Dr. Martin Stief, Jg. 1984, Historiker, derzeit Projektleiter im Forschungsbereich des Stasi-Unterlagen-Archivs/Bundesarchiv. Forschungsschwerpunkte DDR, Staatssicherheit, Umweltgeschichte und Geschichte der Friedens- und Umweltinitiativen der DDR.

von Martin Stief

DER „MÜLLMANN“ VON BITTERFELD

Es ist Freitag, der 20. Mai 1986, etwa 22:30 Uhr in Bitter­feld. Junge Menschen, die zu den „Ökotagen“ gekommen sind, tragen einen etwa drei Meter großen, aus Plastikab­fällen gefertigten „Müllmann“ durch die Chemiestadt und stellen ihn vor den Türen der Marktkirche auf. Auf einem Schild steht geschrieben: „DENK-MAL – Mensch (Op­fer seines Konsums?)“. Nur wenige Minu­ten später steigen drei Männer aus einem blauen Trabant und fordern die Anwesen­den auf, die Müllskulptur unverzüglich aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Unterstüt­zung erhalten sie von der Besatzung eines mittlerweile eingetroffenen Streifenwagens der Volkspolizei. Nach einer kurzen Ab­stimmung mit dem Superintendenten des Kirchenkreises tragen der örtliche Jugend­pfarrer und etwa 15 junge Frauen und Män­ner ihren „Müllmann“ in das nahegelegene Lutherhaus.

Der „Müllmann“ vor der Marktkirche in Bitterfeld (1986). © BArch, MfS, BV Halle, AOP 3947/87, Bd. 2.

An diese zwar mutige, aber wenig Aufsehen erregende Episode erinnern sich wohl nur die damaligen Teilnehmer*innen und die drei Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi), die aus dem Tra­bant gestiegen waren und die Entfernung des Müllmannes verlangt hatten. Dass wir solch niedrigschwellige Aktionen von Umweltkreisen und damit politischen Widerspruch in der DDR rekonstruieren können, verdanken wir ironischer­weise u.a. der ausschweifenden Überwachung von poli­tisch Andersdenkenden durch Stasi-Offiziere und deren akribischer Dokumentation politisch unerwünschter Hand­lungen. Wie in allen anderen Städten der DDR, stand auch in Bitterfeld die politisch alternative Szene unter strenger Beobachtung der Stasi. Ihr Treffpunkt war das Lutherhaus, wo sich die jungen Menschen aus friedenspolitischer, aber auch ökologischer Perspektive mit der Frage nach der „Be­wahrung der Schöpfung“ beschäftigten. Hierzu luden sie wiederholt zu den „Ökotagen“ ein, bei denen es um eine kritische wie kreative Auseinandersetzung mit der Umwelt­zerstörung in der DDR ging.

Die Stasi war über alle Vorgänge im Bilde und arbeitete im Hintergrund daran, öffentliche Aktionen zu verhindern. Allein während des oben geschilderten Wochenendes, an dem etwa fünfzig interessierte junge Men­schen teilnahmen, waren mindestens sie­ben inoffizielle Mitarbeiter, also Spitzel der Stasi, im Einsatz; Stasi-Offiziere schoben Sonderschichten, die Volkspolizei fuhr ver­stärkt Streife und Kriminal- und Schutzpoli­zisten in Zivil suchten im Stadtgebiet nach „dekadent“ aussehenden Jugendlichen. Wieso betrieb die Geheimpolizei einen sol­chen Aufwand, obwohl sich nur ein paar Jugendliche zu einem „Ökowochenende“ trafen?

DAS DILEMMA DER 1980ER JAHRE

In den frühen 1980er Jahren befand sich die DDR in einer schweren Wirtschaftskrise und stand kurz vor einer Staats­pleite. Ausgerechnet zu dieser Zeit wurde die Partei- und Staatsführung für sie unerwartet mit dem Vorwurf konfron­tiert, sie ignoriere jegliche Umweltschutzbelange und neh­me die Zerstörung von Lebensraum und Natur billigend in Kauf. Die Kritik kam aus zwei Richtungen: vonseiten der Bundesrepublik und aus der eigenen Bevölkerung. Die Le­ser*innen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel konnten sich z.B. im Oktober 1980 erstmals ein Bild von den teils katastrophalen Zuständen machen, besonders über „den Süden der DDR, wo sich Braunkohle- und Chemieindust­rie ballen“ (o.V. Schuld ist der Kapitalismus 1980). Kritische Berichte vor allem westdeutscher Medien wurden in der DDR aufmerksam registriert, insbesondere von der Sta­si, denn die SED-Führung um Erich Honecker sorgte sich ständig um das internationale Ansehen der DDR. Sie fürch­tete zudem, dass kritische Diskussionen auf die eigene Be­völkerung ausstrahlen und innenpolitische Konflikte nach sich ziehen könnten. Im Hinblick auf die Umweltverschmutzung war diese Sorge auch nicht unberechtigt: Im Sommer 1982 waren DDR-Si­cherheitskräfte verblüfft, als sie in der Nähe des Branden­burger Tors eine „Personengruppe von ca. 50–60 Radfah­rern“ entdeckten, die mit umgebundenen Mundtüchern und Schildern, auf denen zu lesen war, „Frische Luft – wo?“, auf die Luftverschmutzung in der „Hauptstadt der DDR“ aufmerksam machten. Außerdem hatte die Stasi in Reak­tion auf den erwähnten Spiegel-Artikel eine Bestandsauf­nahme angefertigt, die u.a. zu dem Ergebnis kam, dass sich in einigen Regionen die „Umweltprobleme […] zu absolu­ten Schwerpunkten herausbilden“. Es könne sich aufgrund der „bereits jetzt schon erkennbaren Reaktion der Bevölke­rung ein unkontrollierbarer Zündstoff herausbilden“ (Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproble­men in der DDR 1981: 76), sollten die Staatsorgane die Um­weltbelastungen dort nicht ausreichend beachten.

