Antisemitismus in der Linken
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Tom Uhlig und Katharina Rhein
Antisemitismus in der politischen Linken ist ein sensibles Thema. Wer sich heute damit auseinandersetzen will, muss sich die Frage gefallen lassen, ob es denn derzeit nicht drängendere Probleme gibt: Das Erstarken des Rechtspopulismus und der Neuen Rechten sowie ihr Versuch, Sagbarkeitsgrenzen im öffentlichen Diskurs zu verschieben, lässt es angebrachter erscheinen, den Fokus darauf zu legen, wie in entsprechenden Bewegungen Antisemitismus kolportiert wird. Zudem blüht in diesen Zeiten der rechten Gefahr die Extremismustheorie auf, welche rechte Gewalt und antifaschistische nivelliert und damit linken Protest delegitimieren will. Tritt man, wenn man sich mit Antisemitismus in der Linken beschäftigt, nicht auf jemanden ein, der bereits am Boden liegt? Nicht selten wird Kritiker_innen linken Antisemitismus genau das vorgeworfen: Das Problem werde künstlich vergrößert und dadurch eine Politik desavouiert, welche doch für soziale Gerechtigkeit eintrete, und überhaupt sei Antisemitismus, ähnlich wie Rassismus und Sexismus, ein Nebenwiderspruch, welcher mit der Überwindung des Kapitalismus sowieso obsolet werde. Immer wieder sind in diese Vorwürfe selbst latent antisemitische Momente eingewoben, etwa in der gängigen Behauptung, die Kritiker_innen würden als Agent_innen von organisierten Schmutzkampagnen auftreten, womit eine dunkle Macht im Hintergrund gewittert wird, welche vermeintlich den Angriff steuere: Diese Argumentation ist beispielsweise derzeit ein beliebtes Mittel der britischen Labourpartei, um die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in den eigenen Reihen zu vermeiden.
Wir sind jedoch der Überzeugung, dass gerade die Konjunktur der völkischen Ideologie es umso notwendiger macht, sich kritisch mit problematischen Tendenzen in der Linken auseinanderzusetzen. Es ist die erklärte Strategie der Rechten, kulturelle Hegemonie zu erlangen, Dinge wieder öffentlich verhandelbar zu machen, welche lange Zeit für unhintergehbar gehalten wurden. Im Erfolg dieser Strategie zeigt sich, dass der Wertekonsens der Gesamtgesellschaft tatsächlich fragil ist, was auch die politische Linke betrifft. Nicht erst Wagenknechts Liebäugeln mit Obergrenzen für Flüchtlinge oder Lafontaines Annäherung an die friedenspolitisch verbrämte Querfront, hat gezeigt, dass rechte Agitation auch nicht spurlos an der Linken vorbeigeht, sondern dass es Tendenzen zur Annäherung gibt. Im Sommer 2014 einte etwa der antiisraelische Affekt im Zuge des Gaza-Einsatzes Islamisten, Linke und auch Nazis – so unterschiedlich die politische Programmatik der Akteure und Akteurinnen auch sein mochte, auf die Ablehnung des jüdischen Staates konnten sie sich einigen. Die Verlockungen antisemitischer Weltdeutungsmuster bei sich selbst zu reflektieren, ist auch eine notwendige Voraussetzung, sich von der völkischen Rechten abgrenzen zu können. Denn auch dort, wo rechte Gruppierungen im Zuge islamfeindlicher Agitation, teils den Schulterschluss mit Jüdinnen und Juden demonstrieren wollen, um das „christlich-jüdische Abendland“ vor der befürchteten Islamisierung zu retten, wird schnell deutlich dass es mit der vermeintlichen Antisemitismuskritik der völkischen Rechten nicht weit her ist: Strukturell, etwa in dem Hass auf Eliten, Intellektuelle, die Presse oder ganz allgemein Universalismus, ist hier die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden fest in das Repertoire der Agitation eingeschrieben. Um rechte Ideologien und deren konstitutiven Antisemitismus kritisieren zu können, muss die politische Linke über einen gesellschafts- wie subjekttheoretisch informierten Begriff von Antisemitismus verfügen und das bedeutet, auch die Reflexion bei sich selbst einzufordern. Wenn wir Antisemitismus in der Linken kritisieren, dann weil wir es für eine genuine Stärke der Linken halten, sich selbst zu hinterfragen, immer wieder darüber nachzudenken, wo man hinter die eigenen Ansprüche zurückfällt. Der Streit um die richtige Politik, das Aushandeln von Widersprüchen, die Selbstkritik ist unserem Verständnis nach eine Stärke linker Politik und keine Schwäche, weshalb wir es für solidarisch halten, darauf hinzuweisen, wo man sich verrannt hat. Es besteht eine eigentümliche Tragik darin, dass innerhalb der linken Theoriebildung einerseits die Begriffe entwickelt wurden, Antisemitismus bloßzulegen und die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu verstehen, dass andererseits Antisemitismus aber auch hier dennoch immer wieder reproduziert wird. Dabei verliert die Linke mehr, als dass sie lediglich an der Weiterverbreitung eines Vorurteils beteiligt ist: Antisemitismus ist eine Denkform, welche es als Weltdeutungsmuster verunmöglicht die Gesellschaft noch adäquat beschreiben und kritisieren zu können. Es lässt sich nicht gleichzeitig Kapitalismuskritikerin und Antisemitin sein, es kann nicht gleichzeitig für die Rechte von Frauen, LGBTIQ-Menschen oder rassistisch Diskriminierten gestritten werden, wenn Jüdinnen und Juden diese vorenthalten werden. Mit dem Antisemitismus fällt auch der Partikularismus ins Denken ein (und vice versa), was das Streiten für eine Gesellschaft, in der sich ohne Angst verschieden sein lässt verunmöglicht. Selbstverständlich müssen politische Rechte immer wieder jeweils spezifisch in konkreten historischen Situationen erkämpft werden, es muss allerdings der Anspruch linker Bewegungen sein, Ausgrenzungs- und Entrechtungspraktiken jenseits identitärer Politiken mitzudenken.
