Empfehlung Fachbuch

Katalog „45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma“

Von Lucas Frings

Seit 2016 tourt die Ausstellung „45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma“ des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma durch Deutschland. Die Inhalte der 20 Tafeln erschienen kurz darauf zusätzlich als Katalog auf deutsch und englisch.

Entlang einschneidender Momente von Bürgerrechtskämpfen zeigt der Katalog die fortlaufende Diskriminierung von Sinte_zze und Rom_nja in der BRD sowie die Proteste und Erfolge der Aktivist_innen. Dabei sahen sich die Aktiven mit einem großen staatlichen und gesellschaftlichen Unwillen bei Aufarbeitung und Erinnern von NS-Verbrechen sowie gleichermaßen mit aktuellem Rassismus und Diskriminierungspraxen konfrontiert.

Die Berechnung von 45 Jahren Bürgerrechtsarbeit sieht als Ursprung einen Aufruf des Zentral-Komitee der Sinti West-Deutschlands, der sich „an alle deutschen Sinti“ richtete. Der Titel von Ausstellung und Katalog läuft dabei allerdings Gefahr, die etwa auf S. 17 erwähnten Bemühungen um juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen und Selbstorganisation in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus dem Blick zu drängen.

Bekannterweise mussten viele Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen lange auf ihre Anerkennung und finanzielle Entschädigung warten. Sinte_zze und Rom_nja waren jedoch 1956 durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) weitgehend von Entschädigungen ausgeschlossen worden. Die Richter behaupteten, die Verfolgung vor 1943 sei nicht „rassisch begründet“ gewesen, eine Erklärung, die sich trotz Revidierung des Gesetzes 1963 noch lange in Entschädigungsfragen wiederfand und dafür sorgte, dass sich der Kampf um Anerkennung und Entschädigung noch über mehrere Jahrzehnte hinzog. Die Rechtsprechung beeinflusste auch Verfahren gegen NS-Verbrecher. So wurde Paul Werner, SS-Oberführer im Reichssicherheitshauptamt und einer der Haupttäter des Völkermords an Sinte_zze und Rom_nja, mit Verweis auf das BGH-Urteil später nicht verurteilt. Dass der Bundesgerichtshof das Urteil 60 Jahre später öffentlich aufarbeitete ist ebenfalls ein Teil von Ausstellung und Katalog.

Eine lange Kontinuität von Rassismus aus der Kaiserzeit bis heute weist auch die Sondererfassung von Sinte_zze und Rom_nja durch staatliche Stellen auf. Sie wandelte sich zwar sprachlich stets entlang politischer Debatten, blieb im Kern jedoch weitestgehend unverändert. Auf die offene Verfolgung im Nationalsozialismus folgten „Landfahrerstellen“ der Landeskriminalämter, die bis in die 1970er hinein gezielt Sinte_zze und Rom_nja kontrollierten und erfassten. Selbst nach deren Auflösung setzte sich eine Markierung in Polizeiakten fort, die 1982 von der Innenministerkonferenz gegen Proteste verteidigt wurde. Unter anderem mit dem Druck einer Demonstration zum 50. Jahrestag der Machtübertragung an die Nationalsozialisten konnte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erreichen, dass das Kürzel „ZN“ für „Zigeunername“ nicht weiterverwandt wurde. Allerdings wurde der Vermerk lediglich zu „Häufig Wechselnder Aufenthaltsort“ umbenannt. Laut den Verfasser_innen des Katalogs werden aber bis heute „immer wieder Fälle von derartiger Sondererfassung durch die Polizeibehörden bekannt“ (S.37).

Es wird deutlich, dass oftmals erst eine öffentliche Wahrnehmung der Anliegen und Forderungen geschaffen werden musste, teilweise mit drastischen Maßnahmen, wie dem Hungerstreik auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau. Am Karfreitag 1980 hatten zwölf Sinti dort einen Hungerstreik begonnen, um eine Aufklärung über die Akten der ehemaligen „Landfahrerzentrale“ der bayerischen Kriminalpolizei zu fordern. Der einwöchige Streik erreichte große mediale und gesellschaftliche Beachtung. Das bayerische Innenministerium sowie Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel sagten zu, die Vorurteile gegen Sinte_zze und Rom_nja abbauen zu wollen.

