Online-Modul: Spanischer Bürgerkrieg

6.3.2 Lisa Gavričs Erinnerungen an das KZ Ravensbrück

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Beitrags-Autor: Constanze

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Ihre Erinnerungen schrieb Lisa Gavrič Mitte der 1960er Jahre für ihre in der Sowjetunion gebliebene Tochter, die sie erst nach 10 Jahren Trennung wiedergesehen hatte, nieder. Sie wurden erstmals, allerdings gekürzt, 1984 im Verlag Neues Leben, Berlin/DDR, mit einem Nachwort von Ulla Plener unter dem Titel Lisa Gavrič: Die Straße der Wirklichkeit. Bericht eines Lebens veröffentlicht.

„Das Fragezeichen Mensch. Erinnerungen an Ravensbrück"

Mein liebes Kind!

Ich werde dir nunmehr von dem Furchtbarsten in meinem Leben berichten. Es ist so unwirklich schrecklich, dass ich bis heute nicht weiß, wie ich das überleben konnte. Nach „dem“ ..., von „dem“ habe ich noch nie zu jemandem gesprochen. Niemand wollte davon etwas hören. Als der Krieg zu Ende war und ich nach Wien zurückkam, wollte ich mich davon befreien, zu jedem davon sprechen, aber niemand wollte es hören. Die es auch erlebt hatten, wollten es vergessen, um leben zu können. Die anderen wollten ihre Nerven schonen. Gewiss, damals war auch keine Zeit, darüber zu sprechen. Es gab so viel zu tun. Der Schutt musste weggeräumt, Lebensmittel beschafft werden, alles, was der Krieg zerstört hatte, musste wieder aufgebaut werden. Die Menschen lebten wie verlorene Tiere, waren hungrig, schleppten sich erschöpft dahin, hatten kein Holz und keine Kohle, suchten die Teile ihrer Familie zusammen, zählten die Toten – und wollten leben. Wieder leben, neu leben.
[...]
Aber ich muss davon sprechen. Schon seit zwanzig Jahren will ich darüber sprechen. [...] Es gibt eine Grenze, bis zu der sich der Mensch seinen Tod vorstellen kann. Was darüber hinausgeht, dringt nicht ins Bewusstsein. Dann hören Widerstand und Angst auf. Dass ein Mensch von anderen Menschen wie Ungeziefer durch Gas vertilgt werden konnte, ohne gekannt zu werden, einfach als anonyme Nummer – wer sollte das begreifen? Dieses Unfassbare zu verstehen, überstieg jedes menschliche Fassungsvermögen.
So geschah das Unerklärliche, dass die Frauen sich nicht wehrten, sondern selbst in die Gasautos ruhig und gefügig einstiegen. Es geschah noch Schrecklicheres. Die Töchter stiegen in das Auto. Die Mütter standen regungslos dabei, so als ob es sie gar nichts anginge – dieselben Mütter, die im normalen Leben die Nacht am Bett der Tochter wachten, wenn sie Fieber hatte, oder sie ständig ermahnten, warme Wäsche anzuziehen, um sich nicht zu erkälten. Oder die alte Mutter stieg in das Auto, und die Tochter stand davor, ließ die Mutter ruhig einsteigen und fortfahren, gab ihr nicht einmal die Hand, fiel ihr nicht um den Hals, hatte keine einzige Träne für sie. Wer kann das verstehen? Wer wird das jemals verstehen?
Und ich selbst? Auch ich stand dabei, als der Gaswagen die Frauen von Mathildes Block holte. [...] Und da wird der Boden unter den Füßen weich, immer weicher, es gibt keinen Halt, der Mensch versinkt im Zweifel an den Menschen. Auch an dem Menschen in sich. Die an sich selbst gerichtete Frage wächst ins Riesige: War es nicht ein Zufall, dass deine Hände rein geblieben sind, dass du sie dir selbst und jedem zeigen kannst und von dir sagen kannst, du hast im Lager nie die Menschenwürde verloren, nicht einmal jemanden angeschrien, sondern, wo du konntest, geholfen? Dass immer in dir das Mitgefühl wachgeblieben ist, war das nicht alles ein Zufall?
[...]
Bist du eine bessere Mutter als all die vielen Mütter, die den abscheulichen Tod ihres Kindes im Lager erlebten und keinen einzigen von der SS zu erwürgen versuchten, sich selbst nicht am Bettgestell erhängten, sondern nicht einmal weinten... und weiter lebten. Vielleicht auch heute, zwanzig Jahre nach dem Geschehen, weiterleben...
