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Von Christian Heuer
Die Stadt wurde bereits früh vom Geschichtsunterricht und der Geschichtsdidaktik als Ort historischen Lernens in Anspruch genommen. Für viele gilt sie als historischer Lernort par excellence, für andere wird sie zum Buch, in dem Schülerinnen und Schüler lesen lernen sollen und für andere wird sie sogar zum „Schlüssel zur Geschichte“ (Kuchler 2010, 206). Betrachtet man die bisherigen Ausführungen mit einer kulturtheoretischen Brille dann kommt man jedoch zu einer paradoxen Feststellung: Beides stimmt und beides stimmt nicht.
Erstens: die Stadt ist kein Lernort im eigentlichen Sinne. Sie ist als nur schwer abzugrenzender Raum – wo beginnt eigentlich eine Stadt angesichts verstädterter Landschaften und verlandschafteter Städte? – ein Palimpsest aus einer Vielzahl zeitdifferenter historischer Orte. Sie ist mit den Worten Michel de Certeaus gesprochen „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ (Certeau 1988, 218). Ein Geflecht, in dem die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dominiert und zwar nicht hintereinander, sondern über- und nebeneinander. Die Hauptvokabel der Stadt ist „nicht jenes 'dann', das die Erzählung, die Geschichte, in Gang hält, sondern das Hier und Dort, das alles nebeneinander bestehen lässt“ (Schlögel 2007, 46). Der Stadtraum ist somit ein Geflecht von nicht aufeinander verweisenden Zeichen, das geordnet werden muss, will man Stadt als kohärenten Text, als Geschichte, erzählen. Der Versuch, die Stadt mit ihrem historischen Reservoir lernend zu erschließen, gleicht dann dem Programm des New Historicism, nach dem der ungeordnete prä-narrative Raum der Stadt durch sinnstiftende Linien – den Certeauschen „Durchquerungen des Raumes“ - erzählbar gemacht, das heißt narrativ erschlossen wird. Dem Modus des Erzählens kommt in diesem Zusammenhang somit die zentrale Bedeutung zu. Denn Geschichten sind es, die die verschiedenen historischen Orte des ungeordneten Stadtraumes organisieren. „Sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken.“ (Certeau 1988, 215). Die Geschichte der Stadt ist die Geschichte ihrer Erzählungen.
Beispiele für diese im besten Sinne des Wortes eklektischen Stadterzählungen als Vergegenwärtigungen vergangener Stadttexte sind die Arbeiten der literarischen Flaneure des 20. Jahrhunderts. Franz Hessels Stadtspaziergänge, Walter Benjamins unvollendetes Passagenwerk oder Rolf Dieter Brinkmanns römische Blicke. In diesen Werken wird nicht nur physisch durch den Stadtraum flaniert, sondern hier wird gerade ein flanierendes Denken praktiziert, wie es nach Jean-Francois Lyotard gerade kennzeichnend für die Stadt ist.
Zweitens: die Stadt selbst ist kein Buch, das vorne beginnt und hinten endet. Die Stadt ist als Raum ungleichzeitiger Orte nicht linear strukturiert, weder zeitlich noch räumlich. Die Stadt ist beides zugleich: zum Einen ein Ort der Koexistenz von Zeitschichten und steingewordener Vergangenheiten und zum Anderen aber auch ein Modus, den Raum überhaupt zu organisieren. Die Stadt ist also nicht der „Schlüssel zur Geschichte“ sondern liefert lediglich Spuren vergangener Stadttexte. Um zur Geschichte zu werden, muss die Stadt erst durch das Erzählen erschlossen werden. Gerade deswegen erhält die narrative Kompetenz, also die Fähigkeit, Geschichte(n) verstehen und erzählen zu können, eine so große Bedeutung für ein zeitgenössisches historisches Lernen in der Stadt. Ziel historischer Lernprozesse muss es demnach sein, nicht die Stadt zu lesen, sondern die Schülerinnen und Schüler herauszufordern, die Stadt zu erzählen. Erst dadurch wird die Stadt zum lesbaren Raum, zum Stadttext. Die Stadt erkunden, meint dann immer schon beides: Entdecken und Erzählen.
