Die Gegenwart der Vergangenheit - Europas Kriegskinder
Von Sven Tetzlaff und Gabriele Woidelko
Lidija aus der Region Daugavpils in Lettland war fünf Jahre alt, als sie zusammen mit ihren Eltern und ihren drei Schwestern im Juni 1941 Opfer der Massendeportationen wurde, die die sowjetischen Besatzer seit ihrer Annexion des Baltikums durchführten. Wie insgesamt etwa 50.000 weitere baltische Staatsbürger wurden Lidija und ihre Familie nach Sibirien verschleppt. 1946 kehrte sie mit einer ihrer Schwestern zunächst allein nach Lettland zurück, weil der Vater seit der Deportation verschollen war und die Mutter noch keine Rückkehrerlaubnis erhalten hatte. Kurz nach der Heimkehr der Mutter nach Lettland wurden die beiden Schwestern mit ihr zusammen Anfang der 50er Jahre, im Rahmen einer weiteren Welle, erneut nach Sibirien deportiert.
Katja aus der Nähe von Leningrad war 16 Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion einmarschierte und damit auch dort der Zweite Weltkrieg begann. Im Frühjahr 1942 wurden sie und weitere Familienmitglieder als Zwangsarbeiter zunächst in das sogenannte Generalgouvernement nach Polen deportiert, später in das KZ Buchenwald weitertransportiert. Zur Begründung hieß es, das Dritte Reich benötige sie als Arbeitskräfte. Katja überlebte Krieg und Zwangsarbeit nur knapp und kehrte nach dem Krieg in die Sowjetunion zurück. Dort wurde sie wie eine Verräterin behandelt und der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt. Jahrzehntelang schämte sie sich für ihr Schicksal und versuchte ihre Geschichte geheim zu halten.
Auch Hilda aus Mortsel, einer Vorstadt von Antwerpen, war noch ein Teenager, als der Zweite Weltkrieg ihre Heimatstadt erreichte. Im Frühjahr 1943 bombardierten alliierte Streitkräfte Mortsel, um eine Industrieanlage zu zerstören, die von den NS-Besatzern für die Reparatur von Kampfflugzeugen genutzt wurde. Die Bomben trafen allerdings das dicht besiedelte Zentrum der Stadt und zerstörten Wohnhäuser, Schulen und Kindergärten. Hilda überlebte nur knapp, viele ihrer Klassenkameradinnen starben.
Drei europäische Lebenswege, die vom Zweiten Weltkrieg geprägt wurden. Drei Namen, drei Länder, drei Schicksale. Sie stehen exemplarisch für Biografien von Millionen von Kindern und Jugendlichen, die im Schatten des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen aufwuchsen. So wurden während des Krieges mehrere hunderttausend Kinder in den deutschen Besatzungsgebieten (z.B. Frankreich, Polen, Norwegen und Dänemark) geboren, deren Väter deutsche Soldaten waren und die als „Kinder der Schande“ galten. Sowohl in den Konzentrationslagern als auch anschließend in den Lagern für Displaced Personsbrachten Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Kinder zur Welt. In Deutschland hinterließen mehr als fünf Millionen gefallene Soldaten schätzungsweise 100.000 Vollwaisen. Allein aus der Sowjetunion wurden 3 Millionen zumeist junge Menschen als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Und in den Nachkriegsjahren der alliierten Besatzung wurden in Deutschland schätzungsweise 400.000 Besatzungskinder geboren. Die Kindheit der Generation der zwischen 1929 und 1949 Geborenen war in besonderer Weise von Kriegs- und Gewalterfahrungen geprägt. Diese tiefen Prägungen haben Folgen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihre Familien und die Gesellschaften, in denen sie leben.
