Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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„Vor dem Gedenken und Erinnern stehen Raum und Zeit eigene Erfahrungen zu berichten und die Anerkennung der eigenen Erfahrungen zu erfahren.“
Sollen sich Jugendliche für andere interessieren, brauchen Sie zunächst Bedingungen, die Raum und Zeit geben, eigene Erfahrungen und Lebensbedingungen sowie ihnen wichtige Themen zu artikulieren und zu bearbeiten. Wenn es uns im Rahmen von Seminaren gelingt, inhaltlich einen Bezug zur Lebenswelt der Jugendlichen im Rahmen einer wertschätzenden Atmosphäre herzustellen, ist es möglich jedes Thema mit ihnen zu bearbeiten.
Das Projekt mail@more, angelegt als interkulturelles und internationales Projekt mit Jugendlichen einer Wiesbadener Haupt- und Realschule und einem israelischen Partner, setzt sich aus vier Projektmodulen zusammen:
Für die Teilnehmenden steht im Projekt die Jugendbegegnung im Fokus. Sie wünschen sich, schnell mit den israelischen Jugendlichen in Kontakt zu kommen und zu reisen. Viele von ihnen geben als Grund der Teilnahme am Projekt das Reisen an. Im pädagogischen Fokus liegen die wöchentlichen Seminare, auf die ich hier Bezug nehme. Die vielfältigen Themen und Inhalte werden im Kontext der geplanten Reise frei gewählt und je nach Interessenlage vertieft. Entsprechend der Themenschwerpunkte werden lokale und aktuelle Bezüge hergestellt.
Die Schüler/innen des Projektes sind größtenteils Jugendliche, deren Familien nach Deutschland eingewandert sind. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund liegt bei über 85 %. Sie haben über die Nationalität oder die Familienhistorie meist keinen direkten Bezug zum Nationalsozialismus. Die Jugendlichen definieren sich eher über die Nationalität ihrer Eltern; sie sprechen von sich in der Regel nicht als Deutsche.
Für die Jugendarbeit ergeben sich vielfältige Fragen, mit denen es gilt sich auseinanderzusetzen. Welche Erfahrungen machen die Schülerinnen und Schüler mit dem Merkmal “Migrationshintergrund“? Wie erleben sie die Bedeutung, die ihrer „kulturellen“ Herkunft beigemessen wird und die oft in Zuschreibungen mündet? Welche Erfahrungen machen die Jugendlichen als Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft? Erleben sie sich als Minderheit? In der Wahrnehmung der Jugendlichen aus dem Kurs leben in Deutschland ca. 80% Migrantinnen und Migranten, das entspricht in etwa dem Verhältnis, wie es in ihrer Schule anzutreffen ist.
Welche Themen sind für die Schülerinnen und Schüler in ihrem Alltag und Erleben von Bedeutung? Worüber identifizieren sich die Jugendlichen? Wie können innerhalb der Seminare ihre Erfahrungen den Raum bekommen, thematisiert zu werden?
Erleben und Erfahrungswelten der Jugendlichen sind den Pädagoginnen und Pädagogen eher fremd. Im Paradigmenwechsel der Migrationspädagogik kommt die Wahrnehmung von Migrantinnen und Migranten als handelnde Subjekte aus einer Perspektive der Anerkennung zum Tragen. „Interkulturelle Pädagogik heißt, das Allgemeine besonders gut tun!“, so Franz Hamburger.
Wichtige Basis der Arbeit mit den Jugendlichen ist die Auseinandersetzung der Pädagog/innen mit der eigenen Haltung. Die eigene Haltung entscheidet über Art der Fragestellung, die Aktivierung von Ressourcen und mündet in der Bereitstellung von Räumen. Eine offene, respektvolle Haltung gegenüber den Jugendlichen ermöglicht diesen, die Themen, die ihnen wichtig sind, in der eigenen Art und Weise anzusprechen. Weiterhin ist es wichtig, als Pädagogin Themen anzubieten und damit besprechbar zu machen und Räume der Auseinandersetzung zu eröffnen. Das erfordert ein hohes Maß an Reflexions- und Sachkompetenz und das Bewusstmachen von gewollten und ungewollten Effekten der pädagogischen Arbeit.
Zu Projektbeginn reagieren die Jugendlichen sichtlich irritiert auf verschiedene vorgestellte Themen wie Demokratie, Werte, Diskriminierung und Zivilcourage, Empowerment : „Was hat das denn mit Israel zu tun?“
Und schon sind wir mitten im Thema. Darüber wie die Jugendlichen ihr Leben gestalten möchten, werden Werte bearbeitet, die benannt werden. Was bedeuten „Wertschätzung“, „Anerkennung“, „Ehre“? Wem zolle ich „Respekt“? Wie möchte ich behandelt werden? Was ist mir wichtig? Wie will ich leben?
