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Von Ingolf Seidel
Die „Euthanasie“ im Nationalsozialismus gehört sicherlich bis heute zu den Kapiteln der Verfolgung und Ermordung, die zu wenig Beachtung gefunden haben. Das ist insofern erstaunlich, da die Erfahrungen auf der Täterseite, die mit der Ermordung von Menschen, die nicht dem Menschenbild der Nationalsozialisten entsprachen, durch Verhungern, Giftinjektionen und Gaswagen gemacht wurden, grundlegend waren für die Ermordung der europäischen Juden vor allem in den Vernichtungslagern.
Daher ist die vollständige Neuüberarbeitung und Neuauflage des 1983 erschienenen Standardwerks von Ernst Klee im Jahr 2010 ein wichtiges und sinnvolles Unterfangen. Klee zeichnet die Entwicklung der Ausgrenzung, Zwangssterilisierung und Ermordung des Personenkreises, der als „lebensunwert“ galt nach. Dazu gehörten sogenannte Geisteskranke und Behinderte ebenso wie Alkoholkranke, Fürsorgezöglinge, aber auch Arbeitslose und angeblich „Asoziale“. Die Nationalsozialisten stützten sich in ihrem Wahn der „Rassenhygiene“ auf sozialdarwinistische Schriften, wie die des Mediziners Alfred Ploetz über „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“ aus dem Jahr 1895 oder auf die pseudowissenschaftlichen Arbeiten der Mitglieder der 1905 von Ploetz gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene, später umbenannt in Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene. Deutlich wird das utilitaristische Denken von Medizinern und Psychiatern in Zitaten wie dem des Psychiaters Hermann Simon: „Schon der Hilfsschüler kostet mehr als das Doppelte des Normalschülers. Der Mensch im Krankenhaus, in der Irrenanstalt, im Krüppelheim, im Zuchthaus, im Altersheim kostet mehr, oft viel mehr, als der überwiegenden Mehrheit unseres Volkes in gesunden Tagen zur Verfügung steht. [...] Es wir wieder mehr gestorben werden müssen.“ (S. 33).
Vom Gesetz zur Ermordung
Klee beschreibt den Weg von der Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, am 14. Juli 1933 verabschiedet, über die Etablierung der „rassenhygienischen Sonderjustiz“ (S. 39) sowie der Untermauerung des rassischen Teils der NS-Weltanschauung durch das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie und die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater bis hin zum offenen Mord an sogenannten Geisteskranken. Schon vor Beginn der eigentlichen „Euthanasie“-Morde wurden die Tagessätze zur Verpflegung der Kranken in den psychiatrischen Anstalten 1936 auf 46 Pfennig gesenkt, so dass nicht-arbeitsfähige Menschen vom Hungertod bedroht waren. Die Devise lautete „möglichst wenig behandeln, möglichst viele sterben lassen“ (S. 73). Der Autor kann nachweisen, dass die ersten Gaswagen bereits 1939 flächendeckend im überfallenen Polen zur Ermordung von Kranken eingesetzt wurden (S. 99ff), während nach der Besetzung der größten Krankenanstalt Kocborowo zwischen September und Oktober 1939 mehr als tausend Patienten, aber auch Ärzte wie der polnische Anstaltsleiter Dr. Józef Bednarz durch ein SS-Kommando getötet wurden (vgl. S. 94f).
