Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Im Oktober 1941 geriet die Zahnärztin Antonina Konjakina als Teil einer Sanitätskolonne der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft. Sie überlebte die kommenden Jahre trotz der systematischen und rassistisch motivierten Unterversorgung durch die Wehrmacht. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs musste sie jedoch feststellen, dass es in der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft keinen Raum für Lebensgeschichten wie die ihre gab und geben sollte. Stalin wollte die Sieger*innen und Held*innen feiern und die Bevölkerung so über die Millionen Toten hinwegtrösten. Wer in Kriegsgefangenschaft geraten war, galt schlimmstenfalls als Verräter*in, bestenfalls als feige. Für die offizielle Erinnerungskultur waren diese Männer und Frauen in jedem Fall ungeeignet. Weder die etwa 3,3 Millionen Menschen, die in deutscher Gefangenschaft aufgrund gezielter Morde und Verelendung den Tod fanden, noch die Überlebenden dieser Torturen wurden gewürdigt, jahrzehntelang.
Die Erfahrungen von Antonina Konjakina-Trofimowa, die mit schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen aus Deutschland zurückkehrt war, wurden aus weiteren Gründen beschwiegen: Obwohl Stalin schon unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 Frauen für den Dienst in der Roten Armee angeworben und später auch zwangsweise mobilisiert hatte (und damit die einzige Kriegspartei mit Frauen in der kämpfenden Truppe schuf), wurden diese im offiziellen Erinnern von Anfang an marginalisiert. Die Heldenverehrung mit Paraden, großen Denkmälern und Zeremonien war eindeutig männlich konnotiert. Nur einzelne Frauen schafften es, durch spektakuläre Einsätze, Angriffe oder Rettungsaktionen im Kampf als „Held der Sowjetunion“ (sic!) ausgezeichnet zu werden. Die Mehrheit der Rotarmistinnen wurde nach dem Krieg aus der Armee entlassen und ihr Einsatz fortan nicht mehr erwähnt. Darüber hinaus hatte die Medizinerin Dinge getan und erlebt, die für uns heute zwar eindeutig mutig und dem eigenen Land gegenüber solidarisch erscheinen, damals aber bei den sowjetischen Behörden vor allem Misstrauen erzeugten: Sie war Teil einer Widerstandsgruppe im Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager (Stalag) XI C (311) Bergen-Belsen gewesen. Überlebenden, die sich „im Ausland aufgehalten hatten“, wurde von offiziellen Stellen bei ihrer Rückkehr regelmäßig unterstellt, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Musste das nicht besonders für solche gelten, die behaupteten, ein ganzes Netzwerk von Widerständler*innen aufgebaut zu haben? Doch Antonina Konjakina-Trofimowa wollte sich mit dieser Art der Kriegserzählung und -erinnerung nicht abfinden. Als Frührentnerin engagierte sie sich ab 1961 bis zu ihrem Tod als Zeitzeugin im Sowjetischen Komitee für Kriegsveteranen (SKKV). Sie kämpfte dafür, auch die Geschichte der Frauen in der Roten Armee, der Kriegsgefangenen und der Widerständler*innen zu einem Teil der post-stalinistischen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg werden zu lassen. Ihr Erfolg, so muss man heute konstatieren, war nicht sehr nachhaltig. Heute dominiert in Russland wieder die Heldenerzählung in der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“. Kriegsgefangene Frauen tauchen allenfalls in Zusammenhang mit Aktivitäten der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück auf, wo sie innerhalb der Häftlingsgesellschaft einen besonderen Platz einnahmen.
In Deutschland sind die Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen zu keiner Zeit von der breiten Öffentlichkeit wirklich wahrgenommen worden, obwohl sich eine kleine und sehr engagierte Gedenkstättenszene zum Thema entwickelt hat. Der Ort Bergen-Belsen beispielsweise ist bleibend wegen des später eingerichteten Konzentrationslagers, nicht wegen des von 1940 bis Januar 1945 existierenden Kriegsgefangenlagers bekannt. Ein binationales Projekt unter Leitung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und MEMORIAL International Moskau will einen Beitrag dazu leisten, dieses Thema sichtbarer zu machen. In Kooperation mit einer ganzen Reihe weiterer Gedenkstätten und Initiativen, darunter auch der Gedenkstätte Bergen-Belsen, wurde eine auf ein jugendliches Publikum zugeschnittene deutsch-russische Online-Ausstellung entwickelt. Unter www.unrecht-erinnern.info finden sich Biografien, Themen- und Ortstexte, die in leicht verständlicher Sprache nicht nur über die Geschichte der sowjetischen Kriegsgefangenen während des Krieges aufklären. Ganz zentral geht es auch um den Umgang mit dieser Geschichte nach 1945 in beiden deutschen Staaten und der Sowjetunion bzw. dem wiedervereinten Deutschland und Russland, der Ukraine und Belarus. Schüler*innen sollen dazu angeregt werden, über Erinnerungskultur nachzudenken: Wer trägt bei und wieso, welche Funktionen soll sie erfüllen? Auch die Geschichte von Antonina Konjakina-Trofimowa wird hier erzählt.
