Im Gespräch

Zur Erinnerung an den Widerstand gegen den Staatssozialismus in Ostmitteleuropa – im Gespräch mit Florian Peters

Florian Peters arbeitet als Historiker im Sonderforschungsbereich „Strukturwandel des Eigentums“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er wurde an der Humboldt-Universität Berlin mit einer Studie zur Geschichtskultur der polnischen Oppositionsbewegung promoviert und forscht zur Zeitgeschichte Polens und Ostmitteleuropas. Sein neuestes Buch „Von Solidarność zur Schocktherapie. Wie der  

LaG: Lieber Florian Peters, wir haben uns vorgenommen, einen Problemaufriss zur Erinnerung an den Widerstand gegen den Staatssozialismus in Ostmitteleuropa zu erarbeiten – ein weites Feld. Wo liegen – historisch gesehen und in Bezug auf unser Thema – die Herausforderungen, die wir in diesem Gebiet berücksichtigen müssen und in welche Phasen lässt sich der Widerstand einteilen? 

Florian Peters: Ich würde die Frage in Bezug setzen zur Genese des Staatssozialismus als Herrschaftsordnung. Denn in Ostmitteleuropa, also in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn, kamen die Kommunisten erst nach dem Zweiten Weltkrieg an die Macht – gestützt auf sowjetische Panzer. 

Die Etablierung dieser Herrschaftsordnung basierte dort also, anders als in Sowjet-Russland 1917, nicht auf einer inneren Revolution, also aus einer innergesellschaftlichen Entwicklung heraus, sondern wurde von außen oktroyiert. 

Für große Teile der Region folgte die kommunistische Herrschaft zudem auf eine frühere Phase der Fremdherrschaft, die deutsche nationalsozialistische Besatzung. Ungarn bildet hier als anfänglicher Verbündeter Hitlerdeutschlands eine gewisse Ausnahme, aber generell war diese Region durch das imperiale Ausgreifen der deutschen nationalsozialistischen Herrschaft besonders früh und besonders intensiv geprägt. Als Ergebnis des Kriegsverlaufs und der Befreiung dieser Gebiete aus der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft hat sich dann ab 1944/45 das kommunistische System etabliert. Wenn ich von „Befreiung“ spreche, ist das natürlich eine Wertung, die in dieser Region keineswegs alle Akteure geteilt haben. Und das ist auch schon einer der ersten Ansatzpunkte für Widerstand gegen diese neue Ordnung, bei dem wir mehrere Phasen unterscheiden können. 

Die erste Phase speiste sich direkt aus dem Widerstand gegen diese auf militärische Macht gestützte Etablierung des kommunistischen Regimes. Sie begann noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs, ab 1944, als diese Gebiete im Zuge des Vorrückens der Roten Armee besetzt wurden. Vor allem im Baltikum und in Polen gab es bewaffnete antikommunistische Gruppen, die die Nationalstaaten der Zwischenkriegszeit in der einen oder anderen Form wieder errichten wollten. Diese konkurrierten vielerorts mit kommunistischen Partisanen, die versuchten, den kommunistischen Herrschaftsanspruch über diese Gebiete zu festigen. 

Der Warschauer Aufstand 1944 ist – neben dem Slowakischen Nationalaufstand – das bekannteste Beispiel für den Versuch, die deutsche Besatzung aus eigener Kraft abzuschütteln und damit den Sowjets zuvorzukommen. Das hat in beiden Fällen aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert.