Welterklärungsversuche durch Komplexitätsreduktion
Antisemitismus dient dem Bewusstsein zur Reduktion von Komplexität. Der Abstraktionsgrad moderner Gesellschaften produziert das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Um diese bedrohliche Dimension abzuwehren, greift das Bewusstsein auf den Mechanismus der Verdinglichung zurück, indem es verschiedene Missstände personifiziert, einer kleinen Gruppe von Personen zuschreibt. Diese Bewusstseinsform ist gar nichts Ungewöhnliches und es bedarf der konstanten Anstrengung, nicht in sie zurückzufallen. Gerade auch, weil sie u.E. ein notwendiges Durchgangsstadium der Politisierung überhaupt beschreibt: Wer kann schon von sich behaupten, ideologiekritisch geschult auf die Welt gekommen zu sein. Wir möchten meinen, dass sich in den meisten linkspolitischen Biographien, gerade in der Adoleszenz, aber auch darüber hinaus, immer wieder Episoden finden, in denen das Elend, welches der Kapitalismus produziert, auf das vermeintliche Wirken einiger Bänker, Bonzen und Banditen zurückgeführt wird.
Jean Améry, nannte das Phänomen der linken Judenfeindschaft, den „ehrbaren Antisemitismus“ (Améry 1969), womit womöglich deren Eigentümlichkeit am besten auf den Punkt gebracht ist. Antisemitismus geht hier einher mit einem guten Gewissen, mit dem Empfinden, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Er kommuniziert sich nur über Umwege, und verschleiert seine Absichten damit nicht nur nach außen, sondern vielfach auch nach innen: Es ist zumeist gar nicht bewusst, antisemitische Ressentimentstrukturen bedient zu haben.[1]Im Weiteren soll das anhand von drei verschiedenen Feldern angesprochen werden, in denen sich Antisemitismus von links wiederholt Bahn bricht: Kapitalismuskritik, Antiimperialismus und Erinnerungspolitik.
Personalisierende Kapitalismuskritik
Der Begriff Kapitalismus beschreibt einen abstrakten Funktionszusammenhang, welcher verschiedene Phänomene miteinander in Beziehung setzt. Kapitalismus lässt sich nicht anfassen, er hat keine Adresse, bei der man klingeln und sich über zu hohe Mieten beschweren könnte. Mit der Entstehung des Kapitalismus war eine ganze Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen verbunden, die für viele Menschen nicht mehr nachvollziehbar waren. Erfolgten in der vormodernen Judenfeindschaft schon eine Identifizierung von Juden mit Geld und diverse Versuche schwer Erklärliches – etwa Naturphänomene wie Hunger oder Krankheiten – ursächlich auf Juden zurückzuführen, so potenzierte sich das mit dem Kapitalismus gewissermaßen. Juden wurden nun mit den diversen gesellschaftlichen Umbrüchen identifiziert: Ihnen wurden die Schattenseiten der Industrialisierung angelastet, die Neuordnung des sozialen Gefüges und der sozialen Zugehörigkeiten, die Entstehung des industriellen Proletariats und der gesellschaftlichen Spannungen. In der neuen Produktionsweise kommt es auf niemanden mehr insbesondere an, die einzelnen werden in ihrer Austauschbarkeit zu Überflüssigen. Der Versuch, der bewusstlosen Umwälzung der Gesellschaft Sinn zu verleihen, mündete nicht selten in ihrer Personifizierung: Der Prozess würde, so diese Erzählung, intentional gesteuert von den Juden und ihr Mittel dazu sei die Kontrolle der Zirkulationssphäre, des Finanzwesens, welche als diffuse abstrakte Macht hinter der als konkret wahrgenommenen Produktion vermutet wird:
„Mit anderen Worten: Die abstrakte Herrschaft des Kapitals, wie sie besonders mit der raschen Industrialisierung einhergeht, verstrickte die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie nicht durchschaut zu werden vermochten, in Gestalt des ‚Internationalen Judentums‘ wahrgenommen wurden.“ (Postone 2005, S. 181)
