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Kriegskinder – von Geschichte zu Geschichten

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Prof. Dr. Saskia Handro hat seit 2006 den Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der historischen Lehr- und Lernforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster inne.
Von Saskia Handro

Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg, verbergen sich hinter dem Begriff der Kriegskinder viele Geschichten. Es ist das Leid der zahllosen jüdischen Kinder, die Ausgrenzung, Verfolgung, Deportation und Vernichtung erfahren haben. Es sind die Schicksale polnischer und russischer Kinder, die der nationalsozialistischen Rassenpolitik zum Opfer fielen. Ebenso drängen in den letzten Jahren die Erinnerungen deutscher, nicht rassisch verfolgter Kinder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, die nicht nur als Kindersoldaten zum letzten Aufgebot des Dritten Reiches gehörten, sondern die Schrecken des Bombenkrieges durchlebten oder als heimatlose Flüchtlingskinder in endlosen Trecks einer ungewissen Zukunft entgegensahen. Weniger präsent sind die Geschichten der Opfer nationalsozialistischer Euthanasiepolitik oder die lange tabuisierten Schicksale von Lebensbornkindern, Zwangsgermanisierten aber auch der Kinder vergewaltigter Mütter oder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen. Vergegenwärtigt man sich die hier nur angedeutete Vielfalt kindlicher Leiden und Erfahrungen, dann erscheint es bereits höchst problematisch, von der „Kriegskindheit“ zu reden. Zum einen verschwinden individuelle Erfahrungen und damit auch Lebensgeschichten hinter typologischen Zugriffen. Zum anderen können die Geschichten jüdischer Kinder kaum mit den Erfahrungen deutscher Kriegskinder gemeinsam erzählt werden, ohne die Wiederkehr eines deutschen Opfermythos heraufzubeschwören. Noch schwieriger wird es, die Kriegskindergeneration als Erfahrungsgemeinschaft zu imaginieren, wenn man an Geschichten einer weitgehend von Kriegserfahrungen verschonten Kindheit denkt oder gar – wie Malte Ludin in seiner Dokumentation „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ – die Perspektive der Täterkinder einnimmt.

Dennoch sind all diese Geschichten in der Gegenwart präsent – in den Erinnerungen ehemaliger Kriegskinder, denen das mentale Gepäck ihrer Erfahrungen häufig erst in der Rückschau bewusst wird, aber auch in Spielfilmen wie dem „Untergang“, in der perspektivreich erzählenden MDR-Dokumentation „Kriegskinder“ oder – fokussiert auf die Odyssee elternloser ostpreußischer Flüchtlinge – in der ZDF-Produktion „Wolfskinder“ und nicht zuletzt in vielfältigen literarischen und autobiografischen Zeugnissen.

Vergegenwärtigt man sich die Vielschichtigkeit und Problematik, aber auch die seit 2005 wachsende erinnerungskulturelle Bedeutung des Themas, dann stellt sich die Frage, welche Geschichte der Kriegskinder an die nachwachsende Generation weitervermittelt werden soll.

Ein Blick in deutsche Schulgeschichtsbücher bietet erste Antworten. Abbildungen von Kriegskindern finden sich hier bereits seit den späten 50er Jahren. Wenngleich mit zeitlich unterschiedlichen Gewichtungen lassen sich bis heute drei Darstellungsmuster unterscheiden. In einem ersten kommt Kriegskindern in Schulbuchdarstellungen eine symbolische Bedeutung zu. Wehrlosigkeit, Unschuld, Ohnmacht – diese emotionalen Botschaften sind in Bildern von Flüchtlingskindern, Kindergräber aber vor allem in Bildikonen wie der des „Jungen aus dem Warschauer Ghetto“ oder der „Überlebenden des Mannheimer Bombenangriffs“ visuell verdichtet. In diesem symbolischen Zugriff stehen gerade in Schulbüchern der 50er und 60er Jahre jüdische und deutsche Opfergeschichten unvermittelt nebeneinander. Ein zweites Darstellungsmuster zeigt das Kind als Objekt nationalsozialistischer Vernichtung, aber auch nationalsozialistischer Sozialisation. Der frühe symbolisch-affektive Zugriff, der eine Konstruktion deutscher Opfermythen stützen konnte, wich seit den 70er Jahren dem eher nüchtern-analytischem Blick. Mechanismen der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung jüdischer Kinder werden hier ebenso thematisiert wie Muster nationalsozialistischer Sozialisation. Die Historisierung der Täter- und Opferperspektiven am Beispiel deutscher und jüdischer Kindheit bietet sich für eine schülerorientierte Vermittlung der Strukturen nationalsozialistischer Herrschafts- und Vernichtungspolitik durchaus an. Jedoch sind strukturgeschichtlichen Zugängen dieser Art auch Grenzen gesetzt. Sie erschweren Empathie und historisches Verstehen. Hinter typologischen Zugriffen verschwinden nicht nur die Menschen als Handelnde und Leidende der Vergangenheit, sondern mit ihnen auch die Vielfalt historischer Erfahrungen.

Seit den späten 80er Jahren entdecken Schulgeschichtsbücher daher zunehmend das Kind als Subjekt historischer Erfahrung. In diesem dritten Darstellungsmuster werden Kriegskinder zu Subjekten mit einer Identität und vor allem einer individuellen Lebensgeschichte, die sich über Selbstzeugnisse der Betroffenen rekonstruieren lässt – über Briefe, Tagebuchauszüge, private Fotografien. Dieser individualisierende Zugriff bricht vertraute Täter-/Opferdichotomien auf und sensibilisiert für die Vielschichtigkeit des Phänomens Kriegskindheit. Seltener wird die nationale Binnenperspektive verlassen und Kriegskindheit auch als europäisches Phänomen sichtbar.

Die kursorische Bestandsaufnahme sensibilisiert für weiterführende Perspektiven. Unstrittig bieten gerade die Geschichten der Kriegskinder zahlreiche didaktische Potentiale. Biografische Fallbeispiele bieten schülerorientierte Zugänge, Strukturen von Verfolgung und Vernichtung zu erschließen und die prägende Kraft von Feindbildern, Vorurteilen zu diskutieren. Andererseits birgt der biografisch-emphatische Zugriff auch die Gefahr, dass struktur-, politik- und ereignisgeschichtliche Rahmungen verblassen.

Die Geschichten der Kriegskinder, d.h. gerade die Vielschichtigkeit kindlicher Erfahrungsräume, bieten die Chance, die Perspektivität historischer Erfahrung an Kontur gewinnen zu lassen. Gerade ein Ausblenden der Erfahrungen deutscher Kriegskinder würde einer erneuten Konstruktion deutscher Opfermythen Vorschub leisten. Zudem stünden familiäre Erzählungen und schulische Vermittlung unvermittelt nebeneinander.

Nicht zuletzt eröffnet die mediale und öffentliche Präsenz des Themas neue Zugänge für die Vermittlung. Filmische Inszenierungen von Kriegskindheit, öffentliche Diskurse um deutsche Bombenopfer, Flüchtlingskinder können so zum Ausgangspunkt historischen Fragens werden und eignen sich für eine kritische Reflexion des öffentlichen Umgangs mit dem Thema.

 

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