Trotz des Scheiterns dieser frühen Widerstandsversuche kämpften antikommunistische Partisanen vor allem im Baltikum und auch in Teilen Polens bis in die frühen 1950er Jahre gegen das neue Regime. In Polen rekrutierten sie sich teils aus Resten der Heimatarmee (Armia Krajowa), auch wenn deren Kommandeure 1945 eigentlich den Befehl erteilten, die Waffen niederzulegen. Der größere Teil dieser Partisanen bestand aber aus Kämpfern aus dem nationalistischen Flügel der jeweiligen Nationalbewegung, von denen viele vor dem Einmarsch der Roten Armee in der einen oder anderen Form mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatten. Das ist ein Grund, warum sie lange als Kollaborateure betrachtet wurden und in den Erinnerungskulturen einen umstrittenen Status hatten und haben. Gleichwohl gibt es aber eine Tendenz – etwa in Polen unter der Regierung von Jarosław Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von 2015–2023 –, diese sogenannten „verfemten Soldaten“ zu rehabilitieren. Die Erinnerung an diesen Widerstand mit der Waffe in der Hand war einer der großen Schwerpunkte der Geschichtspolitik der PiS-Regierung, die mit Vorliebe an klassische heroisierende Geschichtsnarrative anknüpfte. Diese erste Phase des antikommunistischen Widerstands hat also lange Nachwirkungen in der Erinnerungskultur.

Weil dieses Thema angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gerade sehr virulent ist, sollte man erwähnen, dass auch die ukrainische Nationalbewegung mit der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) zu diesem Feld zu zählen ist, mit Stepan Bandera als ideologischem Vordenker. Am Beispiel der paramilitärischen Gruppen, die dem ethnonationalistischen Flügel der ukrainischen Nationalbewegung angehörten und auch für etliche Massaker an der nicht-ukrainischen Zivilbevölkerung verantwortlich waren, zeigt sich, wie kontrovers die Rehabilitierung dieser Kämpfer heute diskutiert wird. Wir sehen außerdem den Versuch einer russischen Einflussnahme auf die Erinnerung: Im russischen Diskurs wird die Bezeichnung „Banderowzy“ heute geradezu als Schimpfwort für jegliche nationalbewusste Ukrainer verwendet. 

LaG: Wie würden Sie die nächste Phase des Widerstands charakterisieren? 

Peters: Auf die Phase des militärischen bzw. paramilitärischen Widerstands, der aus dem Krieg entsprang und bis Ende der 1940er Jahre von den kommunistischen Sicherheitsorganen niedergeschlagen wurde, folgte eine Phase des Widerstands als Fortschreibung und Radikalisierung der poststalinistischen Reformen. Getragen wurden diese Bestrebungen von Kräften, die eigentlich an die neue Ordnung geglaubt und sie auch unterstützt hatten, bis sich im Zuge der Entstalinisierung ab 1956 der Ruf nach tiefgreifenden Reformen herausbildete. Diese reformorientierten Anhänger des Regimes wurden von orthodoxen Kommunisten mit dem Kampfbegriff des „Revisionismus“ diffamiert. Anders als die antikommunistischen Partisanenbewegungen der ersten Phase stellten die Revisionisten die Herrschaftsordnung nicht grundlegend infrage, sondern es ging ihnen darum, das kommunistische System von innen heraus zu reformieren und aus der stalinistischen Ordnung einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu entwickeln. 

Als erstes kam es 1956 in Ungarn unter Führung von Imre Nagy zu einem solchen Reformversuch von innen. Der Ungarn-Aufstand wurde von sowjetischen Truppen unterdrückt, und mit János Kádár wurde ein neuer Parteichef installiert, der ein Programm eines auf stärkeren Konsum orientierten Sozialismus verfolgte (was im Vergleich zu anderen ostmitteleuropäischen Volksrepubliken auch relativ erfolgreich war). 

In der Tschechoslowakei (und auch in Polen) kulminierten ähnliche Bewegungen im Frühjahr 1968. Der slowakische Kommunist Alexander Dubček wurde während des „Prager Frühlings“ zu ihrem Gesicht. Sein Ziel war es, Wirtschaftsreformen durchzuführen, die Zensur abzuschaffen und das totalitäre stalinistische Regime in eine stärker von unten getragene, weniger rigide Ordnung zu transformieren. Doch auch dieser Reformanlauf wurde durch eine Invasion der Truppen des Warschauer Paktes unter sowjetischer Führung niedergeschlagen.