Moishe Postone unterscheidet hier zwischen dem „was moderner Kapitalismus ist und der Form, in der er erscheint“ (ebd.). Um diese Unterscheidung zu erläutern bezieht er sich auf Marx‘ Begriff des Fetischs. Mit dem Fetischcharakter der Ware beschreibt Marx, dass die Ware nicht einfach nur Ausdruck von Arbeit ist, sondern dass sich in ihr auch gesellschaftliche Verhältnisse verkörpern. Merkmal des Kapitalismus ist folglich die Vergegenständlichung gesellschaftlicher Beziehungen. Die Ware verfügt dabei über einen „Doppelcharakter“ von Wert und Gebrauchswert. Beides ist als dialektisch zu denken, erscheint aber einmal als Wert in Form von Geld und einmal als Gebrauchswert in Form der Ware. Dadurch erscheint die Ware letztlich aber nur als dinglicher Gebrauchswert, demgegenüber das Geld als Abstraktes auftritt, als alleiniger Ausdruck des Wertes. In der Folge erscheinen auch die gesellschaftlichen Beziehungen ihren Ausdruck nur noch im Abstrakten zu finden – „etwa als Geld und als äußerliche, abstrakte, allgemeine ‚Gesetze‘.“ (Ebd., S. 186) Das Abstrakte erscheint als quasi-natürliche Gesetzmäßigkeit und lässt das gesellschaftlich und historisch Konkrete dahinter zurücktreten: Dies kommt etwa in der ‚klassisch‘ ökonomistischen Rede von der ‚unsichtbaren Hand‘, die den Markt wie eine natürliche Gewalt des Schicksals lenke zum Ausdruck. Verkürzte[2]Formen antikapitalistischen Denkens tendieren daher dazu, sich nur gegen die Erscheinungsformen des Abstrakten zu wenden, etwa gegen das Geld oder die Zirkulationssphäre, während alles konkret Stoffliche als allgemein menschliche Konstante gedeutet wird. Kapital ist jedoch für Marx keineswegs mit Geld gleichzusetzen, sondern ist sich selbstverwertender Wert mit dem Ziel der ständigen Vermehrung des Wertes, wobei es wechselnde Formen annimmt (Geld, Waren, Lohn für Arbeitskraft etc.) – es existiert insofern prozessual. Das macht es aber nicht leichter, das alles zu verstehen. Verkürzte Kapitalismuskritiken tendieren daher vielfach dazu, das Geld als „Wurzel allen Übels“ im Kapitalismus zu betrachten, wohingegen Arbeit nichtkapitalistisch und ontologisch gedacht wird: „Dass konkrete Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen beinhaltet und von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen.“ (Ebd., S. 185)
Das Ideal der deutschen Arbeit als schaffend basiert auf einer solchen verkürzten Betrachtungsweise, in deren Folge es dann logisch erscheinen mag, die „industrielle Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar vom Kapital“ (ebd., S. 186f.) zu betrachten, wodurch „das industrielle Kapital als direkter Nachfolger ‚natürlicher‘ handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum ‚parasitären‘ Finanzkapital, als ‚organisch‘ verwurzelt“ (ebd.) und erdverbunden wahrgenommen werden kann. Wo das Finanzkapital mit jüdisch gleichgesetzt wird, wie es etwa die Nazis getan haben, tritt der Antisemitismus offen zu Tage. Abgemildert finden sich derlei Analysen aber auch in linken globalisierungskritischen Bewegungen, die alles Übel des Kapitalismus beim Finanzkapital ausmachen. Auch wenn das Finanzkapital nicht unvermittelt mit den Juden konnotiert wird, bleibt diese Auffassung strukturell gleich, denn sie greift zu kurz und tendiert dazu vorschnell Schuldige bzw. Verantwortliche für die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im Kapitalismus auszumachen. Zudem wird in solchen Kontexten gerne auf Symboliken zurückgegriffen, allen voran die Krake, die historisch in eindeutig antisemitischer Absicht verwendet wurden.
