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Freitagsbriefe – Erinnerungen sowjetischer Kriegsgefangener und ihrer Nachkommen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Eberhard Radczuweit ist ehrenamtlicher Geschäftsführer des Vereins KONTAKTE-KOHTAKTbI. Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Er wurde im Jahr 2005 für seine Arbeit mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille geehrt.

Von Eberhard Radczuweit

„Mein tägliches Essen waren 150 Gramm Brot und die Gräser der umliegenden Wiese.“ Das Brot hieß „Russenbrot“ und war gebacken aus Roggenschrot, Rübenabfall, Strohmehl oder Laub. Das Zitat aus einem Brief des ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen Tigran Stepanjan zeigt die Wirkung eines Befehls des Generalquartiermeisters des Heeres Eduard Wagner vom Herbst 1941: „Nicht arbeitende Kriegsgefangene in den Kriegsgefangenenlagern haben zu verhungern“.  Über drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam starben vorwiegend den Hungertod. In der Gedenkstätte Sachsenhausen wird an die Ermordung von mindestens zehntausend sowjetischen Kriegsgefangenen mittels „Genickschussanlage“ erinnert. Wer weiß von den „Probevergasungen“ sowjetischer Kriegsgefangener in Auschwitz? Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener war ein Menschheitsverbrechen, über das nach dem Krieg weder in West noch in Ost viel gesprochen wurde. Sie zählen neben den europäischen Juden zur größten NS-Opfergruppe, aber wer hatte im Geschichtsunterricht je davon gehört? 

Die NS-Rassenideologen rechneten sie zu „unwertem Leben“. Doch die Kriegswirtschaft rief nach Arbeitssklaven und so gab Hitler die ursprüngliche Weigerung auf, seine Erzfeinde als Gefangene zur Zwangsarbeit ins „Reich“ zu verbringen. Dies rettete einer Minderheit das Leben. Weil die halb Verhungerten nicht arbeitsfähig waren, kreierte man ein „Aufpäppelungsprogramm“, das hieß Zwangsarbeit in der Landwirtschaft. Wir kennen Bauernfamilien, die ihre „Iwans“ menschlich behandelten. Doch hauptsächlich waren sowjetische Kriegsgefangene im Vergleich zu zivilen Zwangsarbeitenden zu weit härterer Arbeit verurteilt. Ihre durchschnittliche Überlebenszeit im Ruhrbergbau betrug etwa fünf Monate. 

Was geschah nach der Befreiung? Der Überlebende Alexandr Iwanow erzählte es uns:

„Nach der Befreiung und Rückführung in die Heimat wurde ich wieder schweren Prüfungen unterzogen, während der staatlichen Überprüfung hinter Stacheldraht im Filtrationslager. Sie unterzogen uns einem peinlichen Verhör und die Ermittlungsoffiziere der Spionage­abwehr „SMERSCH“ hielten alle unsere Aussagen auf Papier fest. Diese Überprüfung hinter Stacheldraht dauerte bis zum 1.11.1946, dann ließen sie uns gehen, aber nicht ganz. Sie machten uns den „Vorschlag“, gleich hier in den Uranbergwerken zu arbeiten und erlaubten, unsere Familien nachzuholen oder zu heiraten.“

Die Diskriminierung der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen endete erst 50 Jahre nach Kriegsende mit ihrer vollständigen Rehabilitierung. Doch Vorurteile sind langlebig. Wer vom Bürgermeister seines Dorfes nicht eingeladen wird zur jährlichen Siegesfeier am 9. Mai, empfindet es als gesellschaftliche Ächtung. Doch dann verbreitete sich das Gerücht, dass Deutschland seine Schuld anerkenne und eine „Kompensation“ für geleistete Zwangsarbeit zahle. Die Nachricht drang bis in den letzten Taigawinkel und mobilisierte alte Männer selbst in kaukasischen Bergtälern. Man richtete Anträge an die Partnerorganisationen der Bundesstiftung EVZ, besorgte Archivbelege, schrieb Erinnerungen an seine deutschen Jahre auf, so schwer dies auch fiel. Bei hoffnungsvollen Aktivitäten mögen sich Alpträume gelichtet haben. Nach Monaten kamen die Antworten: „§11 Absatz 3 StiftGes: Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungsberechtigung“. In Amtssprache kam zum Ausdruck, dass sie nur ein allgemeines Kriegsschicksal erlitten hätten. Dies war jedenfalls die Meinung des Deutschen Bundestages. Der Stiftung EVZ waren vom Gesetzgeber die Hände gebunden. Der Ukrainer Iwan Djakow, Jahrgang 1919, reagierte darauf so:

„Ich möchte betonen, dass ohne Anerkennung der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener als Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Rede über eine endgültige Versöhnung zwischen den Deutschen und den Bürgern der ehemaligen Sowjetunion sein kann.“

In Absprache mit der Stiftung EVZ vereinbarten wir im Jahre 2004 mit deren Partnerorganisationen in Moskau, Kiew und Minsk die Prüfung aller bei ihnen eingegangenen Anträge ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener und ihrer Dokumente, um den ehemaligen sowjetischen Kriegs­gefangenen Geldspenden als symbolischen Anerkennungsbetrag durch die Partnerorganisationen auszahlen zu lassen. Hilde Schramm und ich riefen im Namen des Vereins KONTAKTE-KOHTAKTbI auf zum „Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer in Nachfolgestaaten der Sowjetunion“. Einen Appell, den Tagessatz des Einkommens zu spenden, befolgten damals viele. Und so erhielten aus heiterem Himmel alte Menschen in mehreren Nachfolgestaaten der UdSSR einen Brief aus Deutschland, in dem um Verzeihung gebeten wurde. Das war ein Schlüsselwort. Der Russe Nigmlat Saljukow,Jg. 1917, einst Zwangsarbeiter in Mannheim: „Ich habe mich über Ihren so freundlichen Brief sehr gefreut. Ihr Brief hat mein Herz und meine Seele getroffen.  Das ist der erste Brief seit 65 Jahren, in dem wir um Verzeihung für diesen Krieg gebeten wurden.“ In diesen „Begrüßungsbriefen“,  denen häufig eine Korrespondenz bis zum Lebensende der alten Menschen folgt, wurde die Überweisung von 300 Euro angekündigt und die Symbolik des kleinen Geldgeschenks erklärt. Außerdem wurden alle darum gebeten, uns dabei behilflich zu sein, einen blinden Fleck im deutschen Geschichtsbewusstsein zu tilgen. Über 7000 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene wurden bis Oktober 2013 mit drei Millionen Spendeneuro begünstigt, annähernd 4000 von ihnen schrieben uns. Es sind ausführlich geschilderte Erinnerungen darunter.  Einige baten um Entschuldigung für die Kürze ihres Briefs. Der anfangs zitierte Armenier Tigran Stepanjan beendete sein Schreiben: „Es scheint mir ein Wunder zu sein, dass ich in der dort bestehenden Situation am Leben geblieben bin. Ich will und kann darüber nicht schreiben, weil ich dann das Gefühl habe, wieder geschlagen, entwürdigt zu werden, wieder dem Tod in die Augen zu sehen, was dort täglich geschah.“

Immer häufiger schicken uns jetzt die Kinder und Enkel Erinnerungen ihrer Väter und Großväter, denen schon die Kraft zum Schreiben fehlt. Mit zunehmendem Alter wächst deren Bedürftigkeit. Längst überweisen wir nicht nur die 300 Euro, sondern bezahlen Rollstühle, Hörgeräte, Brennholz für den Winter, in Belarus manchmal auch Haushaltshilfen. Das ist mehreren tausend Förderinnen und Förderern des Bürger-Engagements für vergessene NS-Opfer zu verdanken. Wir nennen es nicht „humanitäre Hilfe“, sondern Solidarität. In ihren deutsch übersetzten Briefen kommt häufig der Wunsch zum Ausdruck, wir mögen die Erinnerungen unter der Jugend in Deutschland verbreiten, „damit es nie wieder geschieht“. Das transportieren wir vorwiegend durch die „FREITAGSBRIEFE“ – www.kontakte-kontakty.de –. Seit 2006 stellen wir jeden Freitag den Brief eines ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen ins Internet.

 

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