1968 markierte den Höhepunkt dieser zweiten Phase, und zugleich ihr Ende: Denn nach den Erfahrungen von 1968 war sowohl in der Tschechoslowakei als auch in Polen die Hoffnung auf substanzielle Reformen von innen her-aus weitgehend gestorben. Aus den vormaligen revisionistischen Abweichlern wurden die Dissidenten, die ihre Forderungen nicht mehr an die Partei richteten, sondern vielmehr versuchen, alternative zivilgesellschaftliche Gegeninstitutionen aufzubauen. Während sich die Szene dieser Dissidenten in der Tschechoslowakei im Wesentlichen auf Intellektuelle beschränkte, entwickelte sich daraus in Polen gegen Ende der 1970er Jahre eine breitere Oppositionsbewegung. Nachdem eine tiefe Wirtschaftskrise die Legitimation der staatssozialistischen Herrschaft ramponiert hatte, wurde dort auch die Arbeiterschaft von der Kritik am System erfasst. Aus diesem Ferment entstand 1980/81 mit der Solidarność eine Massenbewegung mit 8–10 Millionen Mitgliedern – das entspricht in etwa der Hälfte der damaligen werktätigen Bevölkerung Polens. Diese Größenordnung ist in der europäischen Zeitgeschichte einzigartig. 

LaG: Der Übergang von einer Intellektuellen- zur Massenbewegung kennzeichnet also den Beginn der dritten Phase ab den späten 1970ern? 

Peters: Für Polen lässt sich das so sagen; generell ist ausschlaggebend, dass Widerstand in dieser dritten Phase nicht mehr auf Veränderung des Systems als solches zielte, sondern primär auf den Aufbau gesellschaftlicher Gegen-Institutionen. Und, das ist wichtig zu betonen: Dieser Widerstand war im Gegensatz zu dem der ersten Phase gewaltfrei. Die polnischen Kommunisten sahen sich anfangs sogar gezwungen, die Solidarność offiziell zuzulassen, sodass diese, anders als die Dissidenten zuvor, nicht im Klandestinen agierte. Das änderte sich erst nach dem 13. Dezember 1981, als General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen verhängte, um die legale Gewerkschaftsbewegung zu zerschlagen.Interessanter-weise führte dies aber nicht zum Verschwin den des gegenkulturellen Umfelds, das sich im Zeichen der Solidarność etabliert hatte. Dieses verlagerte sich in eine Untergrundszene, die im Polnischen als „zweiter Umlauf“ bezeichnet wird. Diese Metapher macht anschaulich, dass es sich in Polen nicht nur um einsame Intellektuelle handelte, die sich der staatssozialistischen Realität widersetzten, sondern dass an diesem alternativen Umlauf von Ideen und Gedanken auch Arbeiterzirkel, professionalisierte Untergrundverlage und eine ganze gesellschaftliche Bewegung teilhatten. Dies hatte einen enormen Einfluss auf die Konstellation, die dann 1989 zum Sturz des Staatssozialismus zuerst in Polen und dann auch in den anderen Ländern Ostmitteleuropas führte.

LaG: Die Massenbewegung auf gewerkschaftlicher Basis etabliert sich in Polen ja im Kontext einer massiven Wirtschaftskrise. Ist sie der ausschlaggebende Faktor oder gibt es noch andere Spezifika, warum das gerade in Polen möglich wurde?

Peters: Es gab verschiedene Faktoren, aber die Wirtschaftskrise war wahrscheinlich der wichtigste. Als Gewerkschaftsbewegung war die Solidarność vor allem daran interessiert, die Kommunisten an ihre gebrochenen materiellen Versprechen zu erinnern. Es ging ihnen nicht darum, das System abzuschaffen und den Kapitalismus einzuführen, sondern ganz im Gegenteil, es ging um eine tatsächliche Vergesellschaftung, die man sich von der Selbstverwaltung der Betriebe erhoffte. 