Nein, nein, nein! Diese Mütter waren Mütter. Sie haben auf das Kind im Leib gehorcht, es erwartet, geliebt, bevor es noch am Leben war. Und dann wurde es mehr als das eigene Leben, war jedes Lallen, jeder Schritt, die kleinste Bewegung der Finger, der Geruch des Körpers, ein nie erlebtes Glück. Alles war Glück. Es gab ihnen so viel Kraft. Wie es nur eine Mutter kann, begannen sie, für dieses Kind zu kämpfen, verteidigten es gegen alles, hörten nie auf, es zu verteidigen, und dann geschah das... Dieser Wahnsinn, dass Menschen nicht mehr Leben und Tod unterscheiden konnten, die jeder Kreatur angeborene Angst vor der Todesgefahr verloren hatten. Wir sind vergiftet. Wir alle, die das erlebt haben. Das trennt uns von den anderen. Keiner von ihnen kann uns verstehen. Auch wir selbst können uns nicht verstehen. [...]
Ich bin vergiftet von dem Fragezeichen, das hinter allem steht, hinter jeder anständigen Handlung, jedem aufrechten Wort. Dem Fragezeichen, das der Zufall, ein anderer Lebensweg oder die Jugend dem einen oder dem anderen die Prüfung von damals erspart hat, dass es also nicht sicher ist, wie er sie bestanden hätte. Ein schrecklicher Zweifel lebt in mir: Beim Menschen ist alles möglich. Ich habe viel darüber nachgedacht und zu verstehen gesucht, wie es dem Faschismus gelungen war, so junge Mädchen mit frischen Gesichtern, wie es die Masse der Aufseherinnen war, in solch unmenschliche Bestien zu verwandeln. Soviel ich nach Erklärungen suche, ich tappe weiter im Unklaren. Dass ich sie in Bruchstücken finden konnte, beruhigt mein Leben...
[...]
Lisa überprüfte ihr Gewissen, ihre Haltung, ihre Gefühle im Lager. Hatte sie sich jemals vergessen, hatte sie Gleichgültigkeit, Roheit gespürt, irgendeiner Frau ein böses Wort gesagt, nicht geholfen?
Jede Einzelheit rief sie nochmals wach. Nein. Sie war immer ein Mensch, eine Kommunistin geblieben. Doch stellte sie die Krankheit ihrer Seele fest. Zweifache Gefahren drohten den Häftlingen. Entweder verrohten sie, oder sie wurden Lebensneurastheniker, die krankhaft auf alle Schwächen und Schmutz der Menschen reagierten, bei jeder Kleinigkeit verletzt zusammenzuckten. Dies war bei Lisa der Fall. Sie war überempfindlich geworden und krankhaft in ihrem Wunsch, Schönes, Edles zu finden. Um sich vor Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit zu retten, schuf sie sich eine eigene, fast romantische Vorstellung von Menschen, idealisierte sie, zauberte sich ein sozialistisches Märchen vor, verstärkte ihre Schwäche, den Wunsch für Wirklichkeit zu nehmen. Davon musste sie sich heilen, sonst könnte sie kein realer politischer Kämpfer werden, der die vorgefundenen Menschen auch unter den schlechtesten Bedingungen verändern konnte. Nun war sie frei, und ein neues Leben begann.
[…]
Und leise, von Tag zu Tag stärker werdend, suchten die Gedanken die nahen Menschen. Wo waren sie alle? Wann würde Lisa ihr Kind, das sie so liebte, wiedersehen? Frühmorgens begann sie und spät abends endete sie mit dem Stricken einer schönen Wolljacke. Sie kaufte Kleider und dachte: Das wird alles mein Kind tragen. Neun Jahre hatte sie es nicht gesehen. Sieben Jahre war es alt, als es in die Sowjetunion fuhr, und nun müsste es ein Mädchen von 16 Jahren sein. Würde sie das eigene Kind wiedererkennen? Wie ein Wurm nagte die Sorge, ob es wohl deutsch sprechen könne, denn sonst könnte sie nicht mit ihm sprechen, ihm nicht von all dem Erlebten, von ihrer Liebe erzählen. „Werde ich es umarmen und küssen, oder werde ich fremd und stumm dastehen und warten, bis wir uns finden?“ Und was war mit den anderen Menschen, lebten sie noch und wo? Was war mit ihrer Liebe, dem amerikanischen Genossen und Arzt im republikanischen Spanien, geschehen, wie würde Lisa ihn wiederfinden? Wo war er, lebte er noch? Was war mit ihrer Schwester, dem Menschen, der ihr immer geholfen hatte, dessen gütige dunkle Augen sie in allen schweren Augenblicken auf sich fühlte? Was war mit ihrem Bruder, von dem sie wusste, dass er Mitglied der nationalsozialistischen Partei gewesen war? [...] Sie dachte an alle, die sie gekannt hatte. Sie würde sie suchen und ihnen ihre Liebe, die nach so langer Zeit umso stürmischer hervorbrach, geben.
Jetzt würde Lisa glücklich sein, jetzt würde das Leben beginnen.

Literatur

Auszug, abgedruckt in der Zeitschrift „Utopie Kreativ“, Heft 175 (Mai 2005), S. 388-398, online einsehbar (04.05.2016)

 

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