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Longue durée - Wahrnehmungen von Muslimen in gegenwärtigen Schulbüchern

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Die niederländische Religionshistorikerin Dr. Gerdien Jonker leitete von 2005 bis 2011 das Projekt 1001-idee.eu am Georg Eckert Institut in Braunschweig. Gegenwärtig ist sie an der Universität Erlangen-Nürnberg beschäftigt.
Von Gerdien Jonker

Für die gegenwärtigen Schulbucherzählungen über die Muslime und den Islam sind zwei Elementen ausschlaggebend gewesen: die Ablagerungen kollektiver europäischer Erinnerungen und die Erfahrungen der Gegenwart:

(1) Tausend Jahre Umgang mit Europas Nachbarn haben unterschiedliche Spuren in den Schulbüchern hinterlassen. Zunächst hatte die Westkirche die Muslime als Ungläubige wahrgenommen, die Irrlehren nachliefen. Nach dem Fall von Konstantinopel entdeckte der Westen den Islam als eine eigene, nicht-christliche Religion, die wegen den bewaffneten Auseinandersetzungen auf dem Balkan als bedrohlich eingestuft wurde. Als im 17. Jahrhundert zum ersten Mal mit Geschichtsbüchern experimentiert wurde, rückten protestantische wie katholische Autoren die muslimischen Türken in die Nähe der jeweils anderen Konfession. Für die Katholiken hatten die Lutheraner den Osmanen Tür und Tor geöffnet und sie schlossen daraus auf eine religiöse Nähe zwischen den beiden. Für die protestantischen Autoren entstammten Muslime und Katholiken demselben teuflischen, gottfernen Zweig. In den verschiedenen Zuschreibungen mischten sich militärische Bedrohung, Bruderverrat und religiöse Abweichung, wobei die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verschwammen. In der konfessionellen Polemik und gegenseitigen Bekämpfung bildete sich so die christliche Identität als Gegenpol des Islams heraus. Diese wurde als Merkmal europäischer Identität verortet, jene als nicht-europäisch, nicht zu uns gehörig, ausgeschlossen.

(2) Die gewaltigen demographischen Verschiebungen, die sich im Augenblick weltweit vollziehen, sorgten für eine Aktualisierung der überlieferten Bilder. In Westeuropa lösten sie zahllose Versuche aus, die Grenze zwischen Wir und Nicht-Wir neu auszutarieren, also durch die Definition des Fremden die eigene Identität neu abzustecken. Der Grund für den aktuellen Versuch, das Europäische der europäischen Identität neu zu bestimmen, liegt wohl auch in der Tatsache, dass sich unter den neuen Bevölkerungen Westeuropas auch sechzehn Millionen Muslime befinden. Ihre Präsenz hat die religiöse Landkarte Europas verändert. Viel mehr als die Einwanderer vor fünfzig Jahren, beharren die heutigen muslimischen Bevölkerungen Europas auf der Anerkennung ihrer kulturellen und religiösen Identität. Forderungen einzelner religiöser Gemeinden, durch Kleiderordnung und Moscheen öffentlich sichtbar zu werden und somit das europäische Stadt- und Dorfbild mitzuprägen, sorgen entscheidend dafür, dass Muslime vielerorts zum Gegenstand von Klassifikationskämpfen von unten wurden. In der Verfestigung oder Verflüssigung der Bilder, die in diesen Auseinandersetzungen produziert wurden, kommt den Schulbüchern eine eminente Schlüsselrolle zu.

Seit es Geschichtsbücher gibt, werden darin auch Völker, Gruppen und Gemeinschaften behandelt, die als anders im Sinne von ‚nicht zu uns gehörig’ beschrieben werden. Dabei geht es oftmals weniger um die Vermittlung von empirischen Kenntnissen über unbekannte Menschen, denn vielmehr um ihre richtige Einstufung und Beurteilung. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Andersheit der Anderen nicht weitläufig ausgebreitet, sondern - ganz im Gegenteil - in einprägsame Bildern gefasst werden. Ein gutes Bild bleibt im Gedächtnis, wenn es an bereits bekannte Vorstellungen anknüpft und von diesen nur die Zuspitzungen wiedergibt. Die Herstellung gelingt keineswegs zugleich bei allen Völkern, Gruppen und Gemeinschaften auf dieser Erde, sondern nur bei solchen, mit denen der Beobachter in einer Beziehung steht. Diese sind also in der Regel die Nachbarländer, aber auch ethnische Gruppen und religiöse Gemeinschaften im eigenen Land, die als anders wahrgenommen werden als die Mehrheit. Was den Beschriebenen zu einem Anderen macht, sind die Perspektive des Beobachters und die Sprache, die er für diese findet. In den deutschen Geschichtsbüchern wurden auf diese Weise auch Muslime anschaulich vereinheitlicht.

In dem gegenwärtigen Ringen um Integration fällt Schulbuchautor/innen eine wichtige Rolle zu. Das Schulbuchgedächtnis spielt eine ganz eigene Rolle bei der Bildung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Geschichtsschulbücher enthalten Vorstellungen darüber, woher wir kommen und wohin wir gehen, wer wir sind und wie wir uns von anderen unterscheiden. Sie repräsentieren das, was gesellschaftlich an die nächste Generation weitergegeben wird und vermitteln somit einen Kernbestand von Wissen, Weltbildern und Regeln. Historisch gesehen wurden Europas Bewohner erst durch den nationalen Geschichtsunterricht zu Bürgern (citizens), die eine gemeinsame Sprache sprechen, dasselbe Territorium bewohnen und eine Geschichte teilen. Auch heute noch konstituiert sich das Bürgersein im Medium der Geschichtsschulbücher, in denen nationale Narrative verdichtet und vermittelt werden. Schulbuchautor/innen tragen somit zu der Definition, wer wir sind, entschieden bei. Sie beeinflussen damit den sozialen Frieden innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers.

Einen Weg aus der Sackgasse, in die jede Produktion einprägsamer Selbst- und Fremdbilder unvermeidlich führt, wäre der Zugriff auf die historischen Schulbuchquellen. Das Studium der Quellen der eigenen Wahrnehmung hilft, um Bilder, die bislang als selbstverständlich hingenommen wurden, auf den Prüfstand zu stellen. Wenn wir wissen, warum wir wahrnehmen was wir wahrnehmen, was dieses Wissen beeinflusste, und was dabei ausgeblendet worden ist, wird es wieder möglich, neue Fragen zu stellen.

 

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