Shoah vs. Gulag, West gegen Ost?
Von Gerit-Jan Stecker
In verschiedenen europäischen Erinnerungskulturen spielt der Gulag eine unterschiedliche Rolle. In einigen Ländern des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs konkurriert die Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen mit dem Gedächtnis an Shoah und Zweiten Weltkrieg, im Baltikum etwa drängt sie dieses zurück. Und über Ländergrenzen hinaus stehen sich akademische und politische Positionen gegenüber, die sich an der Frage nach der Vergleichbarkeit von Stalinismus und Nationalsozialismus scheiden. In handfesten Konflikten wie in der Ukraine gibt es keine geteilte europäische Erinnerung, die einen Referenzrahmen deeskalierender Politik bilden könnte. Im Gegenteil: Das Gedächtnis wirkt teilend.
Dementsprechend soll der historisch-politischen Bildung die Aufgabe zukommen, an der Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses mitzuwirken. Neben dem Unterricht stehen besonders Jugendbegegnungen, Museen (wie das dieses Jahr eröffnende „Haus der europäischen Geschichte“), Lehrbücher und Gedenkstätten im Fokus. Das „Journal für politische Bildung“ 3 / 2015 mit dem Schwerpunkt „Erinnerungskultur in Europa“ greift dieses Thema in mehreren Beiträgen auf.
Singularität vs. Universalisierung der Shoaherinnerung
Oliver Plessow geht in einem Überblickstext über die „Europäisierung der Shoaerinnerung im Bildungssektor“ (S. 16) auf die Gedächtniskonkurrenz von Holocaust- und Gulag-Erinnerung ein. Mit Stefan Troebst macht er grob drei „Erinnerungsregionen“ aus: a) eine westeuropäische, in deren Mittelpunkt der Sieg über die Nationalsozialisten als Triumph der Demokratie stehe; b) eine mitteleuropäische, „eher ambivalente“ und c) eine heterogene osteuropäische Erinnerungsregion, in der Holocaust und NS auf unterschiedliche Weise auf die sowjetische Herrschaft bezogen werden (S. 18).
Vordergründig wird kaum bestritten, dass und wie sich Shoah und Zweiter Weltkrieg ereigneten. Vielmehr steht dahinter der Versuch, der Erinnerung an den realsozialistischen Terror ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem Holocaust einzuräumen. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung traumatischer Erfahrung ist zunächst ernst zu nehmen, wie Liljana Radonić in derselben Ausgabe schreibt. Europaweite Kontroversen entzünden sich jedoch an der Frage, inwiefern Shoah und Gulag als gleichermaßen verbrecherisch zu bewerten seien. Radonić verweist auf das „Haus der europäischen Geschichte“: Während der Vorbereitungen konnte sich der wissenschaftliche Beirat nicht auf einen Minimalkonsens über die Geschichte ab 1939 einigen.
Ein besonderes Beispiel für die Kontroverse um die Gleichsetzbarkeit von Gulag und Shoah ist die Debatte um einen paneuropäischen Gedenktag am 23. August, dem Datum des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes von 1939, im Europäischen Parlament. Für dieses plädiert Claus Leggewie in seinem Beitrag. Er fordert einen europäischen Gedenktag für die „Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ und eine Gedenkstätte. Ein „gemeinsames Vermächtnis“ von „Kommunismus, Nazismus und Faschismus“ solle ein „Gewissen Europas“ hervorbringen, das auf der geteilten Verurteilung von „Totalitarismus“ fußt (S. 62), argumentiert Leggewie mit Bezug auf die Entschließung des Europäischen Parlaments. Er und die (v. a. baltischen) Befürworter_innen eines solchen Gedenktages betonen dabei dessen politische Neutralität.
