„IWitness“. Die deutsche Webpage der didaktischen Plattform des Visual History Archives
von Andrea Szőnyi, Wolf Kaiser
Es wird häufig beklagt, dass Zeitzeugengespräche mit Überlebenden der Shoah nur noch sehr selten möglich sind. Ihre Erinnerungen sind aber in zehntausenden aufgezeichneten Interviews festgehalten worden und archiviert. Das Visual History Archive der USC Shoah Foundation ist das mit Abstand größte Archiv dieser Art. Es bewahrt videografierte Interviews mit Überlebenden des Holocaust und weiterer NS-Verbrechen sowie anderer organisierter Massengewalt auf. Viele der in zahlreichen Sprachen geführten Interviews sind nach kostenloser Registrierung online zugänglich. Zugang zum gesamten Archiv ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz über den Fachinformationsdienst Geschichtswissenschaft und bei verschiedenen Institutionen möglich. In den meist zwei- bis dreistündigen Interviews geben die Befragten Auskunft über ihre Lebensgeschichte und insbesondere über ihre Erfahrungen in der Zeit der NS-Diktatur. Die Aufzeichnungen sind in Clips segmentiert, deren Inhalt in englischsprachigen Schlagworten zusammengefasst ist. Neben den Videos enthält das Archiv auch biografische Daten der Interviewten und ein Verzeichnis der von ihnen genannten Personen sowie bei allen deutschsprachigen Interviews eine Transkription. Über eine Suchfunktion sind so Aussagen zu historischen Daten, Fakten, Orten und Personen leicht auffindbar.
So aufschlussreich und eindrucksvoll Video-Interviews mit Überlebenden der Shoah auch sind, so sind sie doch für sich genommen kein Bildungsmaterial und keineswegs ein Ersatz für ein Zeitzeugengespräch. Für den Unterricht müssen Ausschnitte sorgfältig ausgewählt und besprochen werden, und in ein gut überlegtes didaktisches Konzept eingebettet sein. Nur dann werden sie Schülerinnen und Schüler kognitiv, emotional und moralisch fördern.
Die online-Plattform IWitness bietet dafür vielfältige Materialien, Anregungen und Vorschläge. Außer den mehr als 4000 vollständigen Interviews aus dem Visual History Archive, die auch über IWitness zugänglich sind, stellt die Plattform unter anderem kurze Clips mit pointierten Aussagen Überlebender zu bestimmten Aspekten ihrer Erfahrungen bereit, die als Einstieg zur Auseinandersetzung mit einem Thema wie z.B. dem „Anschluss“ Österreichs verwendet werden können. Es lassen sich auch verschiedene Clips miteinander kontrastieren, um die Vielfalt der Perspektiven und Einschätzungen zu verdeutlichen. Die Clips stehen online oder nach einem Download auch offline zur Verfügung. Wenn Lernende und Lehrende von einem Clip besonders angesprochen werden, haben sie die Möglichkeit, das ganze Interview aufzurufen und daraus selbst bestimmte Passagen auszusuchen, je nachdem, welche Frage sie jeweils interessiert.
Darüber hinaus werden auf IWitness so genannte „Aktivitäten“ vorgeschlagen: Diese umfassen ganze Unterrichtseinheiten, komplexe Gruppenaufgaben zu bestimmten Themen, Video-Projekte oder Vorschläge für einzelne Unterrichtsstunden. Für Lehrende werden außerdem Informationen zu didaktischen Fragen des Umgangs mit Zeitzeugen-Interviews und technische Hinweise zur Registrierung als Lehrende oder Lernende, zur Organisation und Begleitung des Lernprozesses, zur Nutzung eines Video-Editors usw. bereitgestellt.
IWitness bietet seit geraumer Zeit Clips und „Aktivitäten“ in deutscher Sprache an. Dazu ist jüngst eine eigene Webpage entwickelt worden, die eine Übersicht über die deutschsprachigen Angebote ermöglicht. Diese sind zum großen Teil in österreichisch-deutsch-schweizerischer Zusammenarbeit zwischen ERINNERN.AT, der Europa Universität Flensburg und der Pädagogischen Hochschule Luzern entstanden, die ihr Projekt «LEBENSGESCHICHTEN» genannt haben.
