Homosexuellenverfolgung in Bayern
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Albert Knoll
Seit Beginn der Machtergreifung waren homosexuelle Männer Zielscheibe nationalsozialistischer Verfolgungspolitik. Die Behörden konnten sich dabei auf die Bereitschaft der Bevölkerung zur Denunziation verlassen. Die Polizeirazzien nahmen in Bayern ihren Anfang, so dass München auch hinsichtlich der Homosexuellenverfolgung ihrem Ruf als „Hauptstadt der Bewegung“ gerecht wurde. Nach 1945 galten homosexuelle Männer als vergessene Opfergruppe und waren weiter der Verfolgung ausgesetzt.
Homosexuellenverfolgung seit dem Kaiserreich
Hugo Kalb stammte aus Würzburg, 1,70 m groß, schlank, geboren im November 1896, Sohn der Kaufmannseheleute Hugo und Anna. Als ihm Würzburg etwas zu klein und provinziell wurde, zog er nach München, um dort Schauspieler zu werden. Der aufgeweckte junge Mann war homosexuell. Im Hochsommer 1922 feierte er mit Freunden in Schwabing. Auf der Party gab es Alkohol, Schnaps und Schwedenpunsch, wie es später im Polizeiprotokoll hieß. Die jungen Männer kamen sich näher, berührten sich, einige entkleideten sich. Um halb zwei Uhr nachts riefen die Nachbarn die Polizei: oben im 4. Stock, seien „Päderasten“. („Päderast“ wurde landläufig diffamierend für „Homosexueller“ verwendet.) Die jungen Leute wurden auf Verdacht der „Widernatürlichen Unzucht“ festgenommen. Sie wurden verhört, ihre Wohnungen wurden durchsucht, bis die Sittenpolizei Briefe fand. Sie verglich die Namen mit den Eintragungen in der „Rosa Liste“, in der alle Homosexuellen registriert wurden. Die Sitte triumphierte: wieder konnte sie ein „schwules Nest“ ausheben.
Der §175 RStGB, der seit 1872 in Kraft war, bestrafte „Widernatürliche Unzucht“ unter Männern mit Gefängnis, auch wenn der Sexualakt einvernehmlich und unter Erwachsenen ausgeübt wurde. Hugo Kalb, der häufig im neuen Medium Radio zu hören war, gab sich den Künstlernamen „Welle“. Er trat den Verfolgungsbehörden anfangs sehr selbstbewußt entgegen. In die Handschriftenprobe des polizeilichen Personalbefragungsbogens schrieb er „ich bin homosexuell und fühle mich sehr wohl dabei, hoffentlich bringt uns die neue Zeit unsere Freiheit“. Die 1920er Jahre versprachen Wandlung.
Doch sie führten auch zum Aufstieg des Nationalsozialismus. Schon früh (1928) schrieb die Nazipartei in ihre Statuten, dass, wer „mannmännliche oder weibweibliche Liebe“ praktiziere, ihr Feind sei.
Verschärfung der Verfolgung nach 1933
Gleich nach dem Tag der nationalsozialistischen Machtübernahme setzten Verfolgungsmaßnahmen auch gegen Homosexuelle ein. Die sexualpolitische Reformbewegung der Weimarer Zeit wurde zerschlagen, Treffpunkte wurden überwacht und Ziel brutaler Anschläge. Im Februar 1933 erließ der preußische Innenminister ein Verbot aller Homosexuellenlokale, bald darauf mussten zahlreiche Publikationen ihr Erscheinen einstellen. Die Polizeidirektion Nürnberg-Fürth meldete, dass sie „schon seit Mitte des Jahres 1933 strenge Maßnahmen gegen das Unwesen der Homosexuellen ergriffen hatte.“ Im Februar 1934 erfolgte die Einführung der vorbeugenden Polizeihaft für sogenannte Berufsverbrecher; dazu zählten alle Personen von über 21 Jahren, die Sexualkontakte mit unter 16jährigen hatten. Die Maßnahme wurde gerechtfertigt, um die präventive Wirkung der kriminalpolizeilichen Tätigkeit zu stärken.
