ethnos, Jg. 79 (2014), H. 4, S. 496–524.
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- 18 Dez 2024 - 09:50