Aber auch der sogenannte Arbeitermarxismus weist Kurzsichtigkeiten auf. Er versuchte den Ausweg im Klassenkampf zu finden und mündete im Grauen des Stalinismus. Verschiedene Klassen stehen sich hier als Verkörperung historischer Kräfte unversöhnlich gegenüber und indem die eine Klasse die andere auslöscht, glaubt sie, das Kapitalverhältnis abgeschafft zu haben. Hier geht es dann also nicht mehr um ein Beziehungsverhältnis, sondern um dessen Verdinglichung. Dabei wurden im Stalinismus zwar Millionen hingerichtet, an der Beziehung zur Produktion änderte sich jedoch recht wenig, im Gegenteil wurde die Losung ausgegeben, man müsse gerade jetzt besonders viel arbeiten, um dem Druck von außen standhalten zu können. Es ist vermutlich kein Zufall, dass, wie Léon Poliakov es beschreibt, in der UdSSR Antisemitismus ein zunehmendes Problem wurde. (Vgl. Poliakov 2013) Da der realexistierende Sozialismus weiter von seiner Idee nicht hätte weg sein können, musste nach Schuldigen gesucht werden, welche ihn an seiner Verwirklichung hinderten. Diese Schuldigen wurden dann in den Jüdinnen und Juden gefunden, deren Assoziierung mit der Zirkulationssphäre, also mit dem Kapitalismus an sich, auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Die demütigende Erfahrung, den Kapitalismus nicht einfach überwinden, nicht umstandslos vernünftig einrichten zu können, wird auch heute in der politischen Linken vielfach damit kompensiert, einen vermeintlich einfachen Ausweg aus ihm zu phantasieren. In der ‚verkürzten Kapitalismuskritik‘ geht es dann darum, dass ein kleiner Prozentsatz der Menschen – sehr beliebt ist derzeit etwa die Rede vom 1% – für die Ungerechtigkeit im Kapitalismus verantwortlich sei und nicht etwa alle Menschen, die durch ihre Arbeitskraft dafür sorgen, dass er sich reproduziert. Diese Denkschablone hat zum Vorteil, sich selbst, den eigenen Anteil, den man an den Verhältnissen hat, nicht hinterfragen zu müssen und suggeriert Handlungsfähigkeit: Wenn man weiß, wer die Schuldigen sind, dann weiß man auch, was zu tun ist.
Antiimperialismus
Eine ähnliche Bewegung der Komplexitätsreduktion finden wir in der Deutung internationaler Konflikte, welche innerhalb der politischen Linken häufig innerhalb eines antiimperialistischen Interpretationsrasters stattfindet. Thomas Haury schrieb einmal, das antiimperialistische Weltbild mache keine Fehler, er sei der Fehler. (Haury 2013: 152) Die Denkform des Antiimperialismus beruht maßgeblich auf dem Paradigma nationaler Selbstbestimmung, jedes ‚Volk‘ möge über sein eigenes Geschick verfügen. Kritisiert werden hier vor allem globale Interventionen mächtiger Staaten, denen dann aber häufig die vermeintliche Ursprünglichkeit autochthoner Gemeinschaften entgegengestellt wird. Für die bundesdeutsche Linke haben diese Konflikte vielmals die Funktion von Stellvertreterkämpfen gehabt. Während die revolutionäre Umwälzung im eigenen Land in weite Ferne gerückt war, hat sich die Hoffnung auf Befreiungsbewegungen im Trikont wie auch auf die Kurden oder Palästinenser verschoben. So wichtig die Erlangung nationaler Souveränität beim Kampf gegen Unterdrückung auch sein kann, so einseitig ist doch vielmals die antiimperialistische Interpretation der Konfliktursachen. Häufig wird hier ein Manichäismus bedient, nachdem allein die USA und Israel für kriegerische Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht werden. Sie werden als ‚künstliche‘ Gesellschaften einer ‚natürlichen‘ Gemeinschaft gegenübergestellt, wobei letztere damit als vorpolitische Einheit ohne innere Widersprüche bevormundet wird.
Antiimperialistische Kämpfe waren immer auch antikolonial, Teile der postkolonialen Theorie und sich darauf gründende politische Bewegungen lassen sich insofern teils auch als Fortsetzung antiimperialistischer Ansätze auffassen. Postkoloniale Ansätze sind bezüglich einer Kritik der Nachwirkungen des Kolonialismus bedeutsam und das gerade dort, wo sie etwa mittels historischer Analysen Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzeigen. Schwierig wird es aber, wenn sich das Denken in allzu simplen Dichotomien erschöpft, in der Gegenüberstellung von „Osten“ und „Westen“, von „gut“ und „böse“, bzw. wenn „der Westen“ pauschal zum Feindbild wird. In der heutigen postkolonialen Theorie, welche wohl eine der derzeit gängigsten Ausdrucksformen antiimperialistischer Politiken ist, tradiert sich dieser instrumentelle Reduktionismus teilweise. Die notwendige Kritik des Westens schießt über das Ziel hinaus, wenn noch die historischen Errungenschaften der Aufklärung und das darin eingelassene Versprechen individueller Freiheit, negiert werden. Antikoloniale Theoretiker wie Frantz Fanon, der einen wichtigen Bezugspunkt für postkoloniale Ansätze darstellt, wusste um die Dialektik der Aufklärung und hielt Befreiung nur durch die Aufklärung und nicht gegen sie für möglich. Die Aufklärung ist selbst immer wieder hinter sich zurückgefallen: Menschenrechte, die doch eigentlich universal sein sollten, galten vornehmlich für den weißen, ökonomisch relativ unabhängigen Mann. Als Olympe de Gouges die Realisierung von Menschenrechten auch für Frauen verlangte, wurde sie hingerichtet, als die Sklaven im heutigen Haiti das gleiche versuchten, erging es ihnen ähnlich. Die Ideologien des Rassismus, Sexismus und Antisemitismus bedienten sich der zur technischen Rationalität verkümmerten Ideen der Aufklärung, um ihre Menschenverachtung zu legitimieren, und dennoch bleibt an den Idealen der Aufklärung festzuhalten, sie gerade dort einzufordern, wo sie sich in ihr Gegenteil zu verkehren drohen. Für die politische Linke folgt daraus, auf der Idee der Universalität der Menschenrechte, im Sinne einer radikalen Anerkennung der einzelnen Subjekte mitsamt ihren Unterschieden zu beharren. Den Westen und mit ihm die Aufklärung pauschal zum Problem zu erklären, birgt die Gefahr in Hass auf diejenigen umzuschlagen, welche historisch betrachtet immer wieder als Verkörperung westlicher Werte wie Universalismus, Freiheit, Individualismus und Rationalität galten und gelten: Jüdinnen und Juden.