Vor dem Hintergrund der drohenden Staatspleite sahen Parteiführung und Regierung jedoch keinerlei Spielraum für Investitionen in Umweltschutzmaßnahmen. Im Gegen­teil: Sie trafen wirtschaftspolitische Entscheidungen mit fatalen ökologischen Folgen. Die wohl gravierendste war der Ausbau der ohnehin exzessiven Nutzung der heimi­schen Braunkohle, um Erdölprodukte gewinnbringend in den Westen exportieren zu können. Die Kohlefördermen­gen stiegen von etwa 250 Mio. Tonnen im Jahr 1980 auf 321 Mio. Tonnen 1985. Damit nahmen natürlich auch Emissio­nen von Staub (Flugasche) und Schwefeldioxid massiv zu (von ca. 4,3 Mio. Tonnen 1980 auf ca. 5,3 Mio. Tonnen 1986) (vgl. Information zum Stand der Schwe­feldioxidemissionen 1986: 206). Die Folge war nicht nur eine massive Umweltzerstö­rung, sondern auch zunehmende Sorgen der Menschen. In den Umweltbehörden der DDR kamen immer mehr kritische Nachfra­gen und Beschwerden von Bürger*innen an, die Auskunft über die Ausmaße der Luft- und Wasser­verschmutzung einforderten; die wissen wollten, welche schädlichen Auswirkungen die Abgase für Natur, Umwelt und die eigene Gesundheit hätten. Nicht zuletzt wollten viele Betroffene wissen, was die Regierung gegen die öko­logischen Belastungen unternehme. Doch sie bekamen keine Antworten. Denn in dem Bewusstsein, in naher Zu­kunft keine umweltpolitischen Maßnahmen umsetzen zu können, erklärte der Ministerrat auf Drängen der Stasi im November 1982 Informationen über die Ausmaße der Um­weltzerstörung in der DDR weitgehend zu Staatsgeheim­nissen. Mit anderen Worten: Ökologische Missstände soll­ten vertuscht werden.

FAHREN AUF SICHT: VERTUSCHEN STATT BEHEBEN

Die Vertuschung sollte der Regierung Zeit verschaffen, die Wirtschaft zu stabilisieren, während Umweltschutzmaß­nahmen in die fernere Zukunft verschoben wurden. Bis dahin galt es, die Herrschaft der SED abzusichern und Kri­tik an ihrer Wirtschafts- und Nicht-Umweltpolitik zu unter­drücken. In den staatlichen, betrieblichen und forschen­den Einrichtungen gelang es der Stasi recht problemlos, die Geheimhaltung sensibler Daten durchzusetzen. Ein gewünschter Nebeneffekt war, dass auch westliche Jour­nalist*innen ihre Berichte über DDR-Umweltfrevel nicht mehr mit empirischen Daten untermauern konnten. Das minderte den Einfluss westlicher Medien auf die Umwelt­diskussionen der Ostdeutschen allerdings nicht so, wie die Stasi gehofft hatte. Denn wenn westliche Medien z.B. über Smog oder andere Umweltprobleme in der Bundes­republik berichteten, übertrugen Betroffene in der DDR die geschilderten Missstände auf ihre eigene Situation. Sie tra­ten an die Umweltbehörden heran und hakten nach, wie schlimm die Luftverschmutzung in ihrer Heimatregion sei und welche Maßnahmen zur Verbesserung der Situation angedacht seien. Die mit solchen Anfragen konfrontierten Funktionäre sahen sich in Anbetracht der Tatenlosigkeit der SED-Führung aber außer Stande, Antworten zu geben, stattdessen leugneten sie das Ausmaß der Zerstörung, re­deten gesundheitliche Folgen klein oder schwiegen sich komplett aus.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Luftverschmut­zung trug diese Ignoranz gegenüber den Sorgen und Ängs­ten der Menschen maßgeblich dazu bei, dass die Stasi zu der Einschätzung gelangte, dass die „Situation bei der Umweltbelastung […] als nicht mehr zumutbar“ (Ein­schätzung des aktuellen Stimmungsbildes unter breiten Teilen der Bevölkerung des Kreises Merseburg 1988: 2) wahrgenommen werde, oder dass „die politisch-opera­tive Lage auf dem Gebiet des Umweltschutzes im engen Zusammenhang mit der politischen Stabilität und staatli­chen Sicherheit im Verantwortungsbereich steht“ (BV Hal­le: Einschätzung der operativen Lage und der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes 1989: 11). Auch der Umwelt­beauftragte eines der größten Umweltsünder der DDR, des Chemiekombinates Bitterfeld, kritisierte: „Auf der Hand liegende Probleme wie ‚Smog‘ können nicht durch Tot­schweigen aus der Welt geschafft werden“ (vgl. MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83: 138).

