#75befreiung Digitales Gedenken und Vermitteln 2020 (Teil 2)
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Iris Groschek
Gedenkstätten wollen in der analogen wie in der digitalen Welt Aufmerksamkeit für ihr Thema erreichen, um Wissen um die NS-Zeit weiterzugeben und die Erinnerung an die Verfolgten wachzuhalten. Sie wollen sich aber auch in aktuelle Debatten einmischen, indem sie Formen und Folgen von Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung von Minderheiten und Demokratiefeindlichkeit aufzeigen. Welche Form hat politisch-historische Bildung im 75. Jahr der Befreiung vom Nationalsozialismus? Wie wird dieses Ereignis online repräsentiert und vermittelt? Wie digital kann Erinnerung sein? Dieser Artikel gibt Beispiele für digitale Formen des Gedenkens und Lernens.
In Teil 1 wurden spezielle Webseiten zum 75. Jahrestag der Befreiung und eine Social Media-Aktion zu diesem Jahrestag vorgestellt. 2020 wurden unter dem Eindruck von eingeschränkten realen Begegnungen darüber hinaus weitere neue Formate der Gedenkstätten und Lernorte online etabliert, die teilweise nur im digitalen Raum funktionieren, teilweise aus der analogen Welt in die digitale Welt übertragen wurden. Diese Angebote reichen von Online-Vorträgen (Webseminare) über digitale Zeitzeug*innengespräche auf YouTube (Gespräch der Bildungsstätte Anne Frank mit Zvi Cohen am 7.5.2020) oder Zoom (Gespräch mit Regina Steinitz und Ruth Malin am 8. Mai 2020) bis zu Rundgängen durch Ausstellungsräume (Villa ten Hompel). Vor allem wird digital auf Vermittlung gesetzt. Die Gedenkstätte Mauthausen spricht gezielt Schüler*innen bzw. Lehrkräfte an, indem zu ihren Kurzvideos zu einzelnen Themen auch Arbeitsbögen zur Verfügung gestellt werden: Auf ihrem YouTube-Kanal hat die Gedenkstätte unter #BildungDigital bis Ende Juni 50 Kurzvideos zu unterschiedlichen Fragestellungen, Orten und Themen online gestellt. Die Gedenkstätte Sachsenhausen stellt einzelne Themen in Kurzclips unter dem Titel „Perspektiven auf die Geschichte des KZ Sachsenhausen“ – oder #DigitalMemorial – auf YouTube vor. Dieser „Snackable Content“, ein Inhalt, den Rezipient*innen online ohne große Anstrengung verstehen können, folgt den Regeln des Internets und den Gewohnheiten der Online-Communities, zeigt aber auch Grenzen auf. Wie „snackable“ soll und kann kommunizierter Inhalt von KZ-Gedenkstätten sein? Hier werden unterschiedliche Wege gefunden, um Vorträge und Kurzclips zu verknüpfen, vertiefende Angebote zu machen, historisch-politisch zu informieren, miteinander zu interagieren und vor allem ins Gespräch zu kommen.
Die Angebote sind vielfältig und manche auch interaktiv: so sollten beispielsweise im Projekt überLAGERt Fotos von Orten ehemaliger Außenlager in Brandenburg in Social Media gepostet werden. Neben lokalen Angeboten, die sich als Teil von Jugendbildung sehen, gibt es auch international funktionierende interaktive Angebote, wie die Crowdsourcing Aktion „Jeder Name zählt“ der Arolsen Archives. Diese Aktion hat nach Angaben des Archivs durch die Restriktionen im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie insofern Auftrieb erhalten, als dass mehr Menschen genug Zeit hatten, sich digital am Projekt zu beteiligen, so dass sie bis Juni 2020 über eine Million Namen von NS-Verfolgten aus verschiedenen Konzentrationslagern online erfassten. Während hier die Kompetenzen außerhalb des Gedenkstättenbereichs genutzt werden, ist im Bereich von Social Media nicht vorproduzierter, sondern live stattfindender Content die ansprechendste und kommunikativste Form des Online-Dialogs:
Zwei Livestreams, die Interaktion ermöglichten, hat die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur „Langen Nacht der Museen“ in Hamburg am 25. April 2020 durchgeführt, in dem sie zum einen einen Kuratorinnen-Rundgang durch die Gedenkstätte Bullenhuser Damm und zum anderen einen Dialog zu Gegenständen anbot, die Aspekte der Geschichte des KZ Neuengamme verdeutlichten. Fast 1000 Personen waren live jeweils bei dem doppelt übertragenen Livestream dabei (Facebook und Instagram) und auch die Aktivierung derjenigen, die live dabei waren, hat sehr gut funktioniert (221 bzw. 374 live Kommentare, 837 bzw. 822 Reaktionen auf Facebook). Mit 4,4 bzw. 4,5 Tausend Zuschauer*innen, die sich noch während der „Langen Nacht der Museen“ die Streams anschauten, wurden sehr viele neue Personen erreicht. Eine Folge war, dass der Instagramaccount der Gedenkstätte Neuengamme innerhalb eines Tages 94 Follower dazu gewann. Insgesamt wurden laut Statistik des Museumsdienst Hamburg, der an dem Tag verschiedene Livestreams von Hamburger Museen und Gedenkstätten koordinierte, bis zur darauf folgenden Woche über 12.000 Personen über den Facebook-Livestream zur KZ-Gedenkstätte Neuengamme, über 13.000 Personen über den Facebook-Livestream zur Gedenkstätte Bullenhuser Damm erreicht.
