Diktaturenvergleiche im Geschichtslernen – Fragestellungen und Problematiken
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Von Carola S. Rudnick
In Schulen und an außerschulischen Lernorten benötigt es bei der Vermittlung von deutscher Zeitgeschichte Quellenbezug und -vielfalt (Multiperspektivität), eine Renaissance strukturgeschichtlicher Ansätze (Kontextualisierung), eine Öffnung der Zeitgeschichte zu politischen, staats- und menschenrechtlichen Gegenwartsfragen , eine ungebrochen unabdingbare Einhaltung der historischen Genauigkeit (Differenzierung) sowie eine Rückbindung von Geschichte an den konkreten Gegenstand (Konkretisierung). Dies betrifft insbesondere den Umgang mit zwei deutschen Diktaturen, der sogenannten „doppelten Diktaturgeschichte“ in Schulen, an außerschulischen Lernorten, in der wissenschaftlichen community sowie durch politische Akteure.
Der 9. November nimmt in der deutschen Zeitgeschichte einen besonderen Stellenwert ein. Er ist der Tag der deutschen Oktoberrevolution 1918 und markiert das Ende der deutschen Monarchie. Hitler und die junge NSDAP wählten dieses Datum für den Marsch auf die Feldherrenhalle in München 1923, den Hitlerputsch. Der 9. November stand für die Nationalsozialisten bis dahin für die verhasste Weimarer Republik. Mit Machtübernahme der NSDAP wurde der 9. November Jahr für Jahr als Gedenktag zur Erinnerung an den Hitlerputsch begangen. Auch der 9. November 1938 war ein solcher „Gedenktag“, der in der Nacht mit den Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung die aggressive antisemitische Verfolgung der deutschen Juden einläutete. Dass nun gerade dieses mehrfach überzeichnete Datum auch Tag des Inkrafttretens der Reisefreiheit der Ostdeutschen und der Öffnung der DDR-Grenzen im Jahre 1989 wurde, war eher zufällig. Seine symbolische Kraft entfaltete das Datum schließlich mit Vollzug des Beitritts der DDR zur BRD. Fortan stand der 9. November in der deutschen Zeitgeschichte auch für den Umsturz, die „friedliche Revolution“ und das Ende der DDR. Diese zeitlich aufeinanderfolgenden und doch grundverschiedenen Zeitenschichten, diese deutschen „Zeitgeschichten“ gilt es adäquat zu erfassen, zu vermitteln und die Erinnerung für zukünftige Generationen wach zu halten. Dieser Herausforderung stellen sich Wissenschaftler und Pädagogen seit mehr als zwanzig Jahren. Ein Diktaturenvergleich scheint für den geforderten differenzierten, kontextualisierenden, multiperspektivischen, gegenwartsorientierten und konkretisierten Umgang mit verschiedenen Zeitenschichten jedoch als am wenigsten geeignet. Er verursacht massive Probleme und Schieflagen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:
Erstens, der Vergleich beider deutscher Diktaturen („doppelte Diktaturgeschichte“) legt nahe, dass es Ähnlichkeiten zwischen ihnen gebe. Schon allein das Wort „doppelte“ suggeriert, es handele sich um zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dies führt zu dem Fehlschluss, bei der DDR habe es sich um eine mit dem NS vergleichbare Diktatur gehandelt. Wiederkehrend tendieren insbesondere konservative Historiker und Politiker zu diesem analogisierenden „geschichtspolitischen Kunstgriff“, um die Verbrechen des NS mit den Verbrechen Stalins aufzurechnen, die „kommunistische Diktatur“ gar als die Schlimmere zu delegitimieren (Rudnick 2011). Die Konstruktion von vermeintlichen Ähnlichkeiten, das Vergleichen von „Äpfeln“ mit „Birnen“ sorgt jedoch nicht für ein tieferes Verständnis von verschiedenen Diktaturen. Vielmehr reproduzieren solche komparatistischen Ansätze einen interessengeleiteten, geschichtspolitischen Diskurs, statt dessen Motive kritisch zu hinterfragen. Parallelanalysen von NS- und SED-Diktatur sowie etwaige Folgen wie etwa Analogien zwischen Gestapo und MfS gilt es in besonderem Maße zu vermeiden; es wäre sogar zu wünschen, dass sich daraus ergebende geschichtspolitische Fragen im Unterricht offen angesprochen und diskutiert werden.
