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Diktaturvergleiche in der Praxis. Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Martina Weyrauch ist Leiterin der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung.
Von Martina Weyrauch

Bevor man feststellen kann, ob die Vergleiche sinnvoll oder problematisch sind, empfiehlt sich ein Blick in die gängige Praxis. Hier lautet ja oft die Frage: „Darf man den Stalinismus und den Nationalsozialismus vergleichen?“ Diese Frage ist beantwortet, denn ob sinnvoll für die politisch historische Erkenntnis oder nicht: Man tut es. Wäre dies nicht an dem, gäbe es nicht den Historikerstreit von 1986, die erneuten Debatten darum, angestoßen durch den Abgeordneten des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern Matthias Brodkorb, die gnadenlosen und hochemotional geführten Debatten um die Gedenkstätten mit doppelter Diktaturgeschichte und die Faulenbachsche Formel.

Diese Formel des antitotalitären Konsenses, die Bernd Faulenbach am Ende der neunziger Jahre formuliert hat, definiert die radikale Distanzierung von den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts als eine gleichsam „vorpolitische Gemeinsamkeit öffentlichen Denken und Handelns, die keinem Parteienstreit zugänglich ist und deren Infragestellung die Grenzen des in unserer Werteordnung legitimerweise Sagbaren überschreitet.“ (Sabrow 2007) Über das gedenkpolitische und wissenschaftliche Verhältnis der beiden Diktaturen ist viel gestritten, aber in dieser sogenannten Faulenbachschen Formel doch ein mittlerweile allseits akzeptierter Kompromiss gefunden worden, demzufolge die NS-Verbrechen durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus nicht relativiert und die stalinistischen Verbrechen durch den Hinweis auf die NS-Verbrechen nicht bagatellisiert werden dürfen. Soweit so gut. Aber wie sieht die Realität aus?

Man postuliert einen Status quo, beschwört dessen Geltung, aber in einer freien Gesellschaft unter der dünnen Decke der Political Correctness wird dieser immer wieder in Frage gestellt. Beim Vergleich beider Diktaturen geht es meist um Deutungshoheit und ideologische Grabenkämpfe, um Aufrechnung von Unrecht und den Wunsch der Relativierung des eigenen Scheiterns oder der Verteidigung des eigenen Gesellschaftsentwurfs.

In den Debatten der ehemals Verfolgten geht es immer wieder und wieder um die empathische Anerkennung ihrer Leidenserfahrung. Bleibt diese aus oder ist aus ihrer Sicht zu zurückhaltend, gehen die Protagonisten auf die Barrikaden der Geschichtspolitik.

Durch das gerade erschienene Buch von Timothy Snyder: „Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin“, wird die Debatte wieder neue Impulse erhalten. Erkenntnistheoretisch ist es oft viel sinnvoller, geschichtliche Ereignisse, geschichtliche Epochen in ihrem internationalen Kontext zu beleuchten und ihrer nationalen Genese. Wer hatte welche Interessen, welche Kräfte wollten wie, was und warum?

Manchmal hilft eine Sicht von außen. Kürzlich besuchte ich das Baltikum. Im Okkupationsmuseum in Riga werden 50 Jahre Okkupation von 1939 – 1989 beschrieben. Von den ca. 180 Tafeln der Ausstellung werden ca. 10 Tafeln der Okkupation durch die Nazis und dem Mord an den lettischen Juden gewidmet. 170 Tafeln beschreiben die Okkupation durch die Sowjetunion, das System der Gulags, und die Widerstands- und Leidensgeschichte der Letten. Im Unterschied zu der Okkupation durch die Sowjets wird betont, dass die Nationalsozialisten den Letten die Ausübung ihrer eigenen Sprache und Kultur zubilligten. Die Kollaboration der Letten mit den Nazis wird nur bei den Zusatzinformationen des Audioguides erwähnt. Das Rigaer Okkupationsmuseum offenbart ein offizielles lettisches Geschichtsbild, was erst einmal zu respektieren ist, auch wenn wir es nicht teilen würden. Es verdeutlicht, wie überaus kompliziert die Geschichte dieser beiden Diktaturen ist, wenn man mal den deutschen Blick beiseite lässt.

Mich ließ das geschichtliche Selbstverständnis der Letten nicht los. Während des Besuches des Lettischen Nationalen Kunstmuseums stieß ich auf das Leben und Werk des lettischen Künstlers Gustavs Klucis. Er war Fotograf und bedeutendes Mitglied der konstruktivistischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert, bekannt für seine sowjetische Revolutions- und spätere stalinistische Propaganda. Bevor auch er als glühender Genosse Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde, schuf Klucis unter anderem auch Filme, die in Riga einsehbar sind. Sie zeigen jubelnde Menschen, die dem großen Führer Stalin huldigen, zeigen gigantische Industriebauten, die den Fortschritt des Stalinismus dokumentieren sollten. Mir waren diese Bilder in Ihrer Intensität neu und sie erinnerten mich an analoge Filme der Wochenschau, die Adolf Hitler priesen. Wie sich die Bilder gleichen!

Noch in Riga, während meines Nachdenkens über die mir oben gestellte Frage und die Verarbeitung meiner Eindrücke, erreichte mich die Nachricht vom Massaker in Norwegen. Getrieben vom Hass gegen den Islam, gegen Linke und gegen alles Fremde, hatte ein Rechtsradikaler mindestens 93 Menschen umgebracht. Immer wieder wurde die Frage gestellt, was den Täter trieb. Neun Jahre lang soll er die Taten geplant haben. Im Internet stieß man auf eine 1.500 Seiten lange Hassschrift des Mannes. 

Was läuft bei unseren geschichtspolitischen Debatten eigentlich falsch? Ist es richtig, die Diktaturen immer vom Ende her zu debattieren oder sollten wir angesichts extremistischer Gewalt der Gegenwart die Anfänge dieser Diktaturen bzw. ihren Verlauf und ihre Radikalisierung beleuchten?

Was fasziniert an fundamentalen und totalitären Gesellschaftsmodellen, an den vermeintlich einfachen, visionären Entwürfen? Was lässt Menschen angesichts des Leidens anderer wegschauen? Welche Wahrheiten werden mit welchem persönlichen Gewinn ignoriert?

Demokratie als konsequenter Gegenentwurf zur Diktatur ist mühsam, sie verlangt dicke Bretter zu bohren. Um Mehrheiten muss immer wieder geworben werden. Die offene, freiheitliche Gesellschaft muss ertragen, dass ihre Ideen und Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher Probleme immer wieder in Frage gestellt werden. Sie hat nicht DIE imaginäre Idee zur Lösung aller Probleme. Ihr offenes, pluralistisches Wesen garantiert bisher, dass sie sich immer wieder neu erfindet und ihre Gesetze verpflichten alle Mitglieder dieser Gesellschaft zur Achtung der Bürger- und Menschenrechte. Sie ist immer wieder ein Wagnis…

Literaturverweise

Matthias Brodkorb (Hrsg.), Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre „Historikerstreit“, ENDSTATION RECHTS.3 Adebor Verlag, Banzkow 2011.

Petra Haustein, „Geschichte im Dissens: Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR“, Leipziger Universitätsverlag 2006.

Martin Sabrow „Potsdam als Erinnerungsort“ Vortrag 29.11.2007 Potsdam, S.12. http://www.zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/Documents/Sabrow/Potsdam_als_Erinnerungsort.pdf (geprüft am 03.09.2011)

Timothy Snyder (Autor), Martin Richter (Übersetzer) „Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin“ H.C. Beck 2011.

 

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