Ein multiperspektivischer Ansatz zum Umgang mit Lebensgeschichten der Kriegskinder
Die Lebensgeschichten von Europas Kriegskindern zu erforschen, den privaten und öffentlichen Dialog über die höchst unterschiedlichen europäischen Kriegskinderbiografien anzuregen und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Fortwirken der Folgen des Zweiten Weltkriegs in den nachfolgenden Generationen zu unterstützen, sind die zentralen Anliegen der Körber-Stiftung im Gedenkjahr 2015. 70 Jahre nach Kriegsende leistet die Stiftung mit Projekten und Veranstaltungen für junge Erwachsene, Experten und Multiplikatoren aus über 20 Ländern Europas einen Beitrag zu einem multiperspektivischen Blick auf das Erbe des Krieges. Mit ihren Aktivitäten ermöglicht sie einen Beitrag zu einem Dialog zwischen verschiedenen Generationen über die Gegenwart der Vergangenheit in Europa und gibt – speziell mit Blick auf die heute 15 bis 25-jährigen – Impulse für eine zivilgesellschaftlich getragene europäische Friedenserziehung.
Die Beschäftigung mit Erfahrungsgeschichte hat in der Arbeit der Stiftung eine lange Tradition. In den historischen Forschungswettbewerben des EUSTORY-Netzwerks regt sie gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Partnerorganisationen in derzeit 25 Ländern Europas Schüler und Jugendliche dazu an, sich mit Regional- und Familiengeschichte, also den konkreten historischen Erfahrungen „vor Ort“ auseinanderzusetzen. Jährlich nehmen rund 12.000 Jugendliche an den EUSTORY-Wettbewerben teil, von denen der größte und älteste der Deutsche Geschichtswettbewerb des Bundespräsidentenist. Die Lebensgeschichten der drei Kriegskinder Lidija, Katja und Hilda, die zu Anfang dieses Textes skizziert sind, wurden von Jugendlichen aus Lettland, Russland und Belgien im Rahmen ihrer jeweiligen Geschichtswettbewerbe erforscht und dokumentiert. Die Schicksale der drei Frauen wären verborgen geblieben, wenn ihre Enkel sie nicht aufgeschrieben und öffentlich gemacht hätten. Mit ihren Beiträgen haben sich die drei Autoren ein eigenes Bild der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen erarbeitet und damit der jeweiligen offiziellen Geschichtsschreibung in ihren Heimatländern eigene Nachforschungen entgegen gestellt. In den 25 EUSTORY-Geschichtswettbewerben existiert eine große Zahl von Beiträgen, die sich mit den Erfahrungen und Prägungen von Kriegskindern in Europa auseinandersetzen. Das große Interesse der Jugendlichen illustriert nicht nur, dass der Zweite Weltkrieg bis heute europaweit eine zentrale Rolle in den Familiengedächtnissen spielt, sondern spricht auch dafür, dass über den Krieg und seine Folgen ein großes Bedürfnis nach intergenerationeller Verständigung besteht.
Familiengeschichte und Kontextualisierung
Doch für einen multiperspektivischen und kritischen Dialog über Europas Kriegskinder braucht es mehr als ‚nur’ die Aufarbeitung der eigenen Familien- oder Regionalgeschichte durch Jugendliche. Es braucht Raum für Begegnung und Austausch über die historischen Erfahrungen und über die unterschiedlichen Interpretationen der Arbeitsergebnisse. Dabei sollten die Lebenswege und die dazugehörigen Forschungsergebnisse so präsentiert werden, dass auch Berichte über andere Lebenswege und abweichende Interpretationen neben ihnen Raum einnehmen können. Opferkonkurrenzen oder Überlegenheitsdiskurse sollten erkannt und kritisch hinterfragt werden können. Den Ort dafür bietet die Körber-Stiftung mit Seminar- und Debattenangeboten des History Campus, die sich an junge Europäer zwischen 15 und 25 Jahren richten. 