Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42
Beitrags-Autor Profil / Kontakt
Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Rolf Keller
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges nahm die deutsche Wehrmacht zwischen 5,3 und 5,7 Millionen sowjetische Soldaten gefangen. Eine Behandlung nach den Grundsätzen des internationalen Kriegs- und Völkerrechts, insbesondere des Genfer Kriegsgefangenenabkommens von 1929, wurde ihnen vorsätzlich verweigert. Zu Beginn des Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion wurden sie in erster Linie als „bolschewistische Mordbestien“ und „unnütze Esser“ betrachtet. Durch unzureichende Versorgung wurde der Hungertod eines Großteils der Gefangenen provoziert, hinzu kamen Mordaktionen von Wehrmacht und SS. Auch im späteren Verlauf des Krieges, als die Gefangenen als Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft unverzichtbar geworden waren und den Sachzwängen gehorchend besser behandelt wurden, blieb ein gehöriger Teil der anfänglichen Vernichtungspolitik tägliche Praxis. Mindestens 2,6 Millionen Rotarmisten kamen in deutscher Gefangenschaft ums Leben.
In meiner Studie „Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42“ habe ich mich mit dem Schicksal der rund 500.000 sowjetischen Kriegsgefangenen befasst, die bis Ende 1941 in das Reichsgebiet transportiert wurden, um den bereits vor dem Überfall auf die Sowjetunion bestehenden und sich im Verlauf der ersten Monate des Feldzuges weiter verschärfenden Arbeitskräftemangel in der deutschen Kriegswirtschaft zu beseitigen. Gegenüber den ins Reichsgebiet geholten sowjetischen Gefangenen bestand somit keine dezidierte Vernichtungsabsicht, schließlich wurden sie als Arbeitskräfte benötigt. Allerdings führte die von Interessenkonflikten, Widersprüchen und gegenläufigen Tendenzen geprägte Politik der Entscheidungsträger in der Staatsführung, bei der Wehrmacht und in der Verwaltung letztlich doch zu einem Massensterben der Gefangenen.
Verantwortlich für die Kriegsgefangenen war die Wehrmacht. Die für Unterbringung, Versorgung, Bewachung und Arbeitseinsatz der Gefangenen notwendige Infrastruktur wurde von der Kriegsgefangenen-Organisationsabteilung im OKW und den Generalkommandos der einzelnen Wehrkreise ab Frühjahr 1941 vorbereitet. Die anfänglichen Pläne sahen Lager für bis zu eine Million sowjetische Kriegsgefangene in den Wehrkreisen im Reichsgebiet vor (zumeist als „Russenlager“ bezeichnet). Hierfür wurden Stammlager (Stalags) neuen Typs vorgesehen, wesentlich größer als die bisherigen (Belegstärke bis zu 50.000 Mann gegenüber 10.000 bei den 1939/40 eingerichteten Stalags). Ihre bauliche Infrastruktur entsprach im Wesentlichen den bisher angelegten Standards (feste Unterkünfte, Entlausungseinrichtungen, Lazarette etc.). Aufgrund der zwischenzeitlichen Beschränkung der Gefangenenzahl auf 120.000 durch Führerweisung im August 1941, des allgemeinen Materialmangels sowie Versäumnissen seitens der Wehrmachtverwaltung wurden jedoch nicht alle geplanten Lager realisiert und zudem nur ansatzweise fertig gestellt. Auch nachdem Ende September 1941 die Transporte ins Reich wieder einsetzten und nun mit einer Gesamtzahl von 660.000 Gefangenen operiert wurde, erfolgte der weitere Lagerausbau nur schleppend. In der Folge musste ein großer Teil der Gefangenen in den zwölf „Russenlagern“ in Deutschland bis in den Winter hinein in Erdhöhlen und -hütten leben, es fehlten angemessene sanitäre Einrichtungen und Entlausungsanlagen.