Über den persönlichen Bezug, im Sprechen darüber, was die und der Einzelne für ihre eigenen Visionen und Ziele tun kann, schlagen wir den Bogen zu Mitbestimmung und zu Demokratie. Im Austausch über Ihr Hintergrundwissen besprechen wir die Quellen, aus denen die Schüler/innen Ihr Wissen beziehen, Aufgaben und die Wirkung der Medien.
Ganz eng mit dem Thema Demokratie verbunden sind die Themen Menschenrechte und einhalten oder missbrauchen von Menschenrechten. Viele der Schüler und Schülerinnen haben Diskriminierung, oft auch Rassismus, erfahren. Die Herausforderung im Projekt ist es, eine Kultur des Redens über ausgrenzende Erfahrungen möglich zu machen und den Erfahrungen der Jugendlichen immer wieder Raum zu geben, Erlebtes zu artikulieren.
Vor dem Gedenken und Erinnern steht für mich Anerkennung der Lebenswelten der Jugendlichen, Anerkennung im Sinne von Anerkennung der Lebensumstände und Erfahrungen. „Gedenken und Erinnern“ mit den Jugendlichen braucht als Basis einen persönlichen Bezug zum Erleben der Jugendlichen.
Je mehr die Jugendlichen die Möglichkeit haben, sich selbst an der inhaltlichen Gestaltung zu beteiligen, um so höher die Chance, dass sie ein Projekt zu „ihrem“ Projekt machen. Wie motiviere ich Jugendliche sich zu beteiligen? In welchem Rahmen liegen die Selbstgestaltungsmöglichkeiten der Jugendlichen?
Wie stelle ich einen inhaltlichen Bezug zum Erleben der Jugendlichen her? Was hat beispielsweise Demokratie mit den Jugendlichen zu tun? Da fast alle Familien der Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, nicht aus Deutschland kommen, nähern wir uns der Demokratie über das Demokratieverständnis der Herkunftsländer. Wie ist es um die Demokratie in den Ländern, aus denen die Familien kommen, bestellt? Was berichten Familienangehörige? Neben der Haltung der Pädagoginnen ist hier auch die Übergabe von Aufgaben in die Hände der Jugendlichen wichtig. Konkrete Aufgaben an die Jugendlichen und die Möglichkeit der Vorstellung der Ergebnisse im Seminarrahmen fördern Verantwortung und Selbstwert.
Über die eigene Haltung bereiten die Fachkräfte in den Seminaren Bedingungen, eigenes Erleben und eigene Erfahrungen aber auch Zweifel und Widersprüche offen zu thematisieren.
Die Auseinandersetzung und Sensibilisierung der Jugendlichen mit der Thematik „Diskriminierung, Rassismus und Holocaust “ geht dem Erinnern voraus und führt zu einer erweiterten Wahrnehmung der Jugendlichen über das Projekt hinaus. Es ist ein erfreulicher Aspekt, dass Jugendliche von selbst Erinnerungsorte in Wiesbaden wahrzunehmen beginnen, wie beispielsweise das Mahnmal am Michelsberg, und ihre Beobachtungen dazu in das Seminar einbringen.
Andere Wiesbadener Projekte besuchen wir bewusst, um die Seminare zu ergänzen und einen lokalen und aktuellen Bezug herzustellen. Durch das in Wiesbaden bestehende Netzwerk des Trägerkreises „Wir in Wiesbaden“, der sich aktiv für Demokratie und Teilhabe in Wiesbaden einsetzt und der aus dem „Aktiven Museum Spiegelgasse“, der Jugendinitiative „Spiegelbild“, dem Stadtjugendring und dem Amt für Soziale Arbeit besteht, gibt es vielfältige ergänzende Angebote, die in die Seminare einfließen.
Durch die Seminararbeit wurde deutlich, dass das Thema Diskriminierung ein schulweites Thema ist, weshalb im Herbst dazu ein gemeinsames Projekt in Kooperation von Jugendarbeit, Schule, und Schulsozialarbeit startet. So wirken die Erfahrungen mit Erinnern und Gedenken im deutsch-israelischen Austausch bis weit in die schulische und außerschulische Praxis hinein.
Erinnern und Gedenken sind aktuell und immer auch ein Thema der Gegenwart!