Zweitens, der Diktaturenvergleich neigt dazu, den Diktaturbegriff aufzuweichen, ihn unscharf zu machen. Die singuläre Dimension der NS-Diktatur (rassenantisemitische, industrielle Massenvernichtung und Völkermord neben einem Streben nach der Weltherrschaft durch Krieg) verschwimmt mit den Ausmaßen der SED-Diktatur (Repressionen gegen die eigene Bevölkerung, politische Unterdrückung von Freiheiten, Parteiherrschaft und Überwachungsstaat), wenn von „brauner“ und „roter“ Diktatur in einem Atemzug gesprochen wird. Diesen Nivellierungstendenzen gegenüber stellte Jürgen Habermas früh den „antitotalitären Konsens“ als ein Bekenntnis zu Menschenrechten und einem friedlichen, demokratischen Miteinander. Daneben führte Bernd Faulenbach die unvermindert aktuelle Formel ein, dass die NS-Zeit mit ihren einzigartigen Verbrechen durch die stalinistischen Verbrechen nicht relativiert, und die stalinistischen Verbrechen mit Verweis auf die NS-Verbrechen nicht bagatellisiert werden dürfen (vgl. Faulenbach 2004, Habermas 1995). Diese „Regel des Diskurses“ mit Jugendlichen zu erarbeiten, trüge viel eher zu einem nachhaltigen Verständnis deutscher Vergangenheiten bei, als die Analyse scheinbarer Gesetzmäßigkeiten und angeblich ähnlicher Koordinaten zweier deutscher Diktaturen.
Drittens, tendieren Vergleiche von Diktaturen zu Vernachlässigungen der jeweiligen historischen Spezifik. Ein platter Vergleich von nationalsozialistischer Diktatur (1933-1945) und „kommunistischer Diktatur“ (1945-1989) verstellt einen differenzierten Blick nach innen. Genau diese Binnendifferenzierung benötigt es jedoch, um Diktaturen in ihren Spezifika, in ihrem jeweiligen Entstehungszusammenhang und in ihrer Struktur zu verstehen. So war die „kommunistische Diktatur“ gerade keine monolithische Diktatur. Es ist zwischen SBZ und DDR, zwischen stalinistischer Ära und spätem Staatssozialismus als Konsensdiktatur zu unterscheiden. Aber auch der NS-Staat war weniger Führerstaat und vielmehr Polykratie, angewiesen auf Komplizenschaft (Broszat 1995). Diese Spezifika werden bei einem Diktaturenvergleich zwischen NS- und SED-Diktatur zugunsten des Systemvergleichs ausgeblendet. Ohne diese Binnendifferenzierung jedoch sind aber beispielsweise die Ereignisse des Herbstes 1989 und der Prozess der Deutschen Einheit, aber auch das Funktionieren der Vernichtung der europäischen Juden historisch nicht erklärbar (Rudnick 2007). Statt eines vertikalen Vergleichs (1933-1945/1945-1989) scheinen deshalb geschichtsdidaktisch für historisches Lernen viel eher horizontale Vergleiche geeigneter.
Viertens, stellt uns die vergleichende Beschäftigung mit der NS- und mit der SED-Diktatur vor zwei methodische Herausforderungen:
a) Während sich die NS-Aufarbeitung im Übergang befindet vom „kommunikativen“ zum „kulturellen Gedächtnis“ (Jan und Aleida Assmann), steht die DDR-Aufarbeitung noch relativ am Anfang des Historisierungsprozesses. Während er in Bezug auf den NS fortschreitet, sind in Bezug auf ostdeutsche Vergangenheiten vor dem 3. Oktober 1990 noch in besonderer Weise persönliche Erfahrungen prägend. Es ist ein Diskurs, in der die Deutungen der Opfer und der Bürgerrechtsbewegung dominieren und Multiperspektivität im Verdacht steht, Geschichte zu verharmlosen. Dazu gehört, dass weiterhin geschichtspolitische Auseinandersetzungen den Aufarbeitungs- und Vermittlungsprozess flankieren (Rudnick 2011). Diese zeitgenössische „Färbung“ wäre wünschenswerterweise im pädagogischen Prozess mit zu vermitteln. Doch wie sinnvoll kann das im Rahmen eines vergleichenden Geschichtsunterrichtes geschehen? Wären hier nicht eher Fragen nach den verschiedenen Geschichtsbildern von einer deutschen Diktatur zu behandeln?