Nicht nur Gedenkstätten, auch Museen und Lernorte wurden in ihrer digitalen Vermittlung aktiver. Mit vorne voran die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, die u.a. Webinare unter dem Stichwort „ab ins #netz!“ als Form der politischen Bildung zu den Themen Rassismus, Diskriminierung oder rechte Ideologien anbietet. Über Zoom und den eigenen YouTube-Kanal werden Vorträge, Interviews, Lesungen und Gespräche zu aktuellen Themen mit unterschiedlichen Expert*innen gestreamt und bleiben online verfügbar. Häufig werden Online-Seminare über Zoom angeboten, die aber auch über die leichter zugängliche – aber auch leichter konsumierbare – Plattform YouTube verfolgt werden können. Als Beispiel, wie eine virtuelle wie digitale Vernetzung von Gedenkstätten aussehen kann: Am 30. Juni und 1. September 2020 haben die Gedenkstätten Bergen-Belsen, Dachau und Neuengamme gemeinsame Online-Rundgänge angeboten, die den Mehrwert brachten, dass mehrere Gedenkstätten virtuell besucht und Orte und Geschichten direkt verglichen werden konnten. Dieses kollaborative Format soll fortgesetzt werden. Die Schwierigkeit hierbei liegt in der Aktivierung der Zuschauer*innen, wie sie auf Instagram, wie zuvor gezeigt, noch erreicht werden konnte. Die Hemmschwelle, in diesem Format, das eher die Anmutung von Seminaren oder Vorträgen hat, zu kommentieren oder Fragen zu stellen, ist größer als beispielsweise in dem noch leichter über das Smartphone zugänglichen Social Media-Livestream.
Wie YouTube auch gänzlich anders für eine Vermittlung genutzt werden kann, zeigt das Video-Diary-Projekt des Anne Frank House in Amsterdam. Hier geht es, ähnlich wie das kontrovers diskutierte Projekt „What if“ auf Instagram, um eine Re-Inszenierung. Das Anne Frank House stellt die Frage: „Was wäre, wenn Anne Frank statt einem Tagebuch eine Kamera hätte?“ Schauspieler*innen setzten Aspekte aus Anne Franks Tagebuch in 15 Spielszenen um. Ergänzt wird das Angebot durch Zusatz-Videos wie Interviews mit den Schauspieler*innen oder „Explainer“ mit Hintergrundinformationen. Das 75. Jahr der Befreiung war mit Anlass zur Entwicklung dieses sich explizit an junge Menschen in einer aktuellen Form richtenden Angebots. „In 2020, it will be 75 years since the end of the Second World War. The world has changed in these 75 years, and so have the lives of young people. Young people today read less than they did in the past; they all watch videos on YouTube instead.”