Das geschieht auf unterschiedliche Weise, sei es weil alle Juden weltweit verantwortlich für die Politik Israels gemacht werden oder indem Juden und Jüdinnen in der postkolonialen Theorie gar nicht mehr als auch von rassistischer Diskriminierung und Gewalt Betroffene wahrgenommen werden, weil sie als „weiß“ und damit der Dominanzgesellschaft zugehörig betrachtet werden. Das ignoriert nicht nur die Anfeindungen, denen Juden und Jüdinnen ausgesetzt sind, sondern tut auch so, als gäbe es keine jüdischen People of Color.
Es erscheint nicht sinnvoll, alle progressiven Momente der Aufklärung unter Verweis auf die regressiven einfach von vornherein abzulehnen. Umgekehrt würde aber ein allzu emphatischer Bezug auf die Aufklärung, der die regressiven Elemente nicht reflektiert und kritisiert, die trotz allem enthaltenen progressiven Momente letztlich a priori negieren, da die enthaltenen Widersprüche mitgedacht werden müssen, um nicht im gleichen Zuge hinter sinnvolle Ansprüche von Freiheit und Gleichheit zurückzufallen. Die Dialektik der Aufklärung mitzudenken, heißt folglich die aufklärerischen Forderungen gegebenenfalls immer wieder kritisch gegen ihre Autoren zu richten und letztlich auch reflexiv gegen den eigenen Partikularismus.
Erinnerungspolitik
Das dritte Feld – die Erinnerungspolitik – scheint vielleicht zunächst wenig naheliegend für die Diskussion von Antisemitismus innerhalb der politischen Linken: Ist es doch in vielerlei Hinsicht maßgeblich der Kritik der Linken zu verdanken, dass der Mantel des Schweigens über die Shoah in der Bundesrepublik zumindest teilweise gelüftet und der breite Konsens, von alldem nichts gewusst zu haben, Risse bekam. Während die sogenannte Neue Linke in den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre noch stärker die theoretische wie praktische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem für ihn fundamentalen Antisemitismus suchte, entwickelte sich parallel zu internationalen linken Bewegungen ein Faschismusbegriff, der immer diffuser wurde, „der im Laufe der Entwicklung der Neuen Linken immer mehr seine Spezifika verlor und letztlich nahezu alles umfasste und dadurch fast nichts mehr aussagte – die ‚ganze Nazi-Scheiße‘ eben.“ (Oy 2014: 96) In den international wachsenden linken Bewegungen wurde der Antiimperialismus gerade auch im Zuge des Protests gegen den Vietnamkrieg zu einem Kernthema. Insbesondere in Folge des Sechs-Tage-Kriegs im Juni 1967 wurde auch Israel bei der neuen Linken zunehmend in deren Imperialismuskritik einbezogen. In der Folge entwickelte sich in der radikalen Linken eine proarabische und antizionistische Haltung – die oft nicht frei von Antisemitismus war (vgl. Bergmann 1997: 302f.). Gleichzeitig stellte sich die Protestbewegung in der BRD als eine dar, die sich in Opposition zur Generation der Nazi-TäterInnen verstand, wodurch sie sich von Rassismus und Antisemitismus gefeit wähnte. Es sollte sich aus dem generationellen Zusammenhang gelöst, das Band zu den Eltern gekappt werden, wodurch jedoch im Gegenteil die Verstrickungen in Gefühlserbschaften bewusstlos blieben, was einer kritischen Selbstreflexion im Wege stand. Vermeintlich unbelastet von deutscher Schuld blieb die Reproduktion von Antisemitismus vielmals unbemerkt: Man glaubte objektiver beispielsweise über die Politik Israels oder jüdische Immobilienhändler urteilen zu können als die schuldbelastete Elterngeneration und exekutierte dabei doch nur deren transgenerational weitergegebene Ressentiments.