b) In der Geschichtsvermittlung haben sich in den vergangenen Jahren biographische Zugänge etabliert. Das sich Befassen mit einzelnen, individuellen Lebensgeschichten unterstützt historisches Lernen und erleichtert Empathie, welche zum wichtigen Teilziel des Lernens über Diktaturen erhoben wurde. Empathie-Lernen impliziere eine selbstkritische Auseinandersetzung und sei das pädagogische Gegenkonzept zur „Betroffenheitspädagogik“, zum „Immunisieren gegen Gewalt“, zum dogmatischen „Erinnerungsimperativ“ (Knigge 2010; Knoch 2009). Wenn es bei Diktaturvermittlung also darum gehen soll, mit Hilfe von lebensgeschichtlichen Auseinandersetzungen „Empathie“ zu wecken, könnte sich dieser methodische Griff im Rahmen eines Diktaturenvergleichs sogar kontraproduktiv auswirken. Zumindest besteht eine gewisse Gefahr, dass Homogenisierungen von Opfern gefördert werden und das Entschlüsseln jeweiliger struktureller und historischer Zusammenhänge noch weniger gelingt. Die Lebensgeschichten der verschiedenen Opfergruppen des NS (europäische Juden, politische Häftlinge, Sinti und Roma, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und sogenannte „Kriminelle“, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene usw.) lassen sich überdies schwer „vergleichen“ mit Deutschen, die unter Stalin, Ulbricht und Honecker Opfer des NKWD, des MfS und der SED-Diktatur wurden. Schon der Vergleich innerhalb „einer“ Diktatur ist hyperkomplex. In Bezug auf die heterogenen Opfergruppen horizontal und vertikal bleibt daher festzuhalten: Es bleiben vollkommen unterschiedliche historische Verfolgungs- und Entrechtungserfahrungen zu unterschiedlichen, nicht vergleichbaren Zeiten. Exemplarische Zeugenschaft darf sich nicht zu einem einheitlichen Opferbrei vermengen.
Warum sollten Pädagog/innen deutsche Diktaturen also überhaupt vergleichend thematisieren? (Dies scheint vor allem eine deutsche Frage zu sein, andernorts stellt sie sich bislang nicht.) Der Diktaturenvergleich wirft offenbar mehr Probleme auf als er tatsächlich nützt. Wenn ein Ziel sein soll, Kenntnisse über das Entstehen, die spezifische Gestalt (politisch-ideologisch, institutionell-organisatorisch) und das Funktionieren von Diktaturen zu vermitteln, dann wäre vielmehr die an Gedenkstätten überwiegend praktizierte, sich über die Jahre bewährte Separierung der verschiedenen deutschen Diktaturen (etwa durch örtlich getrennte Ausstellungen am gleichen historischen Ort), die Betonung ihrer unterschiedlichen Charakter in verschiedenen, nicht aufeinanderfolgenden Unterrichtssequenzen, statt dessen eine stärkere Fokussierung auf quellenkritisches Erarbeiten konkreter historischer Aspekte zu bevorzugen und zu stärken.
Erst das Erarbeiten und Verstehen des Konkreten, der Unterschiede, der Differenz, der multiplen Perspektiven auf einen historischen Komplex führt zu einem tieferen Verständnis historischer Komplexität. Ausgehend vom spezifischen Charakter der Diktatur, vom greifbaren historischen Gegenstand rückten dann übergeordnete Fragen nach dem Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens ins Zentrum. Der so vermittelbare „antitotalitäre Konsens“ bestünde dann nicht in einer geschichtspolitischen Nivellierung von Unrechtssystemen, sondern Demokratielernen und Menschenrechtserziehung würden ihren Ausgangspunkt haben bei einer quellengestützten, kritischen Auseinandersetzung über die Spezifik systemischer Gewalt in diachronischer, horizontaler Perspektive. Nur diese Konkretion ermöglicht Anschlussfähigkeit zur Gegenwart und fördert das Formulieren von Fragen zu individuellen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Die verschiedenen Unrechtssysteme würden so nicht geschichtspolitisch subsummiert oder gar instrumentalisiert zu „zwei Seiten einer Medaille“, sondern es würde auf diese Weise ein Gegenwartstransfer erzeugt. Die Gegenwart in Beziehung zur Vergangenheit zu setzen besitzt im Unterschied zumVergleich „deutscher Diktaturen“ ungeahntes Lern-Potenzial. Diesen Erkenntnisgewinn errungen zu haben, wäre ein wesentlicher und nachhaltiger Ertrag historisch-analytisch sowie historisch-kritischer komparativer Bildungsarbeit.
Literatur
Broszat, Martin: Der Staat Hitlers, 14. Aufl., München 1995.
Faulenbach, Bernd: Die „doppelte Vergangenheitsbewältigung“. Nationalsozialismus und Stalinismus als Herausforderungen zeithistorischer Forschung und politischer Kultur, in: Danyel, Jürgen (Hg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 2004.
Habermas, Jürgen: Die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte der beiden Diktaturen in Deutschland für den Bestand der Demokratie in Deutschland und Europa, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. 9, Frankfurt a.M. 1995, S. 689.
Knigge, Volkhard: Zur Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 25-26, Bonn 2010.
Knoch, Habbo: Wege in die Gegenwart, unveröffentl. Manuskript, Celle 2009.
Rudnick, Carola S.: Doppelte Vergangenheitsbewältigung, in: Fischer, Torben/Lorenz Matthias N. (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland, Bielefeld 2007, S. 275.
Rudnick, Carola S.: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011.
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- 9 Nov 2011 - 16:06