Wenn man über politischen Widerstand spricht, kommt aber immer die Frage hinzu: Wie kommt es, dass Menschen sich zusammenfinden und sich trauen, diesen risikoreichen Schritt zu tun? Hier spielen kulturelle Faktoren eine Rolle: In Polen ist da an erster Stelle die katholische Kirche zu nennen, die eine wichtige Stütze für die Widerstandsbewegung gegen die kommunistische Herrschaft darstellte. Mit der Wahl von Karol Wojtyła zum Papst 1978 bekam diese spezielle Rolle eine zusätzliche internationale Dimension. Als Wojtyła sein Heimatland im Frühsommer 1979 als Johannes Paul II. besuchte, wurde seine Reise zu einem Triumphzug, der vielen kirchennahen Polinnen und Polen Mut gemacht hat, zusammenzukommen, aufzustehen und zu lernen, dass man die Dinge auch selbst in die Hand nehmen kann. Die Sicherheitskräfte haben sich dabei ziemlich zurückgehalten. 

Hier zeigt sich auch ein weiterer Faktor, warum sich gerade in Polen eine so starke Oppositionsbewegung etablieren konnte: Seit der Entstalinisierung waren die polnischen Kommunisten vergleichsweise vorsichtig mit der Anwendung offener Repressionsmaßnahmen. Schließlich waren sie sich bewusst, dass sie es in Polen mit einer starken katholischen Bevölkerungsmehrheit und einer langen Tradition russophober Einstellungen zu tun hatten, oder anders gesagt: mit einer langen nationalen Leidensgeschichte mit russischer imperialer Herrschaft. Vor diesem Hintergrund setzten sie seit den 1970er Jahren auf einen recht simplen Materialismus – in der Hoffnung, dass der materielle Fortschritt am Ende auch die sturen katholischen Bauern von der Überlegenheit des Staatssozialismus gegenüber dem kriselnden Kapitalismus überzeugen würde. Um diesen Fortschritt zu erreichen und der breiten Bevölkerung Konsumangebote zu machen, griffen die polnischen Kommunisten stark auf Westkredite zurück. Das war praktisch eine Modernisierung auf Pump. Als das aus verschiedenen Gründen nicht mehr funktionierte und Polen 1980/81 de facto Staatsbankrott ging, mussten die polnischen Kommunisten mit den westlichen Kreditgebern verhandeln – sie befanden sich also in einer politischen Abhängigkeit von der Sowjetunion und einer wirtschaftlichen vom Westen. Das ist ein wichtiger Faktor für den moderateren Umgang mit Dissidenten und ein Grund dafür, warum sich die alternative Gegenkultur überhaupt so stark ausbreiten und professionalisieren konnte. Zusammengenommen sind also die wirtschaftliche Krise, die doppelte Abhängigkeit des Regimes von West und Ost sowie die kulturelle Prägung die wesentlichen Gründe dafür, dass sich in der dritten Phase des Widerstands in Polen eine Massenbewegung etablieren konnte, die unterschiedliche Milieus unter einem gemeinsamen Banner vereint hat. 

LaG: Wir haben über unterschiedliche Trägergruppen des Widerstands gesprochen: anfangs von Partisanen, dann insbesondere von Intellektuellen, ihrem Schulterschluss mit der Arbeiterschaft in Polen, aber Sie erwähnten auch die Rolle der Zivilgesellschaft beim Aufbau von Gegeninstitutionen. Und natürlich spielt die Zivilgesellschaft auch für die Erinnerungskultur eine wichtige Rolle. Können wir jenseits von Polen von der Existenz einer solchen Zivilgesellschaft überhaupt ausgehen? 

Peters: Es gibt eine provokante These des amerikanischen Historikers Stephen Kotkin: Die Revolutionen von 1989, die häufig der Zivilgesellschaft zugeschrieben werden, können schon deshalb nicht von ihr hervorgebracht worden sein, weil es diese Zivilgesellschaft außerhalb Polens eigentlich nirgends gegeben habe. In Wahrheit seien die kommunistischen Regime im Wesentlichen implodiert, weil die Herrschaftseliten das Interesse an ihrer Aufrechterhaltung verloren hatten. Das ist zwar eine sehr pointierte Deutung, aber da ist tatsächlich einiges dran. Natürlich gab es auch in der Tschechoslowakei eine großartige Szene von Dissidenten, allen voran Václav Havel, den späteren Präsidenten. Aber das waren eben recht elitäre Zirkel, die weit davon entfernt waren, die Gesellschaft als Ganze zu erfassen. In Ungarn war es noch stärker so, dass die Reformbewegung in den späten 1980er Jahren im Wesentlichen vom liberalen Flügel der kommunistischen Partei ausging, der dann eine gemeinsame Plattform mit den Dissidenten gesucht hat. Insofern ist die polnische Entwicklung in der Tat die Ausnahme. 