Leggewie geht es um die politische Rechtfertigungsfunktion von Erinnerung für Russland und andere postsowjetische Staaten. Die Universalisierung des Holocaust, wenn also immer mehr Gewaltakte mit dieser Negativikone assoziiert werden, sieht er als Problem. Umgekehrt dürfe jedoch nicht die Shoah durch dogmatische Partikularisierung dem historischen Vergleich entzogen werden. Zwar sei das Holocaust-Gedächtnis „der faktische Kern der westeuropäischen Erinnerung“. Aber erst in Verbindung mit dem Gulag-Gedächtnis sei die totalitäre Erfahrung des 20. Jahrhunderts zu begreifen (S. 67). Die tatsächliche Konkurrenz und Hierarchie zwischen den jeweils traumatischen Erfahrungen zu überwinden hält Leggewie für die zentrale Herausforderung für eine gemeinsame europäische Erinnerung.
Allerdings argumentiert er auf einer abstrakt-verallgemeinernden Ebene der historischen Erscheinungsform:Leggewie impliziert Totalitarismus als „Arbeitsteilung und Kontinuität totalitärer Unterdrückung“ zwischen NS und Sowjetherrschaft (S. 67). Aus dessen erinnerungskultureller Verankerung könne Europa geteilte politische Normen schöpfen. Unklar bleibt bei dieser Argumentation, woher die Unterdrückung historisch gekommen ist und wer sie getragen hat. Wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen der „systematische Ausrottung der 'Klassen- und Volksfeinde' im sowjetischen Machtbereich“ (S. 67) und dem Holocaust scheinen sich letztlich auf die Wortwahl zu beschränken. Dass es aber wesentliche Unterschiede geben könnte zwischen den Täter_innen innerhalb einer Volksgemeinschaft mit dem offen proklamierten Ziel, das Judentum global zu vernichten sowie Teile der Weltbevölkerung für immer zu versklaven einerseits, und Stalin andererseits, der zwecks Machterhalt einen Teil der Bevölkerung seines Herrschaftsgebietes wirtschaftlich brutal ausbeutete und politische Gegner_innen ausschaltete, steht dann gar nicht mehr zur Debatte; ebenso wenig wie die Frage, wie die Bolschewiki ursprünglich für die politischen Ideale Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen konnten, um am Ende das Gegenteil zu verwirklichen.
Plessow fasst für die historisch-politische Bildung zusammen: Zuerst ist die Frage zu beantworten, was gelernt werden soll. Das heißt, was können die Lernenden aus der Auseinandersetzung mit dem Schicksal jüdischer Opfer und was aus dem kommunistischer Verbrechen ziehen, und was möglicherweise aus beidem? Weiter ist für ihn zu klären, ob der Fokus überhaupt auf die Opfer gerichtet bleiben soll, anstatt vorbildhaften Widerstand, abschreckende Täter_innen oder die Beteiligung der breiten Masse, der „Zuschauer“ (S. 23) zum Gegenstand des historisch-politischen Lernens zu machen.
Nationale Opfergeschichten Dass dieser Opferfokus nicht nur mit Fragen der Bildung und des Gedenkens zu tun hat, sondern viel mit nationaler Identitätsstiftung, behandelt Liljana Radoni in ihrem Aufsatz über postsozialistische Gedenkmuseen und die „Europäisierung des Gedenkens“. Sie beobachtet in vielen Museen des ehemaligen sowjetischen Einflussbereichs ein Bedürfnis zur Gleichsetzung der nationalsozialistischen und kommunistischen Regime. Die eigene Nation wird meist als Opfer von Fremdherrschaft dargestellt.
Viele Museen beziehen sich dabei - implizit und explizit - auf die „Ästhetik der Holocaust-Erinnerung“ (S. 32). Die Shoah avanciert zu einer Negativikone gerade in Geschichtserzählungen, die deren Einzigartigkeit zurückweisen. Geht es um eine Geschichte des heldenhaften Widerstandes, stößt man sich von der Negativfolie der Holocaust-Erinnerung ab, wie z. B. im „Museum der Okkupationen“ in Tallinn.