Bis zum 30. Juni 1934 gab es in Bayern allenfalls gezielte Einzelaktionen gegen Homosexuelle. Das änderte sich schlagartig als die SA-Elite beseitigt wurde. Ernst Röhm als SA-Chef fiel einem internen Machtkampf zum Opfer. Seine homosexuelle Veranlagung hatte bis dahin bei Kritikern die gesamte nationalsozialistische Bewegung in die Nähe gleichgeschlechtlicher Affinität gerückt. Nun distanzierte sich Hitler von seinem einstigen Duzfreund und ließ ihn ermorden.
Wenige Tage nach der „Nacht der langen Messer“, wurde eine großangelegte Razzia ange-kündigt, bei der „ein schlagartiges Vorgehen in ganz Bayern beabsichtigt“ war. Gauleiter Adolf Wagner befahl die Durchführung am Abend des 20. Oktober 1934. Allein in München waren bei dieser Aktion mehr als 50 Polizeibeamte im Einsatz. Die Razzia erstreckte sich auf Parkanlagen wie den Englischen Garten und auf Bedürfnisanstalten. Die Gäste der beiden Schwulenlokale "Schwarzfischer" und "Arndthof" wurden abtransportiert. Insgesamt wurden mehrere hundert Personen festgenommen, davon 145 allein in München. 39 von ihnen wurden in Schutzhaft genommen und in das KZ Dachau gebracht. Vergleichbare Aktionen folgten auch in anderen deutschen Großstädten. Gleichzeitig mit der Razzia in Lokalen und Treffpunkten der schwulen Szene wurde eine Reihe von Homosexuellen anhand der seit dem Kaiserreich bestehenden und in der Weimarer Zeit fortgeführten „Rosa Liste“ festgenommen.
Gauleiter Adolf Wagner war mit dem Ergebnis jedoch nicht zufrieden und hegte Zweifel, ob die Polizeibehörden mit allem Nachdruck bei der Sache gewesen seien. Insbesondere die hohe Zahl von Arbeitern unter den Festgenommenen lief Wagners Intention zuwider, mit dieser Aktion gleichzeitig einen Schlag gegen die Intellektuellen zu führen, da er der Überzeugung war, dass „wie allgemein bekannt diese Verirrung menschlichen Trieblebens, hauptsächlich in den Kreisen der sog. Intelligenz und einer gewissen übersättigten Bürgerlichkeit verbreitet ist.“
Im Einklang mit den Razzien wurde eine systematische Erfassung von Homosexuellen in Rosa Listen vorangetrieben. Das betraf auch Hugo Kalb. 1935 nahm ihn die Würzburger Polizei erneut fest und verhängte eine mehrwöchige Schutzhaft über ihn. Als er im darauffolgenden Jahr im Münchner Volkstheater in dem Bauernschwank „Wer zuletzt lacht“ die Hauptrolle übernehmen sollte, schritt die Stapo-Leitstelle München ein und forderte, dass sein Auftritt im Hinblick auf seine homosexuelle Veranlagung verhindert werden müsse. Kalb erhielt Berufsverbot.
Verfestigung der Verfolgungsinstanzen
Es vergingen nur wenige Monate, bis die verschärfte Verhaftungspraxis (mit anschließender Sicherungsverwahrung) juristisch untermauert wurde. Mit der im Juni 1935 beschlossenen Strafgesetzbuchänderung wurde der zu strafende Tatbestand „widernatürliche Unzucht“ ausgeweitet. Von nun an waren nicht mehr nur „beischlafähnliche Handlungen“ zwischen Männern strafwürdig, sondern jedes homosexuelle Verhalten. In dieser Fassung blieb der Paragraph bis 1969 bestehen.
Im Zuge derselben Strafgesetznovelle wurde auch der sogenannte Analogieparagraph erlassen, der es jedem Richter überließ, nach dem „gesunden Volksempfinden“ zu entscheiden. Der §175 war jetzt zu einem besonders gut einsetzbaren Strafverfolgungsmittel gegen missliebige Kreise geworden, die in den Jugendbünden, der katholischen Kirche oder der Wehrmacht vermutet wurden. Die Anzahl der nach § 175 Verurteilten stieg von 1933 bis 1938 um das zehnfache auf 8.500 im Jahr. Die „Homosexuellenfrage“ wurde zu einer politischen Frage stilisiert.