Die „Russenlager“ sollten als ausschließliche Aufnahme- und Verteilerlager sowie als Verwaltungszentralen für den „Russeneinsatz“ fungieren, um eine strikte Trennung von den französischen, polnischen, belgischen, serbischen und britischen Kriegsgefangenen zu gewährleisten. In organisatorischer Hinsicht überlagerte das System der „Russenlager“ mit ihren Arbeitskommandos damit die in den Jahren 1939/40 aufgebauten Strukturen des Kriegsgefangenenwesens. Diese Doppelstruktur führte zu Abstimmungsproblemen und einem erheblichen Mehraufwand in den Bereichen Logistik, Organisation, Verwaltung bei gleichzeitig chronischem Personal- und Ressourcenmangel auf Seiten der Wehrmacht. Letztlich blieb der Aufbau des Parallelsystems der „Russenlager“ jedoch in Ansätzen stecken. Die meisten der „Russenlager“ wurden bereits im Laufe des Jahres 1942 wieder aufgelöst.
Für die Ernährung der sowjetischen Gefangenen gab es zunächst keine besonderen Richtlinien, so dass für sie anfänglich die gleichen Sätze wie für die anderen Kriegsgefangenen galten. Erst Anfang August 1941 wurden Rationssätze festgelegt, die völlig unzureichend waren. Verbesserungen der Verpflegungssituation erfolgten in den folgenden Monaten nur zögerlich, nicht zuletzt auf Beschwerden der Arbeitgeber hin. Da die Rationen der deutschen Zivilbevölkerung auf keinen Fall reduziert werden sollten, sah sich das Reichsernährungsministerium allerdings nicht in der Lage, ausreichende Lebensmittel für rund 700.000 sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland (Planung Oktober 1941) bereitzustellen - allenfalls für 300.000, also nicht einmal die Hälfte der vorgesehenen Arbeitskräfte. Die bewusste Unterversorgung der Gefangenen führte in Verbindung mit den sonstigen katastrophalen Existenzbedingungen und dem Arbeitseinsatz schnell zur Entkräftung und absinkenden Arbeitsleistungen.
Der Einsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen im Reichsgebiet veranlasste das Reichssicherheitshauptamt, die „untragbaren Elemente“ unter ihnen durch Einsatzkommandos der Gestapo in den Kriegsgefangenenlagern auszusondern und in den Konzentrationslagern der SS zu ermorden. Etwa 38.000 Gefangene wurden bis Mitte 1942 Opfer dieses Mordprogramms, vor allem Juden, Politoffiziere und vermeintliche bolschewistische Aktivisten. Die Wehrmacht ließ hier sich bereitwillig auf eine Zusammenarbeit mit dem RSHA und der Gestapo ein und war damit an dem Mordprogramm sowohl auf der Führungsebene als auch in den Lagern unmittelbar beteiligt. Die Richtlinien für die Aussonderung „untragbarer Elemente“ in den „Russenlagern“ wurden gemeinsam mit dem RSHA entwickelt; die Lagerkommandanturen unterstützten die Tätigkeit der Einsatzkommandos der Gestapo in den „Russenlagern“.
Der Arbeitseinsatz der sowjetischen Gefangenen im Deutschen Reich begann unmittelbar nach dem Eintreffen der ersten Transporte Ende Juli 1941. Im August wurde er bereits flächendeckend im gesamten Reichsgebiet praktiziert. Die Beschäftigungsquote der sowjetischen Gefangenen lag im Oktober 1941 trotz rigider Einschränkungen bei rund 50% gegenüber rund 90% bei den Gefangenen anderer Nationalitäten. Ein effektiver Arbeitseinsatz war in der Regel jedoch nicht möglich. Die Rahmenbedingungen (vor allem Verpflegung, Unterbringung, sanitäre Einrichtung, allgemeine Behandlung, Beschränkungen und Restriktionen für den Arbeitseinsatz) waren dem beabsichtigten Zweck (effektive Unterstützung der Kriegswirtschaft) nicht angemessen. Von Beginn klagten die Arbeitgeber über die scharfen Einsatzbedingungen (Kolonnenarbeit, isolierte Kommandos, Beschränkung der Einsatzbereiche) und den Gesundheitszustand der Gefangenen. Die Arbeitsleistungen lagen teilweise nur bei 10 bis 20% derjenigen anderer Kriegsgefangener oder deutscher Arbeiter.