Seit April 1940 wird die Verwaltung der NS-„Euthanasie“ organisatorisch und räumlich weitgehend den Räumen einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 zusammengefasst und nach dem Standort mit dem Kürzel »T4« benannt. Die Ermordung von Kranken durch Gas wird in den nun als Tötungsanstalten fungierenden Heil- und Pflegeanstalten vollzogen und dann 1941 auf mündliche Weisung Hitlers offiziell eingestellt. Bis dahin wurden ca. 70.000 Menschen ermordet. Ob das formale Ende der Morde eine Folge der Proteste aus Kirchenkreisen war bleibt unklar: „Hitlers Euthanasie-Ermächtigung liegt als Dokument vor, Hitlers Anweisung zum Euthanasiestopp nicht. Wir haben nur Schilderungen aus Tätermund. Sie haben ein Ziel: den Fortgang der Krankenmorde mit anderen Mitteln zu vertuschen.“ (S. 264f) Verschleiert geht das Morden weiter und viele derer, die bereits als Täter an den „Euthanasie“-Morden mitgewirkt hatten wurden in die Vernichtungslager der sogenannten Aktion Reinhard verlegt. Klee verweist auf den engen Zusammenhang zwischen „Euthanasie“ und Holocaust: „Zwischen dem Stopp der Vergasungen und dem Einsatz zur Judenvernichtung lagen nur sechs Wochen“ (S. 321). In Etappen werden „108 der T4-Euthanasierer – davon 38 aus Grafeneck - (...) nach Lublin in Marsch gesetzt und kommen in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka.
Nach dem offiziellen Tötungsstopp
Auch nach dem offiziellen Tötungsstopp wird T4 nicht aufgelöst, sondern arbeitet unter einer Tarnbezeichnung weiter. Ernst Klee zeigt denn auch die Verstrickung der Wehrmacht in die Krankenmorde auf und bezeichnet den „flächendeckenden Krankenmord in Russland“ als ein „Gemeinschaftswerk von Wehrmacht und Himmlers Sonderkommandos“ (S. 445).
Beinahe parallel zur Ermordung kranker Erwachsener werden auch Morde und Experimente an Kindern vorgenommen. Der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden organisiert die Ermordung von Kindern, die aufgrund von Kriterien eines vertraulichen Erlasses des Reichsministers des Inneren vom 18. August 1939 erfasst werden (vgl. S. 333f). Als Kriterium über Leben und Tod dient letztlich die „spätere produktive Nützlichkeit“ (S. 333). Die Ermordung erfolgte unter der Tarnbezeichnung „Behandlung“ häufig mit Schlafmitteln wie Luminal oder durch Gift, welches in das Essen gemischt wird.
Weder in der Bundesrepublik Deutschland, noch in der DDR wurde die Geschichte der NS-„Euthanasie“ gründlich aufgearbeitet oder die Tatbeteiligten auch nur annähernd vollständig zur Rechenschaft gezogen . Im Gegenteil. Drei Vergasungsärzte, Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke und Klaus Endruweit wurden am 23. Mai 1967 durch das Landgericht Frankfurt am Main auf der Grundlage eines Gutachtens des Toxikologen Leopold Breitenecker freigesprochen. Breitenecker war seit 1933 NSDAP-Mitglied und Mitglied des NS-Ärztebundes wie auch des NS-Dozentenbundes. Im Urteil des Gerichts heisst es u.a.: „Da die Tötung in den Gaskammern der Anstalten durch chemisch reines Kohlenmonoxyd erfolgt, sind den Opfern keinerlei körperliche Schmerzen oder Qualen zugefügt worden.“ (S. 516)
Die Lektüre von „“Euthanasie“ im Dritten Reich“ ist durch die Darlegung vielfältiger Quellen erschütternd, zeigt aber vor allem, wie verbreitet die Unterstützung an des mörderischen Handelns und wie gering das Unrechtsbewusstsein über die Ermordung eines Personenkreises , der nicht in ein sozialdarwinistisch geprägtes Weltbild passte bis in die Nachkriegszeit war. Ernst Klee nennt die 108 namentlich bekannten Täter mit ihren Namen und hat das Buch um ihre Kurzbiografien ergänzt. Die ermordeten Opfer werden, ebenso wie Zwangssterilisierte bis heute nicht per Gesetz als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Darauf hinzuweisen ist neben der akribischen wissenschaftlichen Arbeit ein wichtiges Anliegen des profunden Buches.
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- 16 Mai 2012 - 07:43