Das bestechende Argument für die aktive Nutzung digitaler Formate ist die Reichweite. Das Jüdische Museum Frankfurt erreicht mit seinen Beiträgen auf den Sozialen Medien (Facebook, Instagram, Twitter, YouTube) „seit geraumer Zeit deutlich mehr Besucherinnen und Besucher als im physischen Raum“. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die digitale Kommunikation eigenen Gesetzen folgt und nur zum Teil ein anderes Publikum anspricht, wenn nicht explizit aktuelle Themen oder virale Fragestellungen angesprochen werden. Das Jüdische Museum entwickelte vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie zum Beispiel nicht nur eine digitale Reihe, die bestimmte Aspekte der jüdischen Kulturgeschichte mit Blick auf die aktuelle Krise ansprach, sondern auch ein „Videocast“ mit dem Titel „Tachles“, auf dem die Direktorin des Museums mit unterschiedlichen Persönlichkeiten zu diesem aktuellen Thema in dem Format zuträglichen sehr kurzen Gesprächen Denkanstöße gab. Auch kleinere Gedenkstätten, so wie die schon erwähnte Gedenkstätte Isenschnibbe Gardelegen in Sachsen-Anhalt, oder die Gedenkstätte Breitenau in Hessen, oder das Erinnerungsprojekt T4, das sehr aktiv auf Twitter ist, und einen Blog betreibt, der nicht nur berichtet, sondern „Angehörigen von Opfern eine Stimme [gibt] und auf dem Feld der Erinnerungskultur und der Gedenkpolitik [interveniert]“, konnten durch eine professionelle und communitygerechte Social Media-Arbeit Aufmerksamkeit erzielen, die über das Lokale hinaus ging. Die Aufmerksamkeit des 75. Jahrestags und die Aktion #75befreiung wurde von der Gedenkstätte Breitenau zum Beispiel auch genutzt, um ihre Social Media - Kanäle zu etablieren. Auf Facebook und Instagram gibt es darüber hinaus auch ein Bewegtbildangebot.
Dr. Victoria Grace Walden von der Universität Sussex hat eine Liveführung auf Instagram der Gedenkstätte Bergen-Belsen analysiert und sieht noch mehr Potential in solchen Angeboten, in dem die Vorteile des Digitalen angenommen und umgesetzt werden. Livetouren, über Social Media angeboten, sind im besten Sinne „micro-tours“, die in 30 Minuten einen Einblick in eine reale Tour geben[1] oder ein bestimmtes Thema besprechen. Social Media Livestreams bieten, wie eine reale Führung, eine Interaktion mit dem Guide und begegnen damit auch dem Wunsch der online-Besucher*innen, den Ort, den sie nur digital besuchen können, zu sehen und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es vor Ort aussieht. Eine digitale Tour entspricht auch dem Wunsch nach Entscheidungsfreiheit bzw. Freiwilligkeit des Besuchs und hat Anklänge an eine individuelle Erfahrung, wenn der Besuch über das eigene Smartphone erfolgt und dieses Format für die Teilnehmenden eine Anmutung eines 1:1 Gesprächs erhält. Dies sind Faktoren, die Walden für Web 2.0-Erlebnisse charakteristisch sieht. Virtuelle Touren befinden sich im „Spannungsfeld zwischen traditionellen, institutionalisierten Gedächtnispraktiken und den Erwartungen der Nutzer an zeitgenössische, hyperconnective Online-Räume“. Und genau das ist das Potential, das „hyperconnective Potential“ solcher Angebote, wenn in der digitalen Welt beispielsweise Orte oder Expert*innenwissen online verknüpft werden und so eine zusätzliche Informationsebene erhalten, die eine analoge Tour an einem Gedenkort nicht schaffen kann.
Das Digitale bietet Chancen, kollaborativ gemeinsam über Erfahrungen anderer Personen, über das Erinnern eigenen Erlebens, über ein zukünftiges Zusammenleben, aber auch die Formen künftigen Gedenkens nachzudenken. Oder um es mit dem Titel eines Podcasts im Rahmen der Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums München auszudrücken: #historyisnotthepast.
Weiterlesen
https://museumhack.com/virtual-museum-tour-trends/
https://musermeku.org/social-media-strategie/
[1] Die Gedenkstätte Dachau bietet auf Facebook digitale thematische Führungen durch die Gedenkstätte an, wobei die Tour zum Thema Zeugen Jehovas mit 555 Kommentaren das meiste Aktivierungspotential aufwies (https://www.facebook.com/watch/live/?v=564398877781796&ref=watch_permalink).
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- 23 Sep 2020 - 07:54