Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die deutsche Einheit bedeutet, München 2020.
„Ostbewusstsein. Damit meine ich mehrere Dinge, bezogen auf Nachwendekinder. Erstens, die Bewusstwerdung – heißt: dass man sich darüber klar wird, aus dem Osten zu kommen, und auch darüber, dass das noch mit einem zu tun hat. Zweitens, das ostdeutsche Selbstbewusstsein – heißt: dass man damit überhaupt kein Problem hat. Drittens, eine Aufforderung, es ganz bewusst zu sein – heißt: dass man damit offen umgeht, sodass auch alle anderen merken, dass es überhaupt kein Problem ist“ (143).
Valerie Schönian schreibt aus einer autobiografischen Position und inneren Haltung der Identifikation als Ostdeutsche, die sich – so legt sie in ihrem Buch ausführlich offen – allerdings erst entwickelt habe. Ein ostdeutsches Bewusstsein habe bei ihr nicht seit jeher bestanden, es sei nichts, das ihre Eltern ihr aufgezwängt hätten, oder das ihr in Ostdeutschland als vorherrschendes Identifikationsmuster vorgelebt worden sei. Im Gegenteil: Zur Ostdeutschen sei sie erst in Westdeutschland und in der Interaktion mit Westdeutschen geworden: „Ich habe mich nicht ostdeutsch gefühlt. Dann passierten ein paar Dinge, die das änderten“ (15).
Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die deutsche Einheit bedeutet. © Piper Verlag
Hierzu zählt die Diskussion mit einem Westdeutschen über die Wahlergebnisse am Abend des 13. März 2016, als die AfD mit 24,4% der Stimmen als zweitstärkste Kraft in den Landtag von Sachsen-Anhalt einzog. Dieser Moment, dieses Gespräch, dieser Gegenüber, habe sie zum „Ossi“ gemacht – in doppelter Hinsicht. In einem ersten Schritt als Fremdzuschreibung – so sprach ihr Gegenüber davon, dass der Versuch, als Erklärung für die Wahlergebnisse „jetzt einen ganzen Bogen bis zur DDR zurückzuschlagen […] ‚Ossi-Gejammer‘“ sei (23). Und in einem zweiten Schritt als selbstbewusste Inanspruchnahme ihrer ostdeutschen Identität, die Schönian als „Ostbewusstsein“ bezeichnet. Solche Wechselwirkungen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung sind in Schönians Buch ein zentrales Thema.
Doch vor allem eines legt die Autorin mit der anschaulichen Darstellung der Genese des eigenen Ostbewusstseins – beschrieben mit den Worten „Meine Ossi-Werdung ist ein Prozess gewesen und ist es noch immer“ (23) – offen: die Tatsache, dass diese Reaktion eine Selbstbehauptung ist, der eine zumindest gefühlte „Anders-Machung“ (Othering) zu Grunde liegt. Die Frage, ob es sich um eine tatsächliche, statistisch nachvollziehbare Nicht-Anerkennung, um Zurücksetzung oder Ausgrenzung handelt, ist hierbei nachrangig.
Dass sich die Reaktionen auf solche Erfahrungen verändert haben und sich auch zwischen Generationen unterscheiden, ist vermutlich ein Grund, wieso Schönian ihr Buch geschrieben hat – denn es stellt einen Akt der Selbstbehauptung dar. Die verschiedenen Reaktions- oder Umgangsformen sind zugleich Beobachtungsgegenstand der Autorin. So bestreitet Schönians Vater, dass die eigene ostdeutsche Identität noch eine Rolle spiele mit den Worten: „Heute ist das nur etwas Geografisches. Bei Ost und West kenne ich keine Unterschiede“ (32). Werde er jedoch mit gängigen Stereotypen konfrontiert, verändere sich diese „Rückzugsposition“ und münde in einer Gegenüberstellung zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Er gerate dann in den „Die-Modus: Die da drüben, die Wessis, die anderen“ (35).
