Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn
Von Lucas Frings
Die Geschichte der Zwangslager, in denen explizit Sinte_zze und Rom_nja konzentriert und später eingesperrt wurden, ist in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus noch immer verhältnismäßig spärlich betrachtet. Insbesondere lokale Studien stehen zur Verfügung, wobei Patricia Pientkas Buch wertvolle Informationen über das ab 1936 bestehende Zwangslager in Berlin-Marzahn liefert. Unter anderem an der ungewöhnlichen Organisationsstruktur – oft durch lokale Behörden initiiert - stellen diese Lager „einen im Kontext des NS-Lagersystems in vielfacher Hinsicht schwer fassbaren Lagertyp dar (...)“ (S.9).
Pientka geht chronologisch vor, über die Gründungsphase des Lagers, zu Lebensbedingungen, zur Organisation und Radikalisierung der Verfolgung, zu den Deportationen und zum Umgang mit dem Ort nach 1945.
Zuvor skizziert sie die Situation von Sinte_zze und Rom_nja in Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts und spricht unter anderem die christliche Missionierung von Sinte_zze und Rom_nja und Diskriminierungspraktiken der preußischen Polizei an. Die Autorin geht – bei gleichzeitiger Benennung einer schwierigen Forschungslage – davon aus, dass sich das Leben des Großteil der Berliner Sinte_zze und Rom_nja vor 1933 hinsichtlich der Wohnorte und Betätigungen kaum von denen der Mehrheitsbevölkerung unterschieden habe.
Die Überlieferungen zum Lager sind lückenhaft, Unterlagen und Akten zur Belegung sind nur teilweise erhalten. Die Autorin folgt der Einschätzung von Reimar Gilsenbach, der bereits in den 1960ern Interviews mit Überlebenden des Zwangslagers führte, dass insgesamt etwa 1200 Menschen dort interniert waren.
Pientka ist es durch Recherchen weiter gelungen, immerhin 340 Häftlinge benennen zu können.
Dem Narrativ, das Zwangslager in Berlin-Marzahn sei 1936 vor allem errichtet worden, um für die Olympischen Spielen Sinte_zze und Rom_nja aus dem Stadtbild zu verbannen, stellt sie Schriftverkehr zwischen Behörden entgegen, der diese Absicht bereits auf 1934 datiert. Spannend ist daran auch, dass sich in Berlin Wohlfahrtsamt, NSDAP-Gauleitung, Rassenpolitisches Amt und die Polizei einig waren, dass „Zigeuner“ zur Überwachung in ein Lager gesperrt werden sollten, während in anderen Städten Wohlfahrtsämter Abschiebungen vorzogen und sich gegen die polizeilich gewünschte Kasernierung wandten.
Eine weitere Besonderheit ist das Interesse von nichtkommunalen Behörden wie der Staatspolizeileitstelle und dem Innenministerium, die per Anweisung und Autorisierung zur Einrichtung des Lagers durch die Berliner Polizei führte.
Dennoch kann das Berliner Hauptwohlfahrtsamt als „die treibende Kraft hinter der Lagergründung gelten“ (S.38), wie Pientka in ihrem Buch ausführlich darlegt. Es kann als Beispiel dafür dienen, wie eine Radikalisierung und Verfolgungspraxis selbstinitiativ von unten erfolgte.
Die Rolle der konfessionellen Betreuung ist eine weitere Besonderheit des Berliner Lagers. Die „Zigeunermission“ von protestantischen und katholischen Einrichtungen hatte, wie eingangs erwähnt, bereits lange vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten begonnen, ließ sich aber bis circa 1938 auch im Zwangslager noch fortsetzen. Dabei waren die Kommentare über die zu missionierenden durchaus paternalistisch und rassistisch, gleichzeitig fanden Sinte_zze und Rom_nja in den Missionar_innen auch Unterstützer_innen, etwa beim Widerstand gegen „rassenbiologische Untersuchungen“.
Bis 1939 war es noch möglich, das Lager tagsüber zu verlassen. Teilweise konnten Inhaftierte einer Arbeit nachgehen, wobei die meisten bereits kurz nach ihrer Internierung entlassen wurden oder durch die räumliche Entfernung nicht mehr zur Arbeitsstelle gelangen konnten. Vor allem aber mussten sie sich selbst durch Marken mit Lebensmitteln versorgen. Dabei erhielten sie aber oftmals nur die Restbestände der umliegenden Geschäfte am Ende des Tages.
Pientka liefert mit ihrer Forschung auch Informationen zu Täterbiographien, die zur Verfolgung der europäischen Sinte_zze und Rom_nja bisher nur spärlich vorhanden sind. Gerhart Stein, später „Rassentheoretiker“ unter anderem an der Berliner Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes, war unmittelbar nach Einrichtung des Lagers bereits als Medizinstudent in Marzahn um Untersuchungen an den Inhaftierten vorzunehmen. Dort stieß er allerdings auf großen Widerstand der Inhaftierten, die sich, als bereits seit Generationen in Deutschland lebend, auf ihre „arische Abstammung“ beriefen. Pientka stellt fest, „dass Mitte 1936 bei der Berliner Polizeibehörde noch Skrupel gegenüber der Gewaltanwendung bei rassenbiologischen Untersuchungen bestanden“ (S.54). Das Aufzeigen einer solchen akteurszentrierten Perspektive und die Darstellung der Häftlinge als handelnde Subjekte ist ein erklärtes Anliegen von Pientka.