Die im Umweltschutz Engagierten standen im Fokus der Stasi, da sie diesem Schweigen bzw. der Intransparenz den Kampf angesagt hatten und für Informatio­nen und Teilhabe stritten: Sie sammelten Informationen, studierten Gesetze und Ver­ordnungen, fertigten Untergrundzeitschrif­ten und Ausstellungen, schrieben Eingaben und organisierten kreativen Widerspruch. Es gab Baumpflanzaktionen, Umweltgot­tesdienste, Fahrraddemonstrationen unter dem Motto „Mobil ohne Auto“, Unterschrif­tensammlungen wie „Eine Mark für Espen­hain“, Aktionen wie den Pleißemarsch in Leipzig oder Proteste gegen den geplanten Bau eines Reinstsiliziumwerkes in Dresden.

Zwar gelang es den zuletzt etwa sechzig Umweltkreisen in der DDR nie, größere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren, dennoch betrachteten die Stasi-Offiziere diese kleinen Na­delstiche als ungehörige Provokationen. Sie betrieben den geschilderten übermäßigen Überwachungsaufwand, der an der einleitenden Episode aus Bitterfeld deutlich wird. Unzählige Spitzel berichteten aus den Umweltkreisen, sie sabotierten oder verrieten geplante Aktionen und stifte­ten im Auftrag ihrer Offiziere Unruhe innerhalb der Grup­pen, um sie zu lähmen bzw. im Stasi-Jargon zu „zersetzen“. Nicht selten erhielten Umweltaktivisten Ordnungsstrafen, wurden zu Verhören vorgeladen, mussten sich in Schule, Universität oder Betrieb von Lehrer*innen, Dozent*innen oder Vorgesetzten maßregeln lassen. Viele der lose organi­sierten Umweltgruppen passten sich dem Druck an, indem sie die eng gesteckten Grenzen nur in einem Maße übertra­ten, dass sie keine strafrechtlichen Konsequenzen fürchten mussten.

Arche Nova – Forum für ökologische Gestaltung in Umwelt und Gesellschaft, herausgegeben vom Grün-ökologischen Netzwerk Arche. © Privatarchiv Peter Wensierski

Dennoch gelang es der Stasi nie, die Um­weltaktivist*innen vollends zum Schweigen zu bringen. Mit der Gründung des Grün-ökologischen Netzwerkes Arche im Jahr 1988 gewann das unabhängige Umwelt­engagement sogar eine neue Qualität. Die Akteur*innen des Netzwerks setzten auf Konfrontation und auf die Macht der Bilder. Trotz drohender Haftstrafen wagten sie es z.B., die Umweltzerstörung in der Chemie­stadt Bitterfeld zu dokumentieren und das Material in die Bundesrepublik zu schmug­geln. Dort wurde der Film „Bitteres aus Bit­terfeld“ im Herbst 1988 in der ARD ausge­strahlt und führte einem Millionenpublikum – insbesondere den Betroffenen in und um Bitterfeld selbst – gravierende ökologische Missstände vor Augen. Die Stasi hatte ver­sagt und die SED war blamiert.

 

Literatur und Quellen

Bundesarchiv Berlin:

BV Halle, Einschätzung des aktuellen Stimmungsbil­des unter breiten Teilen der Bevölkerung des Kreises Merseburg v. 3.3.1988; MfS, BV Halle, Abt. XX 2727, Bl. 2.

BV Halle, Einschätzung der operativen Lage und der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherungs­maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 12.10.1989; MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 1989, Bl. 1–22.

MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 138.

Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR (nach Medien, Ter­ritorien, institutionellen Einrichtungen, grenzüber­schreitenden Problemen und bereits erkannten Aktivitäten feindlich-negativer bzw. oppositioneller Kräfte), o.D. [April 1981]; MfS, HA XVIII 19276, Bl. 69–96.

Information zum Stand der Schwefeldioxidemissio­nen v. 26.6.1986; BArch, DC 20-I/3/ 2331, Bl. 205–209.

 

Beleites, Michal: Dicke Luft: Zwischen Ruß und Revolte. Die unabhängige Umweltbwegung in der DDR, Leipzig 2016.

Halbrock, Christian: Konkurrierende Erinnerungen. Woher kam die unabhängige Umweltbewegung in der DDR? Eine Spurensuche und ein Erinnerungs-bericht. In: Horch und Guck H. 2/2012, S. 36–43.

o.V.: Schuld ist der Kapitalismus, in: Der Spiegel H. 41/1980.

Stief, Martin: „Stellt die Bürger ruhig“. Staats-sicher­heit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld. Göttingen 2019.

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.