Gerettete Geschichten
Von Christian Schmitt
Verfolgung von Jüdinnen und Juden, nicht nur in und durch NS-Deutschland, fand in verschiedenen Regionen Europas unter unterschiedlichen Voraussetzungen statt und wurde von den Betroffenen jeweils anders erlebt. Kaum ein Ansatz eignet sich deshalb besser für eine perspektivenreiche Geschichtsdarstellung als die Geschichte jüdischer Menschen im Europa des 20. Jahrhunderts. Ein Dossier auf der Internetpräsenz der Bundeszentrale für politische Bildung greift diesen Ansatz auf und erzählt anhand mehrerer Biografien Geschichten jüdischen (Über-)Lebens.
Lebensgeschichten aus ganz Europa
Im Zentrum der Seiten stehen elf Filme, die jeweils die Lebensgeschichte einer jüdischen Person bzw. Familie erzählen. Die Videos entstanden im Rahmen des Oral-History-Projekts „The Library of Rescued Memory – die Bibliothek der geretteten Erinnerungen“ des in Wien ansässigen Zentrums zur Erforschung und Dokumentation jüdischen Lebens in Ost- und Mitteleuropa CENTROPA. Neben den auf Interviews und Familienfotos basierenden Biografien sorgen interaktive Karten sowie eine Sammlung von Hintergrundtexten für den nötigen historischen Kontext. Durch die umfangreiche Hintergrundnarration wird auch gewährleistet, dass die Geschichten der Überlebenden nicht als repräsentativ für das Schicksal der europäischen Jüdinnen und Juden dargestellt werden, was den Redakteur_innen nach eigenen Angaben ein besonders wichtiges Anliegen ist.
Die Bandbreite der dargestellten Personen ist vor allem in geografischer Hinsicht groß. Mathilda Albuhaire wuchs als Tochter spanischstämmiger Jüdinnen und Juden in Bulgarien auf und entkam während des Krieges nur knapp der Deportation; im Gegensatz zu Larry und Rosa Anzhel, die – ebenfalls in Bulgarien groß geworden – interniert wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Es wird die Geschichte der jüdischen Familie Brodmann erzählt, deren Mitglieder ab 1939 ins Exil gingen und sich über die ganze Welt verstreuten. Haya-Lea Detinko wurde in der Sowjetunion wegen der Mitgliedschaft in der zionistischen Jugendvereinigung „Hashomer Hatzair“ zu Zwangsarbeit und Zwangsexil verurteilt und überlebte den Gulag. Teofila Silberring verbrachte ihre Kindheit in Krakau und war während des Krieges in gleich mehreren Konzentrationslagern inhaftiert. Die weiteren Lebensberichte spielen sich unter anderem in Belgrad, Prag und Istanbul ab.
Demographische und geopolitische Entwicklungen räumlich dargestellt
Die fünf interaktiven Karten stellen die geographische und politische Situation in Europa ab 1933 räumlich dar. Die Karte „Familienwege 1933-1989“ bildet die Lebenswege der elf vorgestellten Familien und Personen ab. Die von Auswanderung, Flucht und Deportation ausgelösten Migrationsbewegungen werden vor dem Hintergrund der geopolitischen Entwicklungen der einzelnen Zeitabschnitte gezeigt. Weitere Karten zeigen die wichtigsten Exilländer jüdischer Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich, machen die Dimensionen des Völkermordes anhand der ermordeten Jüdinnen und Juden auf die einzelnen europäischen Länder verteilt deutlich und stellen bildlich die Vertreibung und Vernichtung jüdischer Menschen aus dem Deutschen Reich dar. Die letzte Karte widmet sich der jüdischen Bevölkerungsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Texte zum historischen Kontext thematisieren jüdisches Leben in Europa vor 1933 in seinen vielfältigen Traditionen und Kulturen und zeigen den besonderen Stellenwert von Palästina unter den zahlreichen Exilländern. Ein Artikel betrachtet die Situation von Jüdinnen und Juden nach 1945 und zeigt, dass der Mythos der „Stunde Null“ auch für ihre Verfolgung unzutreffend ist. Schließlich wird die politische Neuordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufgegriffen und ihre Auswirkungen auch auf Angehörige der jüdischen Minderheit sichtbar gemacht.
Zusammenfassung
Das Dossier „Gerettete Geschichten“ lässt keine Wünsche offen und eignet sich hervorragend für eine multiperspektivische und interkulturelle Geschichtsvermittlung. Es erzählt jüdische Geschichte im Europa des 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven in unterschiedlichen Lebenssituationen und macht das Erzählte somit für die User_innen leichter nachvollziehbar. Mehr an die kognitiven denn an die empathischen Fähigkeiten der Lernenden richten sich die Karten, die das Ausmaß und die bis heute sichtbaren demographischen Auswirkungen des nationalsozialistischen Völkermordes bildlich zur Geltung bringen. Texte zum historischen Kontext sorgen außerdem für das nötige Hintergrundwissen. Darüber hinaus finden sich auf den Seiten auch methodische Reflektionen der am Projekt Beteiligten, was den Eindruck historischer Eindeutigkeit insbesondere in Bezug auf die in den Karten dargestellten Zahlen verhindert.
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- 24 Mai 2017 - 06:33