Die Anerkennung des NS-Völkermordes durch Bundeskanzler Schmidt, unmittelbar nach der Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma 1982 als Gesprächspartner für die Bundesregierung, war ein Meilenstein für die Bewegung. Dieser Prozess und die Erinnerung an den Völkermord in Parlamenten wie in Gedenkstätten nehmen einen weiteren Teil des Kataloges ein.

In den 1990ern etablierte sich die Bürgerrechtsarbeit in der deutschen Politik. Die Anerkennung als nationale Minderheit, die Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg 1997 und der Beschluss zur Errichtung eines Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin geschahen zwar nicht ohne Widerstand in der Politik, führten aber zu einer gesteigerten öffentlichen Sichtbarkeit der Gruppen und ihrer Interessen.

Abschließend erfahren die Leser_innen mehr über die internationale Arbeit des Zentralrats und des Dokumentationszentrum, etwa über die Gründung des „International Movement Against Discrimination and Racism“ oder den Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma.

Der Katalog ist verhältnismäßig überschaubar. Für eine tiefergehende Beschäftigung wäre es interessant gewesen, wer genau die verschiedenen Akteur_innen und Organisationen, noch vor der Entstehung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, waren. Andererseits können die Ausstellungsmacher_innen vermutlich nicht davon ausgehen, dass Besucher_innen und Leser_innen über großes Hintergrundwissen über die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung von Sinte_zze und Rom_nja verfügen. Genau dafür liefern Ausstellung und Katalog einen wichtigen Beitrag.

Dem Katalog der Ausstellung gelingt es vor allem, Sinte_zze und Rom_nja nicht nur als Opfer von Rassismus und Verfolgung im NS und in der BRD darzustellen, sondern zeigt sie als handelnde Akteur_innen mit politischem Willen und Widerstandskraft gegen anhaltende Diskriminierung. So erfahren Leser_innen die Namen von Überlebenden wie Franz Wirbel und Aktivist_innen wie Ranco Brantner. Im Mittelpunkt steht insbesondere die Familie Rose. Oskar Rose und Vinzenz Rose, die bereits in den 1950ern die nationalsozialistischen Verbrechen aufarbeiten wollten und insbesondere dessen Sohn bzw. Neffe Romani Rose sind in Text und Bild sehr präsent. Auch werden Unterstützer_innen der Bürgerrechtsgruppen und Anliegen, wie Uta Horstmann und Simon Wiesenthal erwähnt.

Jedes Ereignis ist bebildert und teilweise mit Zeitungsartikeln und Aufrufen versehen, deren Lektüre spannende Einblicke in Debatten und Sprache der jeweiligen Zeit bietet.

Die Ausstellung ist eine Arbeit des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Dementsprechend finden insbesondere Aktionen des Zentralrats und deren Akteur_innen Platz. Für einen breiteren Blick wäre es spannend, wenn auch andere Organisationen von Sinte_zze und Rom_nja in Deutschland ihren Raum im Erinnerungsdiskurs finden würden.

Im Vorwort des Katalogs schlägt Romani Rose den Bogen vom Antiziganismus im Nachkriegsdeutschland zu aktueller Ausgrenzung und Stigmatisierung im Alltag und auf politischer Ebene: „Die politische Debatte über Zuwanderung aus den Ländern des Westbalkans wurde in Deutschland auf eine Art und Weise geführt, bei der die sogenannte Einwanderung in unsere Sozialsysteme zum Synonym wurde für Migration von Roma aus diesen Ländern. Dies wiederum ist Ursache dafür, dass viele Sinti und Roma in Deutschland, gerade wenn sie in qualifizierte Berufe streben, ihre Zugehörigkeit zur Minderheit verbergen (...).“ (S.8) Aktuelle Debatten, andauernde Stigmatisierungen und Engagement von kürzlich nach Deutschland migrierten Roma, wie die Besetzung des Denkmals im Berliner Tiergarten 2016 wären Themen, die im Anschluss an die breit gefächerte geschichtliche Auseinandersetzung in Ausstellung bzw. im Katalog in der Bildungsarbeit Platz finden könnten.

Der Katalog kann online heruntergeladen oder über den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bestellt werden.

 

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