Derzeit werden 20 deutschsprachige „Aktivitäten“ präsentiert, die ein breites Spektrum von Ereignissen und Erfahrungen unter der NS-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg thematisieren, darunter den „Anschluss“ Österreichs, die „Reichskristallnacht“, den Kindertransport, die NS-„Volksgemeinschaft“, Erziehung und nationalsozialistische Propaganda, die Verfolgung Homosexueller und den Umgang der Schweiz mit Flüchtlingen. Anfang November 2024 wird eine Aktivität zur Verfolgung der Roma im Nationalsozialismus hinzukommen. Es gibt Angebote für verschiedene Schul- und Ausbildungsstufen, von der 4.–6. Klasse bis zur 10.–12. Klasse und Universitätskursen. Die Aktivitäten sind für Gruppen konzipiert, können aber auch von einzelnen Schülerinnen und Schülern ausgeführt werden.
Lehrende und Lernende finden dort neben Interview-Ausschnitten digital abrufbare Lernmaterialien (Fotos, Dokumente, Abbildungen von Artefakten usw.) und Fragestellungen zur Kontextualisierung und Erschließung der Interviews sowie produktions- und handlungsorientierte Aufgaben, die geeignet sind, vielfältige Kompetenzen zu fördern. Geschichte als etwas zu begreifen, das realen Menschen widerfahren und von ihnen gemacht ist, kann dazu motivieren, sich mit historischen Vorgängen intensiv auseinanderzusetzen, sei es im Unterricht oder an außerschulischen Lernorten wie Gedenkstätten und Museen. Die Interviews und begleitenden Materialien unterstützen einen intellektuell anregenden und die Lernenden emotional engagierenden Unterricht, der gegenwartsbezogene Erörterungen mit historischen Einsichten verbindet.
Die Aktivitäten sind meist so aufgebaut, dass die Lernenden zunächst grundlegende Kenntnisse zum jeweiligen Thema erwerben. Das geschieht anhand von Text- und Bild-Dokumenten, aber auch mit Hilfe von Erinnerungen Überlebender. In einem zweiten Schritt befragen sie die Interview-Ausschnitte darauf, wie Überlebende das jeweilige Ereignis oder die thematisierten Umstände und Praktiken wahrgenommen haben. Im dritten Schritt lösen die Lernenden eine Produktionsaufgabe, indem sie z. B. einen kurzen reflektierenden Text verfassen, eine Zusammenfassung von Ergebnissen schreiben oder ihre Einsichten und Empfindungen mit künstlerischen Mitteln zum Ausdruck bringen, etwa durch die Anfertigung einer Zeichnung oder eines Gedichts. Schließlich stellen sie ihre Produktionen in der Gruppe vor, um sie zu kommentieren und zu diskutieren. Die vier Schritte entsprechen den Erkenntnissen der konstruktivistischen Lerntheorie und werden auch mit den dort verwendeten Begriffen Consider, Collect, Construct, Communicate bezeichnet (Gombár et al. 2024: 83f.).
Auf sozialwissenschaftlichen und psychologischen Methoden basierende Evaluationen haben gezeigt, dass sowohl das kognitive Verständnis als auch das emotionale Engagement durch die Arbeit mit Zeitzeugenberichten im Unterricht erheblich gefördert wird (Szőnyi/Street 2018; Szőnyi 2024). Indem sie die Lernenden mit Personen in Verbindung bringen, die historische Ereignisse erlebt und erlitten haben, werden die vermittelten Inhalte greifbar und fesselnd. Darüber hinaus können Reflexionsprozesse in Gang gesetzt werden, die gegenwärtige Einstellungen und Haltungen auf den Prüfstand stellen und verändern. Daher kann „IWitness“ nicht nur im Geschichtsunterricht, sondern auch in anderen Fächern gewinnbringend verwendet werden.
Literatur
Gombár, Zsófia et al.: Digital humanities at the service of remembrance. The creation of digital archive-based activities within the project ‘Remembering the Past, Learning for the Future’, in: International Journal of Humanities and Arts Computing, Jg. 18 (2024), H. 1, S. 79–94.
Szőnyi, Andrea und Street, Kori: Videotaped testimonies of victims of National Socialism in educational programs. The example of USC Shoah Foundation’s online platform IWitness, in: Dreier, Werner/Laumer, Angelika/Wein, Moritz: Interactions. Explorations of good practice in educational work with video testimonies of victims of National Socialism, Berlin 2018, S. 266– 279, URL: https://www.stiftung-evz.de/service/infothek/publikationen/#c3404 [8.10.2024].
Szőnyi, Andrea: Testimony in Context, in: Journal of Museum Education, Bd. 49, H. 1 (2024), S. 37–48.
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- 30 Okt 2024 - 07:51