„Landschaften“, so schreibt der Historiker Karl Schlögel, „sind keine Texte, sowenig wie Städte. Texte kann man lesen, in Städte muss man hineingehen. Man muss sich umsehen.“ (Schlögel 2007, 22). Die Möglichkeit, die Stadt zu erzählen ist an dieses Hineingehen in die Stadt gebunden: „[…] wir sprechen unsere Stadt, die Stadt in der wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen“ (Barthes 1988, 202). Die Stadt als Erfahrungsraum erschließt sich den Schülerinnen und Schülern als Flaneuren des Urbanen somit erst dann, wenn sie der einzelnen Zeitschichten gewahr werden. Das historische Lernen in der Stadt ist ein Lernen der Bewegung: „learning by going“ (Kurt Messmer). Erst im städtischen Flanieren kann man dieser Koexistenz der Zeitschichten gewahr werden und kann die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart von den Lernenden selbst hergestellt werden.
Die Lernenden werden so zu Flaneuren des städtischen Raumes und begeben sich während sie die Stadt zu Fuß durchwandern auf die Suche nach neuen Fragmenten, Anstößen und Wirklichkeiten, die sich verknüpfen lassen. Ordnende Linien können dabei anthropologische und symbolische Schlüsselthemen sein: Wohnen, Sexualität, Migration, Krankheit und Gesundheit, Krieg und Frieden etc. So können am Ende des Lernprozesses „alternative Stadtführungen“ aus unterschiedlichen Wegen und „Biographien von Orten“ (Stefano Boeri) entstehen, die den Stadtraum thematisch und perspektivisch anders erzählen, ohne dass der Erzähler hinter einer scheinbar objektiven weil kanonisierten Geschichte der Stadt verschwindet.
Dabei bedienen sich die Lernenden unterschiedlicher Erkenntnismethoden: Fotografie, Film, Kartierung, Interviews und Skizzen. Versteht man historische Bildung als nicht-herstellbare narrative und selbstreflexive Verortung in Zeit und Raum, dann hat solch ein historisches Lernen im Stadtraum enge Bezüge zur ethnographischen und künstlerischen Praxis und ist einer bislang noch unterbelichteten historisch-kulturellen Bildung verpflichtet. Kultur ist eben nichts Objektives, sondern ist andauerndes Geschehen, das sich durch Offenheit, Pluralität und Diskursivität auszeichnet. Insbesondere die Arbeiten der sogenannten Street Artists zeugen von der Konstruktivität und der narrativen Verfasstheit des Stadtraumes. In ihnen wird die Stadt zum symbolischen Stoff und zum konkreten Material. Somit geht es beim historischen Lernen im Stadtraum ähnlich wie in der Ethnographie und Kunst nicht zuletzt um das „Ausloten von Möglichkeitsräumen“ (vgl. Binder 2008, 11). Diese „Möglichkeitsräume“ sind Räume, die jenseits der kanonisierten Stadtgeschichten mit ihrer inhärenten Orientierungsfunktionen liegen. Es sind nicht zuletzt Räume, die es zu entdecken und damit Stadtgeschichten, die es anders zu erzählen gilt.
Literatur
Barthes, Roland: Semiologie und Stadtplanung. In: ders. : Das semiologische Abenteuer. Frankfurt 1988, S. 199-209.
Binder, Beate: Arbeiten (an) der Imagination. Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Ethnographie. In: Dies./Neuland-Kitzerow, Dagmar/Noack, Karoline (Hrsg.): Kunst und Ethnographie. Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten. Berliner Blätter (2008) 46, S. 10-18.
Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin 1988.
Heuer, Christian: Historisches Lernen vor Ort – Skizze für ein zeitgenössisches Bild vom außerschulischen historischen Lernen. In: Messmer, Kurt u.a. (Hrsg.): Außerschulisches Lernen - Positionen aus Geographie, Geschichte und Naturwissenschaften. Münster/Wien/Zürich 2011(im Druck).
Kuchler, Christian: Die Stadt als Schlüssel zur Geschichte. Münchner Schüler auf Spurensuche im urbanen Raum. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 206-214.
Schlögel, Karl: Räume und Geschichte. In: Günzel, Stephan (Hrsg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, S. 33-51.
Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2007.
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- 19 Sep 2011 - 13:49