Hinzu kommt, was Christian Schneider und Ulrike Jureit (2010) „opferidentifiziertes Gedenken“ genannt haben. Hier setzt sich verkürzt gesagt das Bewusstsein nicht-jüdischer Deutscher selbst anstelle der Opfer der Shoah. Daraus können vereinnahmende und gleichzeitig verharmlosende Vergleiche resultieren, wie es etwa im Zuge der Studierendenproteste Ende der 1960er Jahre der Fall war, wenn bisweilen die Rede davon war, die Protestierenden heute würden wie die Juden damals behandelt. Es wird sich emphatisch und vielmals unterschiedslos auf die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung bezogen und gleichzeitig der Blick von den Täterinnen und Tätern sowie den Ursachen des Verbrechens abgewendet. Das Gedenken wird entkonkretisiert und instrumentalisiert. (Vgl. Schwietring 2003) Nicht die solidarische Haltung gegenüber den Verfolgten und ihren Nachkommen steht im Vordergrund, sondern ein positives Selbstbild zu erlangen. Eine solche Selbstidentifizierung ist auch deshalb so problematisch, weil sie leicht in ihr Gegenteil umschlagen kann, sobald das Objekt, sich nicht mehr entsprechend seiner Funktion für den eigenen Affekthaushalt verhält. Etwa wenn als Opfer identifizierte, Verhaltensweisen an den Tag legen, die dem Bild von ihnen nicht entsprechen und somit etwa das wohlige Gefühl auf der Seite der Schwachen und Unterdrückten zu stehen, gestört wird. Einen solchen Umschlag können wir beispielsweise im Umgang der deutschen Linken mit Israel im Zuge des sogenannten Sechstagekrieges beobachten: Wie Moishe Postone schreibt, war keine europäische Linke vor 1967 so pro- und danach so antiisraelisch eingestellt (vgl. Postone 2005: 174). Israel als Staat zu erleben, der seiner eigenen Vernichtung trotzen kann, also nicht mit der ihm zugedachten Opferposition übereinstimmt, scheint die vormals positive Identifikation gebrochen zu haben, was darauf hindeutet, dass die frühere Solidarität mit Israel instrumentellen Charakter hatte.
Implikationen für die Bildungsarbeit
Zuletzt soll es um eine Frage gehen, die uns in der politischen Bildungsarbeit immer wieder begegnet: Wie kann Antisemitismus angesichts dessen, dass er in der Regel nicht offen, sondern über Umwege zum Ausdruck kommt, denn eigentlich als solcher erkannt werden, wie bemerkt man, wenn in eine solche Denkform zurückgefallen wird?
Hierzu lassen sich mindestens zwei Wege benennen, die ineinander verschränkt und für antisemitismuskritische Bildungsarbeit generell wichtig sind – nicht nur in linken Kontexten: Die historisch informierte Bildanalyse und die Frage nach der gesellschaftlichen und psychischen Attraktivität. Unter historisch informierter Bildanalyse ist hierbei zu verstehen, dass man sich der langen Tradition antijüdischer Denkfiguren und Bilder bewusst wird, um entsprechende Muster auch dort zu erkennen, wo sie in aktualisierter Form auftreten, etwa wenn im Zuge des Vorwurfs, Israel würde das Trinkwasser der Palästinenser vergiften, das jahrhundertealte Bild vom Juden als Brunnenvergifter aufgerufen wird. Die Ausdrucksformen von Antisemitismus wandeln sich ständig und stehen gleichzeitig in einer langen Tradition: Es gibt ein Bilderrepertoire, auf welches immer wieder zurückgegriffen wird. Diese Bilder sind gesamtgesellschaftlich weit verbreitet, sodass davon ausgegangen werden muss, dass man selbst zumindest einen Teil davon mitträgt und bewusstlos reproduziert. Es geht nicht allein darum, Antisemitismus bei anderen zu erkennen, sondern auch darum, sich die eigenen antisemitischen Bilder bewusst zu machen und Sensibilität für die Perspektive der von Antisemitismus Betroffenen zu entwickeln: Die Gewissheit, immer auf der richtigen Seite zu stehen, muss sich erschüttern lassen, was nicht nur den Mut braucht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern auch den Mut, diesem gegebenenfalls zu misstrauen. Die Frage nach der gesellschaftlichen und psychischen Attraktivität von Antisemitismus verweist darauf, die eigenen Denkweisen und den eigenen Blick auf Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Wo hat man etwa selbst Probleme, die Komplexität der Welt mit all ihren Widersprüchen auszuhalten? Wo driftet das eigene Denken in die Verdinglichung ab?
Im Folgenden soll das anhand von zwei Beispielen für Formen des Antisemitismus geschehen, die in linken Kontexten besonderen Anklang finden, auch wenn es sich hierbei nicht um einen per se linken Antisemitismus handelt. Am ersten Beispiel, der Krakensymbolik im Kontext von globalisierungskritischen Demonstrationen, zeigt sich die personalisierende Kapitalismuskritik und am zweiten Beispiel, der BDS-Bewegung, verschränken sich problematische Aspekte von Antiimperialismus und Erinnerungspolitik.
