Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral
Annemarie Hühne
Mit dem Buch „Anständig geblieben“ von Raphael Gross liegt eine Sammlung von Aufsätzen zur Moralgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur und ein neuer Forschungsansatz zur Beleuchtung des Dritten Reiches vor. Herrschafts- und Organisationstrukturen werden zwar nicht ausgeblendet, aber im Mittelpunkt stehen Werte, Normen und Gefühle. Die Vergangenheit wird von „innen“, mit dem Blick auf die zeitgenössischen moralischen Vorstellungen untersucht.
Der Autor Raphael Gross ist Leiter des Leo Baeck Instituts in London, des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main. Den vorliegenden Band zur nationalsozialistischen Moral beschreibt er als „Resultat von immer neuen Anläufen, die Funktion dieser NS-Moral und ihr Fortwirken in der deutschen Nachkriegsgesellschaft bis in die Gegenwart hinein zu erforschen.“ (S. 20f.) Die einzelnen Kapitel sind eng aufeinander abgestimmt, können aber durch ihre essayistische Form auch unabhängig voneinander gelesen werden. Sie untersuchen die verschiedenen Aspekte und Begriffe der NS-Moral, wie Schande, Treue und Ehre. Hierbei wird ersichtlich, dass die moralischen Begriffe eng mit den von der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ eingeforderten Gefühlen und Haltungen verbunden sind.
Im ersten Kapitel erörtert der Autor den Begriff der „Rassenschande“ anhand einer Analyse von Veit Harlans NS-Propagandafilm „Jud Süß“. Besonderes Augenmerk wird auf die Thematisierung einer Moral des Protagonisten in einzelnen Szenen und Handlungen gelegt. Im gesamten Film findet sich eine Gegenüberstellung von Treue und Ehre zu dem moralischen Kontext der Schande. Schande ist hier als Gegenbegriff zu Ehre zu verstehen: hält man sich an moralische Normen, dann erlangt man Ehre. Wer sich nicht daran hält, begeht eine Schande. In der nationalsozialistischen Semantik bezieht sich der Begriff der Schande aber viel mehr auf den gesellschaftlichen oder familiären Kontext von „jemandem Schande machen“. Im Film wird dies durch die Vergewaltigung der Dorothea durch den Protagonisten Joseph Süß Oppenheimer verdeutlicht. Die Schande wird Dorothea zugeschrieben, denn nur eine Person, die der Gemeinschaft angehört kann „Schande machen“. Oppenheimer als Jude ist davon ausgenommen, aber der „Jud Süß“ wird für Dorotheas Selbstmord verantwortlich gemacht und damit erhält seine Hinrichtung ihre Rechtmäßigkeit. Der Begriff der „Rassenschande“ hat durch das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935 einen rechtspolitischen Hintergrund. Das Medium Film vermittelt moralische Gefühle für eine große Masse der Bevölkerung und diente damit gezielt der nationalsozialistischen Propaganda.
Ebenso rückt der Begriff „Treue“ im vierten Kapitel in den Fokus. Neben einer definitorischen Abhandlung bezieht sich auch hier der Autor auf das Medium Film. Er analysiert zwei Filme: „Hotel Sacher“ (1939) und „Der Untergang“ (2004). Die Treue bezieht sich immer auf ein Verhältnis zu Personen und Gegenständen. Zudem ist die Treue im nationalsozialistischen Kontext eng mit dem deutschen Nationalgefühl verbunden. Im Text wird vor allem der Wahlspruch der SS „Meine Ehre heißt Treue“ untersucht. Des Weiteren ist die Begrifflichkeit zur Treue auch in der Alltagswelt verankert gewesen, zum Beispiel in Liedern und Gesetzestexten. Der Film „Hotel Sacher“ wird oftmals als harmlos und unpolitisch eingestuft und zeigt scheinbar eine Dokumentation der moralischen Welt des Nationalsozialismus. Doch Raphael Gross interpretiert den Film im historischen Kontext des Jahres 1939 und des Hitler-Stalin-Paktes. Der Film überträgt den Loyalitätskonflikt der „Treue zum eigenen Blut“ (S. 85) auf die Liebesgeschichte eines österreichischen Beamten russischer Abstammung und seiner russischen Geliebten, einer Agentin durch die er unter Spionageverdacht geraten ist. Die Tragödie endet im Sinne der Ideologie, indem der Protagonist dem Gesetz und nicht der Liebe folgt.
Darauffolgend wird „Der Untergang“ vorgestellt. In diesem Film wird dauerhaft „explizit oder implizit – moralisch geurteilt, was auch die Zuschauer zu solchen Urteilen nötigt.“ (S. 87) Die Hauptfiguren, die Nationalsozialisten werden in zwei Gruppen eingeteilt. Zum einen die Gruppe um den Architekten Albert Speer und den Arzt Ernst Günther Schenck, welche der deutschen Volksgemeinschaft treu bleiben. Zum anderen Adolf Hitler und Joseph Goebbels, die durch Selbstmord das Land „im Stich“ lassen. Das Fazit von Raphael Gross lautet dazu: „Die Treue gegenüber dem deutschen Volk oder der Verrat an ihm bildet im Film die moralische Grenze zwischen Gut und Böse.“ (S. 88) Die Ideologie dieser Botschaft bleibt dem Zuschauer aber verborgen. Der Treuebegriff ist hier ein nationalsozialistischer und verweist auf keine historische Kontinuität. Der Begriff der Treue zielt auf die Form der Beteiligung an den Verbrechen. Diese konnten gemeinschaftlich, selten mit Rechtfertigungen begangen werden. Damit wird eine bestimmte nationalsozialistische Moral ausgebildet, die auch noch bis in die Nachkriegszeit besteht. Es geht Gross nicht darum, wann der Moralbegriff im Zusammenhang mit dem NS zuerst auftauchte, sondern um die Frage der gesellschaftlichen Moral, also inwiefern diese nach dem Holocaust noch gültig ist. Raphael Gross stellt in diesem Zusammenhang vor allem die „Treue zur eigenen Nation“ (S. 92) heraus. Eine Thematisierung und Problematisierung der Kontinuität der NS-Moral fehlt an dieser Stelle.
Im letzten Kapitel gibt der Autor einen Ausblick auf seine eigenen Arbeiten und auf die Forschungen von anderen Historikern, aber auch von Sozialpsychologen. Des Weiteren beschreibt er thematische Ansätze und einzelne Bücher zum Thema der Moral im Nationalsozialismus. Das vorliegende Buch ist eine erste Zusammenstellung zu diesem Thema, welches auch einen Ausblick auf zukünftige Forschungen wagt. Da die Essays unterschiedliche Aspekte aufgreifen, wird zum einen eine hohe Vielfalt erreicht, zum anderen aber auch keine zusammenfassende Übersicht gegeben. Die anderen Kapitel greifen zum Beispiel die Themen: Religion und Moral; Adolf Eichmann und die Moralität des Bösen und Martin Walser und das Fortwirken der NS-Moral, auf. Die Erforschung der nationalsozialistischen Moral steht erst an ihrem Anfang und sollte in den nächsten Jahren interdisziplinär weitergeführt werden. Besonders die historisch semantischen Untersuchungen benötigen eigene Forschungen und Veröffentlichungen.
Auf unserem Portal finden Sie einen Podcast des Deutschlandradio Kultur über das Buch von Raphael Gross.
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- 13 Apr 2011 - 08:59