Antonina Konjakina wurde am 14. März 1914 in der Nähe von Zarizyn geboren. Zu ihren Lebzeiten wurde diese Stadt zweimal umbenannt: 1925 in Stalingrad, 1961 in Wolgograd. Seit einigen Jahren gibt es Initiativen, die fordern, wieder zu dem Namen zurückzukehren, der so untrennbar mit der ersten, verlust-, aber letztlich siegreichen Schlacht gegen die Deutschen verbunden ist: Stalingrad. Auch hier geht es um Erinnerungskultur und letztlich um Heldengedenken. Antonina Konjakina erlebte also alle wichtigen Phasen der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hautnah mit: Bei ihrer Geburt regierte noch Zar Nikolaus II. Im gleichen Jahr brach der Erste Weltkrieg aus. Im Zuge der Oktoberrevolution 1917 wurde die Familie enteignet. Antonina arbeitete als Sechzehnjährige auf dem Bau, um Geld zu verdienen. 1934, mit zwanzig, konnte sie ein Studium an der neuen Zahnarztschule in Stalingrad beginnen. Während des Studiums heiratete Antonina Konjakina, behielt aber – höchst ungewöhnlich für diese Zeit – ihren Mädchennamen bei. 1937 machte sie ihren Abschluss und arbeitete danach als Betriebszahnärztin im Stahlwerk „Roter Oktober“. Als der Krieg ausbrach, wurde sie als medizinisches Personal eingezogen. Schon im Oktober 1941 geriet sie bei Wjasma in deutsche Kriegsgefangenschaft. Zusammen mit anderen Frauen sperrte die Wehrmacht sie zunächst in ein Minsker Gefängnis. Von dort wurde sie nach Deutschland gebracht. Im Stalag XI D (321) Oerbke erkrankte die junge Ärztin an Fleckfieber und wurde im Dezember 1941 ins Lazarett des nahe gelegenen Stalag XI C (311) Bergen Belsen verlegt. Dorthin kamen alle kranken Kriegsgefangenen des Wehrkreises XI. Die Sterberate war zu diesem Zeitpunkt sehr hoch. Allein im Winter 1941/1942 starben in Bergen-Belsen mehr als 14.000 Kriegsgefangene, die anonym in Massengräbern bestattet wurden. Antonina Konjakina überstand ihre Erkrankung. Vermutlich aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung beschloss die Lagerverwaltung, dass sie bleiben und das Sanitätspersonal ab Februar 1942 im Verbandsraum unterstützen sollte.
Was das Wachpersonal nicht bemerkt hatte: Hier hatte sich eine Widerstandsorganisation aus sowjetischen Kriegsgefangenen formiert, die sich „Hannoveraner Komitee“ nannte. Der Name ergab sich aus der räumlichen Nähe zu Hannover, das etwa 60 km von Bergen-Belsen entfernt liegt. Antonina Konjakina schloss sich der Gruppe an und übernahm eine wichtige Aufgabe: Wenn sie Verbände bei Menschen anlegte, die aus dem Lazarett entlassen werden sollten, wickelte sie Nachrichten oder Flugblätter in die Mullbinden mit ein. So konnte das Komitee Informationen an andere Kriegsgefangenenlager und Arbeitskommandos weiterleiten. Die Widerständler*innen hatten sich ein „Grundsatzprogramm“ geschrieben: Sie wollten sich gegenseitig helfen, ihre Würde zu bewahren, außerdem den sowjetischen Sozialismus propagieren, Fluchten und Nahrungsmittel organisieren, Sabotageaktionen durchführen und Kamerad*innen von der Kollaboration mit den Deutschen abhalten. Sie sammelten auch Informationen über den Kriegsverlauf. Im Frühjahr 1943, wenige Wochen nach dem Sieg bei Stalingrad, wurde ein Flugblatt verfasst und im ganzen Wehrkreis XI weiterverbreitet: Die Hoffnung auf eine Wende im Krieg sollte die Gefangenen moralisch stärken. Diese Flugblätter mussten anfangs per Hand abgeschrieben werden, später konnte die Gruppe heimlich eine provisorische Druckerei aufbauen. Zu den Widerständler*innen in Bergen-Belsen gehörte der Arzt Georgij Trofimow, den Antonina nach dem Krieg heiratete – ihr erster Ehemann war bei der Schlacht um Stalingrad gefallen. Im September 1943 wurde Antonina Konjakina offiziell aus der Kriegsgefangenschaft entlassen – das geschah vor allem bei weiblichen Gefangenen häufig. Die Frauen wurden allerdings nicht frei gelassen, sondern mussten anschließend als zivile „Ostarbeiterinnen“ Zwangsarbeit leisten. Das zuständige Arbeitsamt Celle schickte die Zahnärztin als Putzfrau zum Betriebsarzt der Rüstungsfabrik Rheinmetall-Borsig nach Unterlüß. Dort wurde sie im April 1945 von britischen Truppen befreit.