Nehmen wir das Beispiel der auf vielen globalisierungs- und sich kapitalismuskritisch gebenden auftauchenden Darstellung von Kraken. Immer wieder finden sich oft aufwändig gebaute große Kraken auf Demonstrationen, die gerne auch noch mit Fotos von führenden Politiker_innen versehen werden, wie etwa bei den Demonstrationen gegen den G20-Gipfel in Hamburg. Wer die Verwendung dieser Symbolik historisch einordnen kann, kennt dieses Bild der weltumspannenden Krake etwa aus der NS-Zeit, wo die Krake dann noch mit einem Davidstern markiert wurde, damit auch kein Zweifel an der antisemitischen Konnotation besteht. Die Krake symbolisiert, dass es irgendwo einen „Kopf“ gibt, von dem sich Arme über und um die Welt spannen und alles kontrollieren – eine klassische Weltverschwörungsideologie, die suggeriert, wenn einzelne führende Persönlichkeiten oder auch das 1% verschwunden wären, wäre die Welt gerechter, obwohl sich an den gesellschaftlichen Bedingungen damit nichts geändert hätte. Die historische Informiertheit über entsprechende Bilder, verweist darauf, dass man hier genauer hinschauen sollte. Die zweite Frage ist dann, was macht diese Art der Darstellung und solche Versuche der Welterklärung attraktiv? Die Machtstrukturen und Bedingungen für politische Entscheidungen sind gerade in der sich immer weiter globalisierenden Welt komplex, es ist also zunächst einmal verständlich, dass nach Erklärungen gesucht wird. Gleichzeitig lassen sich die Ursachen etwa für globale Ungerechtigkeiten nicht mit der Macht von Einzelpersonen oder der Macht einer bestimmten Gruppe oder des 1 % erklären. Insofern gilt es allzu einfache Welterklärungsversuche zu irritieren. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten gehören natürlich dennoch kritisiert und entsprechenden Bedürfnissen sollte auch Raum gegeben werden, aber dann gehört es auch dazu, gesellschaftliche Machtverhältnisse und Strukturen in ihrer Komplexität genauer zu beleuchten und auch nach der jeweils eigenen Rolle zu fragen. Der Reiz der simplen Schuldzuweisung mag darin liegen, dass man sich auf der Seite der Gerechtigkeit wähnt und zudem lässt sich Handlungsfähigkeit suggerieren, wirkliche politische Handlungsfähigkeit wird aber nur da erlangt, wo politische Prozesse und gesellschaftliche Machtverhältnisse auch durchschaut und in ihren historisch konkreten Bedingungen begriffen werden.
Als anderes Beispiel lässt sie die Boycott-Divestment-Sanctions Bewegung (BDS) nennen: Wer um die geschichtlichen Bilder jüdischer Geschäfte im nationalsozialistischen Deutschland weiß, vor denen SA-Männer mit Schildern stehen, mit denen die Volksgemeinschaft aufgefordert ist, nicht beim Juden zu kaufen, dem wird es nicht schwer fallen zu sehen, dass ähnliche Motive wieder auftauchen. Das Unbehagen, welches einen dabei beschleichen kann, ist ein erster Indikator, dass etwas im Argen liegen könnte, dass ein genaueres Hinschauen notwendig sein kann. Nun wissen in Deutschland wohl die meisten um diese Bilder und dennoch gibt es Unterstützung für BDS, (wenn auch weniger als etwa in Großbritannien). Hier ist es dann notwendig nach ihrer Funktion und Attraktivität zu fragen: Die Ressentiments in der BDS-Bewegung können beispielsweise in Deutschland im Zeichen der Schuldabwehr stehen.[3]Dass sich BDS Berlin 2017 zwar ausgerechnet den 9. November ausgesucht hat, um gegen Israel zu protestieren, ist sicher kein Zufall, sondern hat die entlastende Funktion, die von der eigenen Gesellschaft begangenen Verbrechen von gestern von sich zu weisen und stattdessen auf vermeintliche Täter von heute zu zeigen.[4]BDS ist gerade für viele sich als links definierende Menschen ein attraktives Angebot, dass eine eindeutige Positionierung ermöglicht und politische Handlungsfähigkeit verspricht. Diese vermeintliche Sicherheit auf der „richtigen“ Seite zu stehen, gilt es zu irritieren, um der einfachen schwarz-weiß Malerei zu begegnen und differenziertere und vielschichtigere Bilder der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft zu entwickeln.
In der politischen Bildungsarbeit wird uns gegenüber immer wieder der Wunsch nach einfachen Handreichungen artikuliert, nach Regeln, die einem dabei helfen sollen, antisemitische von nicht-antisemitischer Kritik zu trennen. Es gibt in Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus etwa den sogenannten 3D-Test Nathan Sharanskys, bei welchem danach gefragt werden soll, ob die Kritik an politischen Handlungen der israelischen Regierung oder Bevölkerung damit einhergeht, dass Israel delegitimiert, dämonisiert oder nach Doppelstandards bemessen wird. Ist eine der drei Kriterien erfüllt, sollte nach Sharansky ein genauerer Blick auf die Aussage gelegt und sie gegebenenfalls als (strukturell) antisemitisch kritisiert werden. Für regressive Kapitalismuskritik gibt es unseres Wissens nach keine ähnliche Faustregel, jedoch würden wir zwei Heuristiken vorschlagen diese zu erkennen: Zum einen suggerieren ‚verkürzte‘ Erzählungen vom Kapitalismus zumeist, dass aus der Gleichung des Kapitalismus nur eine Variable – etwa das Bankwesen, einzelne Akteure oder eine Klasse – entfernt werden müsste, damit alles gut wird. Wo eine Ursache isoliert und für das Ganze der kapitalistischen Misere gehalten wird, liegt der Verdacht nahe, dass hier eine Schuldzuweisung erfolgt, die der Struktur nach latent antisemitisch oder zumindest offen für Antisemitismus ist.