Allerdings haben wir, wenn wir in die baltischen Staaten schauen, speziell nach Litauen, ganz spät in den 1980er Jahren auch eine Massenbewegung, die inspiriert von den polnischen Nachbarn für die Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion demonstriert hat. Das lief nicht gewaltfrei ab, da Michail Gorbatschow die Demonstranten in Vilnius im Januar 1991 mit Waffengewalt bekämpfen ließ, was in dem allgemein positiven Gorbatschow-Bild im Westen häufig vergessen wird. Trotzdem kann man nicht von einer länger bestehenden, breit verankerten Oppositionsbewegung wie in Polen sprechen. Auch in der Tschechoslowakei und der DDR entstand diese erst im Laufe des Jahres 1989, als sich die ersten Risse im Gebälk der Herrschaftsordnung bereits deutlich zeigten. 

LaG: Haben die Träger des Widerstandes in den unterschiedlichen Phasen ihre widerständigen Handlungen mit bestimmten Narrativen verknüpft? Narrative, die dann Anker für Erinnerung, aber auch für Geschichtspolitik, waren und sind? 

Peters: Auf jeden Fall gibt es nicht das eine Narrativ, und ebenso vielfältig und streitbar wie die Formen und Hintergründe des Widerstands gegen den Staatssozialismus selbst waren, ist auch die heutige Erinnerung an diesen. Das gilt insbesondere für Polen, wo die Oppositionsbewegung besonders breit war und verschiedene soziale und ideologische Gruppen in sich vereinte, deren Ziele keineswegs in allen Punkten übereinstimmten. Deshalb ist auch die Erinnerung daran bis heute stark polarisiert und umstritten. 

Ein wirkmächtiges Narrativ in Bezug auf die Dissidentenbewegungen konzentriert sich auf die Idee der „Rückkehr nach Europa“. Dieser Gedanke beruht darauf, Länder wie Tschechien oder Polen als Teil von Mitteleuropa zu betrachten und nicht als Teil von Osteuropa. Er zielt also darauf ab, sich soweit wie möglich von Russland abzugrenzen. Diese Sichtweise war eine zentrale Grundlage des zeitgenössischen Selbstbildes der liberalen Dissidenten, und sie strukturiert auch die von diesen geprägte heutige Erinnerung: Die „Rückkehr nach Europa“, also das Aufschließen zu einem kulturell und teilweise auch ökonomisch verstandenen zivilisatorischen Bezugspunkt, wird als zentrales Vermächtnis des Widerstands gegen den Kommunismus betrachtet, das spätestens mit der Aufnahme dieser Länder in NATO und Europäische Union auch in Erfüllung gegangen ist. 

Das andere, ein Stück weit konkurrierende Narrativ ist das nationale. Teile der Oppositionsbewegungen stellten viel stärker die nationale Unabhängigkeit in den Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses – Unabhängigkeit nicht nur von Moskau, sondern später auch von Brüssel, und erst recht von Berlin. Dieses nationale Narrativ hat in den letzten Jahren die Geschichtskultur und Erinnerungspolitik in Ungarn unter Viktor Orbán, aber auch in Polen unter der PiS-Regierung, zunehmend geprägt. Aus dieser Perspektive wird der politische Umschwung von 1989, der sowohl in Ungarn als auch in Polen mithilfe eines Kompromisses zwischen den Kommunisten und dem liberalen Flügel der Oppositionsbewegung erreicht wurde, sehr kritisch beurteilt.