Das Gespräch mit ihren Eltern und ihrem Bruder stellt den persönlichen Ausgangspunkt des Buches dar, das fragt, was der Osten heute noch ist, wie er sich zeigt, und was er bedeutet. Die Autorin begibt sich auf der Suche nach Antworten auf eine Reise. Sie geht von ihrer eigenen Biografie aus, und trifft auf Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, die in direktem oder indirektem Bezug zum Thema stehen. So diskutiert sie mit Philipp Amthor darüber, was Identität für den Politiker bedeute: Für ihn „etwas Zwiebelartiges […] Jeder hat mehrere“ (101). Und mit der Autorin des Buches „Zonenkinder“ Jana Hensel darüber, was mit „den Ostdeutschen“ im heutigen Diskursfeld gemacht werde: „Wieder werden alle als homogene Gruppe betrachtet, die negativ belegt wird“ (62). Schönian wendet sich in diesen Gesprächen mit immer ähnlichen Fragen an ihre Gegenüber: Was heißt ostdeutsch? Gibt es das heute noch? Was wurde im Transformationsprozess versäumt? Was muss getan werden?
In seiner Repetitivität könnte dieses Vorgehen wenig fruchtbar sein, und tatsächlich fehlt dem Text eine gewisse Klarheit – vielleicht aber war Stringenz auch gar nicht die Absicht der Autorin. Anstatt eines systematischen Aufschlüsselns und Einordnens der zusammengetragenen und immer wieder reflektierten Positionen, erstellt die Autorin eine Collage ihrer Eindrücke. Sie entwirft ein Assoziationsfeld zu bestimmten Themen- und Diskursfeldern, das vor allem von ihren Gesprächen und Begegnungen lebt, die örtlich stark gebunden sind. Schönian besucht Städte im Osten, z.B. Görlitz und Jena, kleine Ortschaften wie etwa die Gemeinde Löwenberg in Brandenburg, und vermittelt ihre subjektiven Eindrücke dieser Orte, ihrer Bewohner*innen und Begegnungen. Dabei verbleibt sie nie in der Rolle der Beobachterin, sondern nimmt stets den Austausch in den Blick, die Frage danach, wie die Menschen vor Ort die Veränderungen seit der Wende wahrgenommen haben, wie sie heute auf die DDR zurückblicken – und was dieser (Rück)Blick mit heute zu tun hat.
Kritisieren könnte man an diesem Vorgehen, dass insbesondere die Aufbereitung der empirischen Datenlage auf der Strecke bleibt, was die eher inputartige Rezeption statistischer Ergebnisse zeigt, die nicht eingebettet werden. Zudem geht mit der starken Subjektivität der Sprecherinnenposition und dem teilweise fast schon tagebuchartigen Stil des Buches eine gewählte Einseitigkeit einher: Der Blick der Autorin wendet sich ausschließlich in eine Richtung. Diese Einseitigkeit sowie die starke Betonung der Unterschiedlichkeit von west- und ostdeutscher Herkunft, der die Autorin von Beginn ihres Textes an folgt, bergen die Gefahr, ebendiese Unterschiede zu reproduzieren. Das ist der Autorin bewusst, und sie thematisiert diese, in ihren unterschiedlichen Facetten, wiederholt: „Das Problem ist: Mit jedem Wir machst du ein Ihr auf“ (60).
Doch gerade in seiner Subjektivität und eindeutigen Perspektivität liegt auch die größte Stärke des Buches, da so die mit dem Thema verwobenen Spannungen besonders zu Tage treten. Es ist eine Innenperspektive, die nicht den Anspruch hat, ein objektives und distanziertes Gesamtbild mit eindeutigen Konklusionen zu zeichnen. Vielmehr ist das Ziel, sichtbar zu machen, was vorhanden ist. So antwortet Schönians Gesprächspartnerin Jana Hensel auf die geäußerten Zweifel am eigenen Vorgehen in Richtung „Westen“: „Ich mache die Spaltung, die ihr tagtäglich produziert, nur sichtbar. Und warum mache ich sie sichtbar? Weil ich sie überwinden will. Ich habe gelernt, ich kann sie nicht überwinden, wenn ich sie ignoriere“ (60).
Fazit: Valerie Schönians Buch steht für eine jüngere ostdeutsche Generation, welche sich in einem aktiven (und diskursiven) Prozess der Identitätsaneignung mit ihrer Herkunft auseinandersetzt und diese selbstbewusst deutet.