Zum zweiten scheint uns Kapitalismuskritik immer dann bedenklich zu werden, sobald sie einen selbst vom kapitalistischen Zusammenhang ausklammert. Kapitalismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, an welchem alle Individuen Anteil haben. Wo sich die Kritiker_innen außerhalb des Kritisierten wähnen, wird ein Manichäismus bedient, der abermals den Kapitalismus in eine gute und eine böse Seite aufspaltet. Stattdessen gilt es Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu betrachten. Die Forderung nach Abschaffung des Kapitalismus und die damit verbundene Utopie einer befreiten Gesellschaft, also einer Gesellschaft in der soziale Ungerechtigkeiten aller Art abgeschafft sind, in der sich ohne Angst verschieden sein lässt, bleibt solange utopisch, solange nicht auch die Reproduktion des Kapitalismus im Alltag berücksichtigt wird. Wer nicht mitdenkt, dass er_sie selbst Teil der Gesellschaft ist, die all diese Ungerechtigkeiten, wie rassistische, sexistische und antisemitische Ideologien produziert, mag vermeintlich einfache Lösungen aufzeigen, fällt damit aber auch hinter den eigenen Anspruch auf eine befreite Gesellschaft zurück. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten müssen konkret im Hier und Jetzt kritisiert werden und das bleibt als antikapitalistische ebenso wie als alltägliche demokratische und selbstkritische Praxis wichtig.
Literatur
Bergmann, Werner (1997): Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989. Frankfurt am Main.
Jureit, Ulrike & Schneider, Christian (2010): Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Haury, Thomas (2013): Zur Logik des bundesdeutschen Antizionismus. In: Léon Poliakov: Vom Antizionismus zum Antisemitismus. Freiburg, ça ira, S. 125-159.
Oy, Gottfried (2014): Die Neue Linke und der Nationalsozialismus. In: Ders./Schneider, Christoph: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie. Münster, Westfälisches Dampfboot, S. 93-156.
Poliakov, Léon (2013): Vom Antizionismus zum Antisemitismus. Freiburg, ça ira.
Postone, Moishe (2005): Deutschland die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Freiburg: ça ira.
Schwietring, Marc (2003): Konkretionen des Erinnerns. Der Wandel des Gedenkens an historischen Stätten der NS-Verbrechen. In: M. Klundt, S. Salzborn, M. Schwietring & G. Wiegel (Hrsg.): Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert.Gießen, NBKK, S. 137–174.
[1]In dem Beitrag, welchen Tom Uhlig gemeinsam mit Meron Mendel für den Sammelband Fragiler Konsens verfasst hat, geht es um eben eine solche bewusstlose Reproduktion von Antisemitismus innerhalb der linken Kritik des Postkolonialismus.
[2]Die gebräuchliche Formulierung „verkürzte Kapitalismuskritik“ ist bereits in sich problematisch, suggeriert sie doch, der Weg der Kapitalismuskritik sei nur nicht in Gänze abgeschritten worden. Tatsächlich aber führt diese problematische Form der Kapitalismuskritik an ihrem Gegenstand vorbei, eine ‚halbierte Aufklärung‘ ist letztlich keine, sondern ihr Gegenteil, die Produktion von Ideologie.
[3]Zur Attraktivität von BDS in Ländern wie Frankreich und Großbritannien, wäre ein genauerer Blick auf die Geschichte dieser beiden Staaten als ehemalige Kolonialmächte im Nahen Osten zu richten, auch hier ließen sich so sicherlich, wenn auch etwas anders gelagerte, Motive der Schuldabwehr sichtbar machen.
[4]Zwar stand die Aktion im Kontext eines von Aktivist_innen in anderen Ländern ausgerufenen „Global Day of Action for a Word without walls“, in dessen Rahmen etwa auch die Mauer zwischen den USA und Mexiko kritisiert wurde, im Fokus stand aber stets die angebliche „Apartheidsmauer“ in Palästina und BDS Berlin führt die Tatsache, dass Mauern gebaut werden, generell auf Israel zurück, das erheblich zu einer „neuen weltweiten Ära der Mauern“ beigetragen habe. Teile der Bewegung mögen sich damit positiv auf den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 beziehen. Wenn der BDS in Deutschland entsprechende Aktionen am 9. November macht, verweist das aber auf einen zweifach problematischen Umgang mit der Geschichte. Zum einen zeigt sich hier eine Ignoranz gegenüber den jüdischen Verfolgten des NS-Regimes, wenn ausgerechnet der Tag der Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung für die Mobilisierung zu Boykott-Aktionen gegen den jüdischen Staat genutzt wird, und zum anderen werden solche Formen bundesdeutscher Erinnerungspolitik bedient, die den Fall der Mauer immer lautstärker feiern, während die Bedeutung, die der Erinnerung an die Novemberpogrome beigemessen wird, stetig nachlässt.
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- 23 Mai 2018 - 10:38