Demnach hätten die liberalen Oppositionseliten trotz der vermeintlich kurz bevorstehenden antikommunistischen Revolution mit den Kommunisten paktiert, um sich am nationalen Volkseigentum zu bereichern. Diese Kompromissbereitschaft wird ihnen heute als Verrat an den Zielen des antikommunistischen Widerstands ausgelegt. 

Das augenfälligste Symbol dieser geschichtspolitischen Spaltung ist in Polen der 4. Juni 1989 – der Tag, an dem die am Runden Tisch vereinbarten, ersten teilweise freien Wahlen stattfanden. Während Jarosław Kaczyński und die politische Rechte die Bedeutung dieser ausgehandelten Wahlen herunterspielen, stellen sich die Liberalen um Donald Tusk, den jetzigen Ministerpräsidenten, gezielt in diese Kontinuitätslinie, indem sie politische Großdemonstrationen an den Jahrestagen organisieren. Diese Narrative sind also bis heute auch parteipolitisch virulent. 

LaG: Gibt es heute Unterschiede zwischen den eher autoritär regierten und den demokratischen Ländern in der Ausrichtung oder Schwerpunktsetzung ihrer Erinnerungskultur? Gelingt es, auch widerstreitende Narrative in eine auch staatliche Erinnerungskultur zu integrieren? 

Peters: Es fällt schon auf, dass illiberale Regierungen wie in Polen (bis 2023) und in Ungarn großen Wert auf staatliche Geschichtspolitik legen. In Polen wurde insbesondere die Erinnerung an die „verfemten Soldaten“ propagiert, also an den bewaffneten Widerstand der frühen Nachkriegsjahre, der viel stärker gewichtet wird als der spätere zivilgesellschaftliche Widerstand im Zeichen der Solidarność-Bewegung. Dieser hatte aus Sicht der PiS-Regierung den Makel, nicht in einem heroischen Aufstand, sondern in einem liberalen Kompromiss geendet zu sein. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine erscheint die Idee, bis zum letzten Blutstropfen für die Freiheit zu kämpfen, weit über die polnische nationale Rechte hinaus wieder sehr aktuell. In Ungarn, wo die autoritäre Herrschaft von Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei schon länger etabliert ist, ist die Situation insofern ein bisschen anders, als Orbán selbst 1989 als einer der größten Liberalen auftrat. Seine Partei, die 1988 als „Bund junger Demokraten“ gegründet wurde, lehnte sich schon damals gegen den „faulen Kompromiss“ der etablierten Akteure auf. Heute will Orbán von seinem damaligen Liberalismus nichts mehr wissen, was ihn aber nicht daran hindert, den Zäsurcharakter von 1989 zu negieren und seine eigene Regierung als wahren Meilenstein des antikommunistischen Wandels zu inszenieren. In Polen ist das nicht viel anders: Dort hat die PiS-Regierung ernsthaft für sich reklamiert, dass erst mit ihrer Justizreform von 2017 der Kommunismus beendet worden sei. 

LaG: Lässt sich in Bezug auf die Erinnerungskultur eine staatliche Agenda erkennen, mit Geschichte Politik zu machen? 

Peters: Zwischen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik besteht natürlich eine gewisse Interdependenz. Das zeigt sich beispielsweise in Danzig (Gdańsk) ganz augenfällig, wo auf dem Gelände der ehemaligen Leninwerft, der Keimzelle der Solidarność-Bewegung, zwei gegensätzliche Erinnerungsorte miteinander konkurrieren. Auf der einen Seite setzt das Europäische Solidarność-Zentrum, das von der Stadt Danzig getragen wird und dessen imposanter Neubau mit erheblichen europäischen Fördermitteln kofinanziert wurde, die liberale Erfolgsgeschichte in Szene. Direkt gegenüber befindet sich eines der wenigen Überbleibsel der historischen Bausubstanz der Danziger Werft, in der damals die berühmten Streiks begonnen haben. Dieses Gebäude wird als Erinnerungsort von der Gewerkschaft Solidarność verwaltet, die heute ein enger Bündnispartner des PiS-Lagers ist. Man kann dort also direkt gegenüber, auf unterschiedlichen Straßenseiten, zwei Erinnerungsorte besuchen, die ganz unterschiedliche Narrative über die Vergangenheit vermitteln. An den historischen Jahrestagen lief zu Zeiten der PiS-Regierung der polnische Ministerpräsident regelmäßig an dem modernen Solidarność-Zentrum vorbei, um dem Gedenkort der Solidarność seine Aufwartung zu machen. Und ein paar Stunden später trafen sich dann die Stadtpräsidentin von Danzig mit Lech Wałęsa und anderen prominenten Ex-Oppositionellen in dem von der Kommune betriebenen Zentrum zu ihrer eigenen Gedenkveranstaltung. 