Das aber wird weder den Opfern des Nationalsozialismus noch denjenigen der Gulags gerecht. Ausstellungen wie das „Museum der Genozidopfer“ in Vilnius unterschlagen den Holocaust buchstäblich oder leugnen die Kollaboration mit der deutschen Besatzung, um die eigene Nation als reines Opferkollektiv darzustellen, wie z. B. das „Haus des Terrors“ in Budapest. Begründet wird das damit, dass die bisherigen Geschichtsschreibungen vor allem im „Westen“ „Faschismus“ und Holocaust überrepräsentiert hätten. Diesem Ungleichgewicht im Erinnern seien die Jahrzehnte der kommunistischen Fremdherrschaft entgegenzuhalten. Dass das Gebäude des „Museums der Genozidopfer“ als Gestapo-Gefängnis gedient hatte, taucht im Museumskatalog in der knappen Formulierung auf: „after the three-year-long occupation by Nazi Germany“ (zit. n. Radonić S. 31). Um sich nicht der Tatsache zu stellen, dass die dreijährige deutsche Besatzungszeit in Litauen mehr Todesopfer gefordert hat als die 48 Jahre als Sowjetrepublik, werden die 200.000 jüdischen Opfer dabei schlicht aus dem nationalen Rahmen ausgegrenzt. Die Empathie gilt einem verklärten Kollektiv, die individuellen Schicksale – auch in den Gulags – erfahren so kein Gedenken.
Wenn postsozialistische Museen an die Shoah erinnern, diene dies Radonić zufolge oft allein als Signal an „Europa“: Die Homepage des „Holocaust-Gedenkzentrums“ in Budapest war in den ersten Jahren nur auf Englisch abrufbar, während die Ausstellungstexte im benachbarten „Haus des Terrors“ ausschließlich in Ungarisch gehalten seien. Dies führt, so Radonić, zu einer gespaltenen Erinnerung. Mit Bezug auf eine Europäisierung der Erinnerung besteht die Gefahr, die Probleme der nationalen Geschichtserzählungen zu wiederholen: Um eine gemeinsame Identität zu schaffen, wird ein Geschichtskanon festgeschrieben, der zwangsläufig Erinnerungen bestimmter ethnischer Gruppen und marginalisierter Schichten ausblendet. Diesen Ausgrenzungen sollte jedoch gerade entgegengewirkt werden. Radonić zufolge müsste Europäisierung der Geschichte bedeuten, Praktiken „(selbst-)kritischer Aufarbeitung der Vergangenheit“ zu vereinheitlichen, und nicht die Opfer und historisch-kulturelle Inhalte (S. 33).
Didaktische Implementierung
Geschichtsdidaktisch kann das bedeuten, Perspektivwechsel und Multiperspektivität bzw. gesellschaftliche Heterogenität zu fördern. Dirk Mävers und Stefan Schwieren haben im Rahmen einer Jugendbegegnung eine Rollenspielmethode zum Thema Zeitzeug_innenschaft erprobt. Darin erkannten die Jugendlichen, dass ein historisches Ereignis in verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen unterschiedliche Bedeutung haben kann, nicht zuletzt für die eigene Identität. Zusätzlich treten individuelle, familiäre Geschichten und Erfahrungen hinzu, die die Vielschichtigkeit der Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs und seine Auswirkungen deutlich machen. Die Jugendlichen reflektieren, wie weit sich historische Kenntnisse von Erlebnisberichten entfernen können, und wie schwierig es ist, sich in Zeitzeug_innen hinein zu versetzen. Im Kern der Methode steht das ambivalente Verhältnis von Zeitzeug_innenschaft und objektivierender bzw. intersubjektiver Geschichtserzählung. Dazu gehört zum Beispiel die unterschiedliche Wahrnehmung der Roten Armee als Befreierin oder Besatzerin (S. 41).
Dass die historische Bildungsarbeit zum Gulag stark ihre Bedeutung innerhalb der europäischen Gedächtnispolitik der Gegenwart reflektieren muss, sprich ihre Funktion für kollektive Identitätsstiftung und für die Rechtfertigung bestimmter politischer Positionierung thematisieren, arbeitet die Beitragsauswahl des Journals für politische Bildung mit dem Titel „Erinnerungskultur in Europa“ deutlich heraus. Für die geschichtsdidaktische Umsetzung lassen sich sinnvolle Anregungen finden.
Literatur
Journal für politische Bildung 3 / 2015: Erinnerungskultur in Europa (2015); Wochenschau Verlag Bad Schalbach, 104 S., 13,99 als PDF zum Download.
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- 21 Okt 2020 - 18:46