Die Briten überführten Antonina Konjakina in die sowjetische Besatzungszone, von dort ging es zurück in die Sowjetunion. Wie alle Kriegsgefangenen musste sie sich in einem Filtrationslager zu ihrem Verhalten in Deutschland befragen lassen. Für ihre Widerstandstätigkeit erfuhr sie keine Wertschätzung. Sie zog mit ihrem zweiten Mann, mit dem sie 1946 eine Tochter bekam, zunächst in die Nähe von Moskau. Dort betrieben sie gemeinsam eine Landarztpraxis. 1957 kehrte sie mit der Familie nach Stalingrad zurück. Doch die Jahre in Gefangenschaft hatten Spuren hinterlassen: Antonina Konjakina-Trofimowa bekam Tuberkulose und Herzprobleme, ging 1961 in Frührente. Im gleichen Jahr wurde Stalingrad in Wolgograd umbenannt. Nach Stalins Tod änderte sich der Umgang mit den ehemaligen Kriegsgefangenen schrittweise. Antonina Konjakina-Trofimova engagierte sich im Kriegsveteranen-Komitee und endlich konnte sie auch die Geschichte des Widerstands gegen die Deutschen öffentlich erzählen. Sie und ihr Mann traten häufig vor Schulklassen und Studierenden auf, um über den Krieg, die Gefangenschaft und den Widerstand in Bergen Belsen zu sprechen. Ihre Geschichte ist heute auch Teil der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Und sie nimmt dabei eine Sonderstellung ein: von den anderen Frauen, die im Lazarett gearbeitet haben, ist nichts bekannt. Antonina Konjakina-Trofimowa starb 2004.
Diese Frage nach den Erinnerungszeichen im Heimatort wird in der Online-Ausstellung an jede Biografie angehängt. In Wolgograd steht eine eindrucksvolle, 85 Meter hohe „Mutter Heimat“-Statue. Sie ist Teil eines Triptychons: Im Treptower Park in Berlin steht eine 30 Meter große Soldatenfigur mit einem Kind auf dem Arm, in Magnitogorsk ein 50 Meter hoher Schmied, der ein Schwert überreicht. Fotografien dieser Denkmäler und historischen Orte haben wir von Jugendlichen bekommen, denn sie als Adressaten sollten schon bei der Entstehung der Ausstellung eingebunden werden. Leider haben Corona-bedingt bisher nur wenige „flankierende“ Projekte in Gedenkstätten stattfinden können – sie werden aber hoffentlich bald nachgeholt. Denn die Ausstellung soll weiterwachsen: Unter der Rubrik „Macht mit!“ regen wir dazu an, auch in Zukunft Fotografien und Bildunterschriften von historischen Orten einzuschicken. Informationen zur Recherche im eigenen geografischen Umfeld sind auf der Seite ebenfalls einsehbar.
Abschließend noch ein Hinweis für den Einsatz im Unterricht: Auf der Webseite, die auch für den Gebrauch mit dem Smartphone programmiert wurde, finden Sie einen kurzen, gezeichneten Erklärfilm als Einstieg in das Thema sowie drei Vorschläge, wie man mit dem Material arbeiten kann (zu den Themen „Überleben“, „Umgang mit Friedhöfen“ und „Täterschaft").
Finanziert wurde das Projekt www.unrecht-erinnern.info von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Dafür noch einmal herzlichen Dank.
Mascha + Nina + Katjuscha: Frauen in der Roten Armee 1941 – 1945. Hrsg. vom Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst. Berlin 2002.
Ramona Saavedra Santis: Unzugehörig kommunikative Erinnerungsmuster von Überlebenden des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück aus der Sowjetunion. In: Das soziale Gedächtnis und die Gemeinschaften der Überlebenden. Hrsg. von Janine Doerry/Thomas Kubetzky/Katja Seybold. Göttingen 2014, S. 124-135.
Bergen-Belsen: Kriegsgefangenenlager 1940-1945. Konzentrationslager 1943-1945. Displaced Persons Camp 1945-1950. Katalog der Dauerausstellung. Hrsg. von Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Göttingen 2009.