2015 fand dort u.a. ein Online-Projekt zu Europas Kriegskindern mit 18 jungen Erwachsenen aus zwölf Ländern Europas statt. Im Vordergrund standen neben der Erforschung von Einzelschicksalen insbesondere die Konfrontation mit abweichenden Erzählungen und Erfahrungen, die Auseinandersetzung mit Widersprüchlichkeiten und Brüchen. Dieses Stolpern über das „Knirschen“ in den Erzählungen ermöglichte es den Teilnehmern, das eigene nationale Narrativ im Spiegel des jeweils anderen zu verorten, ggf. neu zu bewerten und ihre eigene Interpretation der Vergangenheit daraus abzuleiten. So stellten zwei Teilnehmerinnen aus Slowenien bzw. aus Serbien als ein Ergebnis ihrer grenzübergreifenden Arbeit fest: „Wir hatten uns in unseren Heimatländern vorab beide mit der Geschichte Jugoslawiens beschäftigt. Im Seminar waren Kinder und Jugendliche im Widerstand unser Thema. Als wir unsere Ergebnisse gegenüberstellten, fiel uns auf, dass die Bewertung der Rolle und Bedeutung der Widerstandsbewegungen sowie das Urteil darüber, wer die Täter und wer die Opfer waren, in unseren beiden Ländern komplett unterschiedlich sind. Geschichte ist subjektiv und bietet Raum für die unterschiedlichsten Interpretationen.“
Ausblick
70 Jahre nach Kriegsende steht die Erinnerungskultur in Europa am Scheideweg: die Generation derjenigen, die den Krieg aktiv erlebt haben und als Zeitzeugen davon berichten können, ist fast ausgestorben. Nun gilt es, Europas Kriegskindern mit ihren Erfahrungen und Prägungen in der Auseinandersetzung um das Erbe des Krieges Raum zu geben. Dabei kann es nicht um ‚ererbte Zeitzeugenschaft’ gehen, sondern darum, den Erzählungen und Erlebnissen von Kriegskindern einen eigenen Platz in der diskursiven und demokratischen Entscheidungsfindung über die Bedeutung von Geschichte und Erinnerung für die europäischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts einzuräumen. Dieser demokratische Aushandlungs- und Diskussionsprozess muss die Fachkreise der Wissenschaft verlassen und möglichst viele Akteure einschließen, wenn er erfolgreich sein soll: Künstler, Schriftsteller, zivilgesellschaftliche Gruppen und Einrichtungen müssen daran ebenso beteiligt sein wie Wissenschaftler und Experten in Museen, Gedenkstättenmitarbeiter, Journalisten, und Publizisten. Einen Ansatz für solch einen ‚europäischen Erinnerungsraum’ , der die Brücken zwischen unterschiedlichsten Disziplinen sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt, haben die Körber-Stiftung und das Deutsche Historische Museum in Berlin im Mai 2015 mit einem gemeinsamen Erinnerungstag zum Thema „Europas Kriegskinder“ geliefert. Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler und Politiker diskutierten dort einen Tag lang über verschiedenste Facetten von Kriegskindheiten in Europa und über die Aktualität des Themas für die europäischen Gesellschaften von heute.
Die Aktualität des Themas lag bereits im Mai 2015 auf der Hand und hat seitdem in bedrückender Weise zugenommen. Im Krieg in der Ukraine werden seit Frühjahr 2014 Tausende von Kindern und Jugendlichen mit Gewalterfahrungen konfrontiert, für deren Verarbeitung sie viel Zeit und dringend Unterstützung benötigen. Und auch die überwiegende Zahl der rund 150.000 minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, die allein 2014 in der Europäischen Union Asyl beantragt haben, kommt aus Kriegs-, Bürgerkriegs- und Krisengebieten wie Syrien, Afghanistan und Eritrea und hat bei ihrer Ankunft traumatische Kriegs- und Gewalterfahrungen im Gepäck. Bei deren Verarbeitung brauchen die Geflüchteten ebenfalls Hilfe.
Das Wissen darüber, wie der Krieg eine ganze Generation von Europäern und ihre Nachkommen in unterschiedlicher Weise geprägt hat, könnte eine Chance für Europa und uns Europäer sein, denjenigen Kriegskindern mit Empathie zu begegnen, die jetzt zu uns kommen, um hier eine neue Heimat zu finden.
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- 24 Nov 2015 - 19:28