Lernort

Das ehemalige Sinti und Roma Zwangslager in Berlin-Marzahn.

Pädagogische Angebote am regionalgeschichtlichen Ort der Erinnerung und Informat

Beitrags-Autor Profil / Kontakt

Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen
und um den Autor kontaktieren zu können.

Hier können Sie sich registrieren.

Von David Zolldan

Zwischen 1936 und 1945 wurden etwa 1 200 als „Zigeuner“ verfolgte Menschen, größtenteils Kinder und Jugendliche, in einem zwischen Rieselfeldern, Bahngleisen und einem Friedhof gelegenen Zwangslager im Berliner Bezirk Marzahn interniert. Solche unter anderem auch in Magdeburg und Köln eingerichteten Lager dienten der Segregation, der Konzentration, der rassenbiologischen Forschung, der Zwangsarbeit und als Sammellager. Ab März 1943 waren die meisten der Internierten nach Auschwitz-Birkenau in die Vernichtung deportiert worden. Der historische Ort des Marzahner Zwangslagers, an dem bis 1947 noch einzelne Familien untergebracht waren, geriet in Vergessenheit und wurde überbaut.

Im Jahr 2011 wurde in unmittelbarer Nähe zum S-Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße auf Initiative des Landesverbandes deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V. und mit Unterstützung der lokalen Politik der Ort der Erinnerung und Information eingeweiht. Die von Petra Rosenberg, der Berliner Landesvorsitzenden deutscher Sinti und Roma, konzeptionierten zehn Ausstellungstafeln geben Informationen zum historischen Ort des Zwangslagers. Biografie-zentriert und durch Bilder und Dokumente gestützt thematisiert die Ausstellung die Entstehungsumstände, die unmenschlichen Lebensbedingungen, die verschiedenen Formen der Gewalt gegen die Internierten wie die Zwangsarbeit bei lokalen Betrieben, sowie die Deportationen nach Auschwitz-Birkenau. Dabei werden auch die wesentlichen Institutionen der nationalsozialistischen Verfolgung und rassistischen Zuschreibungen gegenüber Sinti und Roma, das „Zigeunerdezernat“ im Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz sowie die „Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“, in den Blick genommen. Die Freiluftausstellung am Otto-Rosenberg-Platz, nach einem bekannten Überlebenden benannt, ist jederzeit und kostenlos zugänglich. Im unmittelbar benachbarten Don-Bosco-Zentrum befinden sich Räumlichkeiten, die vom Landesverband zur vertiefenden Bildungsarbeit mit Schul- und Erwachsenengruppen genutzt werden. Neben angebotenen Führungen lässt sich so ein zumeist halbtägiges pädagogisches Programm gestalten. Zur Vor- und Nachbereitung können die Inhalte der Ausstellung durch zusätzliche Texte, Archiv-, Bild- und Tondokumente in Kleingruppen vertieft und diskutiert werden. Auch ein ganztägiges Programm unter Einbeziehung des zentralen Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Zentrum Berlins ist möglich.

Ebenfalls durch Überlebenden-Berichte biografisch-zentriert werden laut „Informationen über die Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland, ihre Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus, ihre fortgesetzte Diskriminierung in der Nachkriegszeit sowie ihre heutigen Lebensbedingungen als Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft angeboten“, so der Landesverband. Bisher wird das Angebot vor allem von Schulklassen aus dem Bezirk wahrgenommen. Ein vorgefertigtes thematisches Programm gibt es nicht. Vielmehr soll – so der Anspruch – nach vorheriger Absprache auf die Bedürfnisse der Nutzer/innen eingegangen werden. Für weitere Informationen zum pädagogischen Angebot treten Sie direkt mit dem Landesverband unter www.sinti-roma-berlin.de in Kontakt.

Ein Ausstellungskatalog ist bisher nur angedacht. Eine quellenreiche, jedoch wenig voraussetzungsvolle Möglichkeit zur Vor- und Nachbereitung bietet jedoch die vor kurzem im Berliner Metropol-Verlag veröffentlichte Monographie von Patricia Pientka „Das Zwangslager für Sinti und Roma. Alltag, Verfolgung, Deportation“. Der Freiluftausstellung des Landesverbandes ähnlich ergänzt auch Pientka ihre Studie durch einen biografischen und akteurszentrierten Ansatz. In Bezug auf die Opfer werden so „Widerstands- und Selbstbehauptungsstrategien der Verfolgten“ (S. 14) sichtbar. Die Autorin ermöglicht eine Thematisierung antiziganistischer Kontinuitäten, die Reflexion auf die Genese heutiger antiziganistischer Bilder und die kaum thematisierte Politik gegenüber Sinti und Roma in der DDR (ab S. 189). Für einen Brückenschlag in die Gegenwart dürften unter anderem Pientkas Betrachtungen zur Rolle der Wohlfahrtsämter zuträglich sein. Gemeinsam mit der Berliner Polizei bereitete das Berliner Hauptwohlfahrtamt seit spätestens 1934 die Lagergründung in Marzahn vor. Ohne die Orts- und Personenkenntnisse der Verwaltungsbeamten wäre die Erfassung der Internierten kaum möglich gewesen, womit Pientka die Bedeutung lokaler Initiativen für die NS-Verfolgungspraxis und deren „Radikalisierung 'von unten'“ (S. 212) belegt. Dass nicht nur Sinti und Roma mit ihren Wohnwagen, sondern auch in Mietwohnungen lebende Familien in Marzahn interniert wurden, verweist auf den sich oftmals kaum vom Alltag anderer Berlinerinnen und Berliner unterscheidenden Alltag. Im Kern einer sozialchauvinistischen Perspektive und rassistischen Zuschreibung als Produkt ideologischer Kontinuitäten und Wahrnehmungsmuster gegenüber Sinti und Roma ähneln die Argumentationsfiguren der heutigen Pendants – der Sozialämter – denen der Wohlfahrtsämter, wie sich im Zuge der Debatte um die so genannte Armutszuwanderung zeigt. Trotz gewissenhafter Recherche weist jedoch auch Pientkas Studie einige Forschungslücken auf: detaillierte  Sterblichkeitsraten und – gründe sowie die Befreiungsumstände konnten nicht rekonstruiert und die Frage, wie viele der in Berlin lebenden Sinti und Roma in Marzahn interniert waren, nicht beantwortet werden.

Trotz der Lage am Rande Berlins lohnt sich die Fahrt zum Bahnhof Raul-Wallenberg-Straße. Wer ein lokalgeschichtlich basiertes Informations- und Pädagogikangebot zur Thematisierung der noch immer kaum beachteten Verfolgung der Sinti und Roma sowie antiziganistischer Kontinuitäten sucht, findet dies mit dem Ort der Erinnerung und Information in Berlin-Marzahn. Zur rahmenden Vor- und Nachbereitung von Multiplikatorinnen aber auch Schülerinnen eignet sich Patricia Pientkas Buch zum Marzahner Zwangslager. 

Pientka, Patricia: „Das Zwangslager für Sinti und Roma. Alltag, Verfolgung, Deportation“, Berlin 2013.

Landesverband deutscher Sinti und Roma e.V. mit weiteren Informationen zum Ort der Erinnerung und Information: www.sinti-roma-berlin.de 

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.