Die Reichszentrale zur Bekämpfung von Abtreibung und Homosexualität war seit 1936 unter dem Leiter Josef Meisinger damit beschäftigt, den inkriminierten Personenkreis möglichst lückenlos zu erfassen. Nach vier Jahren Arbeit hatte die als oberste Polizeibehörde tätige Reichszentrale 41.000 Daten von Männern gespeichert, die als homosexuell bestraft worden waren oder als solche verdächtigt wurden.
Homosexuelle wurden schließlich zu Staatsfeinden erklärt. So entwarf der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, anlässlich der Gruppenführerbesprechung in der SS-Eliteschule in Bad Tölz am 18. Februar 1937 das Zerrbild einer sich seuchenartig ausbreitenden Homosexualität und beschwor den Untergang des Deutschen Reiches: ”Es gibt unter den Homosexuellen Leute, die stehen auf dem Standpunkt: was ich mache, geht niemandem etwas an, das ist meine Privatangelegenheit. Alle Dinge, die sich auf dem geschlechtlichen Sektor bewegen, sind jedoch keine Privatangelegenheit eines einzelnen, sondern sie bedeuten das Leben und das Sterben des Volkes.“ Die Homosexuellen führen in den Augen Heinrich Himmlers zum Untergang Deutschlands. Die NS-Bevölkerungspolitik indoktrinierte, dass jeder, der nicht für die optimale Reproduktionsfähigkeit sorge, Deutschlands Feind sei.
Homosexuelle Männer in Konzentrationslagern
Im November 1934 also wenige Tage nach Einlieferung der bei der Razzia festgenommenen Homosexuellen trat Rudolf Höß als Block und Rapportführer in die Wachtruppe des KZ Dachau ein. Nach Kriegsende behauptete der spätere Lagerführer von Auschwitz, die Isolierung der schwulen Häftlinge und die erschwerten Haftbedingungen seien auf seine Initiative hin geschehen, um sie umzuerziehen.
Von 1933 bis 1944 wurden etwa 50.000 bis 63.000 Männer wegen Homosexualität abgeurteilt. Viele - die Schätzungen liegen bei 5.000 bis 10.000 - erhielten im Anschluss an die Gefängnisstrafe unbefristet Schutzhaft. Im Konzentrationslager waren sie wehrlose Opfer der SS-Willkür. Ausgrenzung und mangelnde Solidarität der Mithäftlinge aufgrund von Vorurteilen führten dazu, dass mehr als die Hälfte die Haft nicht überlebte.
Kontinuität der Verfolgung in der Nachkriegszeit
Der §175, der einvernehmliche Sexualität zwischen erwachsenen Männern unter Strafe stellte, existierte in seiner 1935 verschärften Form noch bis 1969 weiter. Die Verfolgungsquote nahm nach 1945 stetig zu und die Zahl der Anklagen erreichte im Jahr 1959 einen neuen Höchststand von 8.737 in der Bundesrepublik Deutschland. Homosexuelle KZ-Gefangene kamen bald nach ihrer (vermeintlichen) Befreiung durch alliierte Kräfte wieder in ein Gefängnis
Diese Stimmung der restaurativen Nachkriegsära verdeutlicht ein Interview, das der englische Journalist Llew Gardner mit dem damaligen Dachauer Bürgermeister Hans Zauner geführt hat. So standen 1960 im Londoner „Sunday Express“ folgende Worte des Stadtoberhauptes zu lesen: „Bitte, machen Sie nicht den Fehler und glauben Sie, daß nur Helden in Dachau gestorben sind... Sie müssen sich daran erinnern, daß viele Verbrecher und Homosexuelle in Dachau waren. Wollen Sie ein Ehrenmal für solche Leute?“
Die sozialliberale Koalition entschärfte den §175, einvernehmlicher Sexualkontakt zwischen erwachsenen Männern wurde straffrei. Doch erst 1994 wurde der Paragraph vollständig aufgehoben. Erst im Jahr 2002 konnte sich der Bundestag dazu entschließen, die Urteile nach §175 der Jahre 1933 bis 1945 aufzuheben. Dazu konnten sich die Parlamentarier_innen hinsichtlich der Nachkriegsurteile erst 2017 entschließen, als nur noch eine Minderheit der ca. 50.000 Betroffenen am Leben war.
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- 30 Jan 2019 - 06:43