Einerseits war also seit Frühjahr 1941 auf organisatorischer Ebene alles für einen Arbeitseinsatz vorbereitet worden, andererseits wurden jedoch die elementaren Voraussetzungen für einen effizienten Einsatz nicht geschaffen, insbesondere die angemessene Verpflegung und Versorgung der Gefangenen. Kursänderungen, mit denen die NS-Führung und das OKW auf die ungünstige Entwicklung im Russlandfeldzug reagierten (steigender Nachschubbedarf an Waffen und Munition, gleichzeitig Rekrutierung immer größerer Kontingente von Soldaten in den Betrieben, daraus resultierende steil ansteigende Nachfrage nach Arbeitskräften in der Kriegswirtschaft), erfolgten zu spät und wurden darüber hinaus nur zögerlich oder lediglich teilweise umgesetzt, was schließlich zu einem Massensterben der sowjetischen Gefangenen und dem Zusammenbruch des Arbeitseinsatzes mit spürbar negativen Folgen für die Kriegswirtschaft führte. Ideologisch motivierte Behandlungsrichtlinien und Verpflegungsgrundsätze dominierten einen pragmatischen, an ökonomischen Erwägungen orientierten Umgang mit der Ressource „Arbeitskraft“.
Bis Frühjahr 1942 sind im Reichsgebiet mindestens 265.000 sowjetische Kriegsgefangene ums Leben gekommen. Hauptorte des Massensterbens mit jeweils mehr als 10 000 Opfern waren die großen „Russenlager“, allen voran Wietzendorf, Bergen-Belsen, Oerbke, Lamsdorf, Neuhammer und Zeithain; die größte Mordstätte im Rahmen der Aussonderungen war das KZ Sachsenhausen. In den Arbeitskommandos lag die Todesrate zumeist niedriger; Grund hierfür war u.a. die Bereitstellung von Zusatzverpflegung durch die Arbeitgeber und die Abschiebung von Erschöpften und Kranken an die Stammlager. In Einzelfällen betrug die Verlustrate jedoch auch in den Arbeitskommandos mehr als 50%.
Das Massensterben war vor allem eine Folge der Mangelernährung in Verbindung mit den katastrophalen sanitären Bedingungen und Unterkünften sowie den harten Arbeitsbedingungen in den Arbeitskommandos. Als erste Seuche trat die Ruhr auf, die bis in den Winter hinein zu vielen Todesfällen führte. Recht bald aber war die Entkräftung der Gefangenen die Haupttodesursache. Der Ausbruch des Fleckfiebers ab November 1941 war ebenfalls eine Folge mangelnder Vorsorge durch die Wehrmacht, obwohl das Problem einer Epidemie vorausgesehen worden war. Das Fleckfieber war jedoch lediglich für weniger als 10% der Todesfälle ursächlich, verschärfte allerdings bei vielen Gefangenen den Krankheitsverlauf. Im Winter 1941/42 notierten die Lagerärzte als Todesursache vor allem „Allgemeine Schwäche“ oder „Körperschwäche“. Hauptursachen für das Massensterben waren somit mangelnde Versorgung durch die Wehrmacht sowie direkte und indirekte Gewalt seitens der Wachmannschaften. Nicht unerheblich war insbesondere in den ersten Monaten die Zahl der wegen angeblichen Fluchtversuches oder Widerstandes Erschossenen.
Literatur
Rolf Keller: Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011.
- |
- Seite drucken
- |
- 13 Nov 2013 - 08:45