Über den Umgang und Weiterverbleib der Häftlinge nach 1937 gab es verschiedene Vorhaben. Immer wieder waren vereinzelt Sinte_zze und Rom_nja aus dem Marzahner Lager in Konzentrationslager verschleppt worden, 1939 gab es nicht umgesetzte Pläne Sinte_zze und Rom_nja nach Polen zu deportieren. Ab 1939 nahm die Zwangsarbeit in Fabriken aber auch als Statist_innen in Spielfilmen zu.
Den größten Einschnitt stellten jedoch die Deportationen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau dar. Die aus Marzahn im März 1943 deportierten gehörten zu den ersten Häftlingen des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau.
Das Zwangslager in Marzahn bestand mit wenigen Inhaftierten bis zur Befreiung durch die sowjetische Armee. Durch Traumatisierung und fehlende Unterstützung im Nachkriegsdeutschland lebten einige sogar weiterhin auf dem Gelände.
Nur manchen gelang die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“, da die Behörden in den meisten Fällen keine Verfolgung aus „rassischen Gründen“ annahmen, die Bedingung für eine Unterstützung war. Pientka ist es gelungen, einige Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung in beiden deutschen Staaten nachzuvollziehen.
Das Gelände und die Geschichte des Zwangslagers blieb bis in die 1980er hinein weitestgehend unbeachtet, erst 1986 fand eine Gedenkfeier und die Enthüllung eines Gedenksteines statt.
In einem weiteren Kapitel widmet sich Patricia Pientka auch der Organisationsgeschichte der Verfolgungsbehörden. So befand sich die bereits 1899 gegründete „Zigeunerpolizeistelle“ ab 1937 als „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ beim Reichskriminalpolizeiamt. Die dortige Zentralisierung der Verfolgung von Sinte_zze und Rom_nja wurde durch die Einrichtung lokaler „Dienststellen für Zigeunerfragen“ umgesetzt, die oftmals auf die Erfahrungen und Akten vorheriger, kommunal zugeordneter, Stellen zurückgriffen. Die „Dienststellen“ waren beauftragt eine vollständige erkennungsdienstliche Erfassung samt Fingerabdrücken vorzunehmen.
Eine große Stärke von Pientkas Studie ist ihr Ansatz der integrierten Geschichte nach Saul Friedländer, bei dem sie ihre gründliche Quellenauswertung mit den Perspektiven von Betroffenen der nationalsozialistischen, antiziganistischen Gewalt kombiniert. So bezieht sie in die Beschreibung der Lebensbedingungen, neben Fotografien und Schreiben nationalsozialistischer Autoren, maßgeblich die Berichte von Zeitzeug_innen mit ein. Dabei setzt sie sich auch mit der spezifischen Bedeutung der Inhaftierung für Kinder und Jugendliche auseinander, die nach Pientka die Gewalt vermutlich anders wahrnahmen. Zudem erhielten sie – ab 13 Jahren waren sie zur Zwangsarbeit verpflichtet – nach ihrer Inhaftierung zunächst nur sehr schlechte Schulbildung und ab 1941/1942 gab es keinen Unterricht mehr. Darunter litten später viele der Überlebenden, weil sie dadurch Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt erfuhren.
Ein weiterer spannender Aspekt ihrer Untersuchung ist Pientkas Analyse und Kommentierung des Manuskripts von Leo Karsten. Der Leiter der Berliner „Dienststelle für Zigeunerfragen“ hatte 1958 als Kriminalobermeister einen Bericht zu den Umständen im Zwangslager geschrieben, den Pientka unter anderem wie folgt kommentiert: „Karstens Schilderungen des Lagers sind deutlich als Repräsentation einer nachhaltig wirkenden verzerrten Wahrnehmung zu lesen, die sich in der Nachkriegszeit offensichtlich mit Strategien der Selbstverteidigung verband.“ (S.109)
Pientka gelang es auch mehrere Berichte, die auf den Erinnerungen Internierter beruhen, einzubinden. Weiter konnte Pientka Personenakten der Berliner „Dienststelle für Zigeunerfragen“ einsehen und so einige Täterbiographien erarbeiten, wie die des ausgebildeten Maskenbildners Helmut Lossagk, der spätestens ab 1943 bei der Berliner „Dienststelle für Zigeunerfragen“ tätig war.
Durchgehend bemüht sich die Autorin um einen reflektierten Umgang mit ihren Quellen, die zu einem großen Teil vorurteilsbeladen sind, sei es in Behördenakten oder zwischen 1920 und 1970 erschienenen Schriften.
Einige Lücken kann Pientka – wie schon David Zolldan in seinem LaG-Beitrag anführt – nicht schließen, was jedoch nicht ihr, sondern der Quellenlage anzulasten ist. Über Todesfälle im Zwangslager wissen wir nur wenig. Auch zur Befreiung und dem Leben auf dem Lagergelände nach 1945 ist kaum etwas bekannt.
Dennoch bleibt „Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn“ eine elementar wichtige Erweiterung für das Wissen um die Geschichte des Lagers und der Berlin- wie reichsweiten Verfolgung von Sinte_zze und Rom_nja. Insbesondere die umfassende Einbindung der Berichte von Verfolgten als Korrektiv der nationalsozialistisch geprägten Quellen macht dieses Buch lesenswert und perspektiverweiternd.
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- 24 Apr 2019 - 06:05