Beide Narrative sind allerdings nicht nur institutionell repräsentiert, sondern verfügen über eine gewisse Legitimation im politischen Raum und sind – wenn auch in jeweils unterschiedlichen Gruppen – durchaus gesellschaftlich verankert. Die mit harten Bandagen geführten Auseinandersetzungen um staatliche Geschichtspolitik reagieren nicht zuletzt auf gesellschaftliche Bedürfnisse und emotionale Bezugspunkte. Schließlich haben sich die großen Hoffnungen, die mit beiden Narrativen verbunden waren – „Rückkehr nach Europa“ und „Unabhängigkeit“ –, angesichts der sozialen Härten der Transformationszeit nach 1989 nicht für alle gleichermaßen realisiert. 

LaG: Haben sich die Erinnerungskulturen, Narrative und auch der geschichtspolitische Umgang mit ihnen seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verändert? 

Peters: Ich meine, dass der russische Angriffskrieg die Aufmerksamkeit für den Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft verstärkt hat und der nationalen Grundierung der Erinnerungskulturen ein stärkeres Gewicht gibt. In Polen habe ich selbst bei liberalen Fachkollegen den Impuls beobachtet, wieder mehr Geschichte „zur Stärkung der Herzen“ zu schreiben, wie es eine schöne Wendung im Polnischen ausdrückt. Es gibt also ein verstärktes Bedürfnis nach einer Geschichtsschreibung, die den nationalen Zusammenhalt fördert. Auch die Heroisierung des militärischen Widerstands der antisowjetischen Partisanen, die zuvor in diesen Kreisen eher mit kritischer Distanz betrachtet wurde, gewinnt sicher an gesellschaftlicher Legitimität. Die ohnehin schon stark in die polnische, aber auch in die baltischen Geschichtskulturen eingeschriebene Ablehnung Russlands als des bösen Anderen erfährt damit neuerlich eine Aktualisierung. Das desavouiert natürlich nicht automatisch das Narrativ der „Rückkehr nach Europa“. Das Bündnis mit westeuropäischen Partnern wird als Bestätigung der eigenen zivilisatorischen Entscheidung betrachtet, aber sobald sich Anzeichen für deren mangelnde Standhaftigkeit gegenüber der russischen Aggression zeigen, leistet dies einer nationalistischen Logik des „koste es, was es wolle“ Vorschub. Es wird sich zeigen, welche Tendenz letzten Endes die Oberhand behält – nicht zuletzt mit Blick auf die spannungsreichen Verflechtungen der jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen untereinander, etwa zwischen polnischen und ukrainischen Nationalisten. 

Insgesamt scheint es mir für das Verständnis der Gegenwart wichtig, stärker auf den Transformationsprozess nach 1989 zu schauen und auf die Erfahrungen, die in den ostmitteleuropäischen Ländern damit verbunden waren. Denn an diese disparaten Erfahrungen und an die diffuse Wahrnehmung, dass der kapitalistische Westen den Osten damals überrollt hätte, knüpft Putin mit seinem russischen neoimperialen Opfernarrativ an. Das ist auch eine Leerstelle der zeithistorischen Forschung. Es gilt, die Verflechtungen unterschiedlicher Erinnerungskulturen und ihrer Narrative über die Zeit nach 1989 empirisch zu untersuchen, um ihre geschichtspolitischen Implikationen in der Gegenwart verstehen zu können. 

 

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