Noch im Spätherbst 2013 waren Befürchtungen weit verbreitet vor allem der im Jahr 2014 anstehende 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges würde nach dem derzeitigen Stand der Planungen nicht würdig erinnert werden. Mittlerweile lässt sich jedoch konstatieren, dass der Erinnerungsort 1914 nicht nur im Vordergrund des öffentlichen Gedenkens steht, sondern zusammen mit dem ebenfalls in diesem Jahr begangenen und beispielsweise von Bundeskanzleramt forcierten 25. Jahrestag des Mauerfalls den 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges durch Deutschland überlagert. Die Erinnerung an den deutschen Überfall auf Polen 1939 scheint zu einem Schattendasein degradiert worden zu sein. Wie lässt sich diese gedenkpolitische Hierarchisierung erklären?
Zunächst einmal gilt 1914 als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ in die Europa hinein geschlittert ist. 1914 spiegelt in seiner aktuellen Deutung, wie sie beispielhaft in Christopher Clarks
„Die Schlafwandler“ zum Ausdruck kommt, und im Gegensatz zum deutschen Angriff auf Polen von 1939 eben keine alleinige Schuld und lädt so leichter zur Versöhnung ein. Hinzutreten dürfte der symbolträchtige Charakter des runden 100. Jahrestages des Ersten Weltkrieges. 1989 wiederum polarisiert gerade auch die Deutschen nicht, sondern eint sie vielmehr. 1989 ist dazu nicht nur national, sondern auch europäisch als Erfolgsgeschichte und wohl wichtigster Code im Narrativ von Freiheit und Einheit gekennzeichnet. Verstärkt werden mag dies durch die zeitliche Nähe der Erfahrung von 1989.
Für das in den 1980er Jahren vermehrt geäußerte Bedürfnis nach abschließender nationaler Harmonisierung und Normalisierung Deutschlands konnte die Erinnerung an die NS-Täter und -Taten und speziell auch die politischen Implikationen eines Erinnerungsortes 1939, dem „Auftakt des Vernichtungskrieges“ (siehe Jochen Böhlers Beitrag in dieser Ausgabe), nur unbequem sein. Die der Erinnerung an den deutschen Angriff auf Polen notwendig inhärente Frage nach Tat, Schuld und Handlungsräumen ließ sich im Gegensatz zur Auflösung des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg nur schwer in 'nationalen Mehrwert' umwandeln. Sich der Täter und der Tat zu erinnern, konnte in einer Gesellschaft, in der es so viele Täter gab, ohnehin nur schwierig sein. Die Thematisierung der Täter implizierte mehr noch als die der Opfer auf deutscher Seite immer auch die Frage nach Schuld und Verantwortung.
Im Zuge der politischen Veränderungen von 1989/90 ergab sich die Möglichkeit zur „historischen Umcodierung“ (Jürgen Habermas) im Sinne einer Refixierung abseits des bis dahin zentralen Erinnerungsortes 1945. Dieser war Ausdruck eines negativen Identitäts- und Nationsdiskurses, der die Deutschen lehrte, wer sie waren, wer sie nicht mehr seien und wer sie nicht wieder sein sollten. Ziel und Ergebnis der Umcodierung war eine affirmativere Wahrnehmung der Bundesrepublik, die Anerkennung ihrer Erfolgsgeschichte. Dieses sich beispielhaft im geplanten Berliner Freiheits- und Einheitsdenkmal spiegelnde Narrativ – das auch europäisch unter den Vorzeichen einer identitären Erinnerungspolitik forciert wird –, die Umdeutung des Zweiten Weltkrieges zur gemeinsamen Geschichte um Befreiung und der nachfolgende europäische Einigungsprozess ließen die ersehnte Möglichkeit zur Normalisierung und nach positiver Identität greifbar werden.
Gerade auf parlamentarisch-politischer Ebene wurde die 'Aufarbeitung' der nationalsozialistischen Vergangenheit durch die deutsche Wiedervereinigung und die damit verbundenen außenpolitischen Erwartungen katalysiert. Der eingeforderte kontinuierliche selbstkritische Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe gilt international schon länger als erfüllt. In diversen auch vom Bund zum Teil erheblich geförderten Institutionen erinnert man sich der NS-Opfer und -Täter sowie deren Strukturen.
Und doch spricht nicht nur das Auswärtige Amt auf bundespolitischer Ebene – trotz des Bewusstseins, dass sich die Umstände und Gründe, Schuld und Absicht 1914 viel facettenreicher gestalten – ohne Unterschied wie bei einer Naturkatastrophe vom „Ausbruch“ des Ersten wie des Zweiten Weltkrieges ohne Deutschland als Aggressor zumindest zu benennen.
Und doch befasst sich die Bundeszentrale für Politische Bildung nicht mit 1939.
Und doch finden – im Gegensatz zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges oder dem 25. Jahrestag des Mauerfalls – bundesweit kaum Veranstaltungen zum Jahrestag 1939 statt, schon gar nicht mit überregionaler Bedeutung.
Die Spezifika des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges drohen sich als Teil einer Entwicklung hin zum Gedenken an das nebulöse „Jahrhundert der Gewalt'“ (Eric Hobsbawm) weiter aufzulösen. So fragt auch der Begleittext einer am 1. September stattfindenden Veranstaltung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ): „Wird der Zweite Weltkrieg dabei zu einer Episode in der großen Erzählung über die Freiheit?“ Die Veranstaltung mit dem Titel „Der Zweite Weltkrieg in der europäischen Erinnerung“ wird mit einem hochkarätig besetzten Podium in Berlin eben jener Frage nach einer möglichen Überlagerung und Umcodierung des Zweiten Weltkrieges nachgehen.
Einen weiteren Lichtblick stellt die Eröffnung einer Ausstellung mit dem Titel „Vernichtungskrieg in Polen 1939“ in Berlin dar. Die Freiluft-Ausstellung der Ständigen Konferenz der Leiter der NS-Gedenkorte im Berliner Raum mit ihren Neun Tafeln zur Vorgeschichte und Auswirkungen des Kriegsbeginns wird ab dem 28. August 2014 auf dem Pariser Platz unmittelbar vor dem Brandenburger Tor zu sehen sein. Zusätzlich wird eine Begleitbroschüre erscheinen.
Es bleibt zu hoffen, dass 2015, wenn sich der Jahrestag des Erinnerungsorts 1945 zum 75. Mal jährt, würdiger gedacht wird. Doch bliebe auch dann ein bitterer Beigeschmack der historischen Umcodierung, sollte in Deutschland, wie zu befürchten steht, nicht fokussiert die bedingungslose Kapitulation, sondern schwerpunktartig das Ende des Zweiten Weltkrieges als vielfältig anschlussfähiger Fixpunkt des universellen Leidens erinnert werden.